Das Ende der Rüstungskontrolle

Frieden, No War
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»Frieden durch Dialog« lautet das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz – sie kommt diesem Motto leider nicht nach.

Anlässlich des morgigen Weltfriedens- und Antikriegstages dokumentieren wir auszugsweise Kapitel 5 des Spiegel-Bestsellers »Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis« von Sevim Dagdelen, außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) im Deutschen Bundestag.

In dem kleinen polnischen Dorf Redzikowo ist am 13. Mai 2016 erster Spatenstich für das »Aegis Ashore Missile Defense System«. Unweit der Stadt Slupsk im Norden des Landes bauen die USA eine Militärbasis zu einem Stützpunkt aus. Er ist Teil einer NATO-Raketenabwehr in Europa. Washington und Brüssel gehen mit dem Militärprojekt in Konfrontation zu Russland. Moskaus Protest wird in den Wind geschlagen, er soll die gute Laune an diesem Tag nicht stören. Robert Work, der stellvertretende Verteidigungsminister der USA, ist aus Washington gekommen, Polens Präsident Andrzej Duda und Verteidigungsminister Antoni Macierewicz sind ebenfalls da. Auf der Basis gibt es Blasmusik, draußen protestieren die Anwohner, die keiner gefragt hat, ob sie zur Zielscheibe gemacht werden wollen. Eine weitere Station der NATO-Raketenabwehr ist tags zuvor bereits im rumänischen Devesulu in Betrieb gegangen. Die Kommandostation für beide Anlagen befindet sich auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Deutschland. Eingebunden in Aegis Ashore sind Radaranlagen in der Türkei und Kriegsschiffe der US-Marine im Mittelmeer.

Die neue NATO-Raketenabwehr ist mit Abschussrampen für SM-3-Raketen ausgestattet. Die »Standard Missiles« sind Boden-Luft-Raketen und sollen gegnerische Kurz- und Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometern ausschalten. Die feindlichen Raketen sollen bereits im Anflug zerstört werden können. US-Regierung und NATO sagen, der Abwehrschild richte sich gegen mögliche Angriffe aus Staaten wie Iran oder Nordkorea, nicht gegen Russland. Außerhalb der USA und der NATO glaubt das kaum einer, in Moskau keiner. Russland rechnet sich aus, dass die hochmodernen Radaranlagen der NATO durch frühzeitiges Aufspüren russischer nuklearer Interkontinentalraketen das strategische nukleare Abschreckungspotenzial des Landes mindern. Eine Unwucht im fein austarierten atomaren Gleichgewicht des Schreckens zum Vorteil der USA.

München, 2007

Unbedingt anmelden!

Schon im Jahr 2007 warnt der russische Präsident Putin, das geplante Abwehrsystem gefährde die strategische Stabilität zwischen NATO und Russland. Für seinen Weckruf an den Westen nutzt er die 43. Münchner Sicherheitskonferenz. Es ist das erste Mal, dass ein russischer Staatschef zum jährlichen Stelldichein von Politik, Militär und Rüstungsindustrie der NATO-Staaten samt ausgewählter Gäste aus dem Rest der Welt anreist. Die Rede von Präsident Putin im noblen Bayerischen Hof an diesem 9. Februar 2007 ruft in der internationalen Öffentlichkeit ein außerordentlich starkes Echo hervor, kritisiert er doch deutlich die vom Westen nach Ende des Kalten Krieges verkündete »unipolare Welt«: »In wie freundlichen Farben auch immer man diese ausmalen mag, am Ende bleibt doch immer, dass der Terminus sich auf eine ganz bestimmte Situation bezieht, nämlich ein einziges Zentrum der Staatsgewalt, ein Machtzentrum, ein Entscheidungszentrum. Das ist eine Welt, in der es einen Herrn gibt, einen Souverän. Im Ergebnis ist das verheerend, nicht nur für alle, die diesem System angehören, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen heraus selbst zerstört.«

Gleich zu Beginn erklärt Wladimir Putin, die Sicherheitskonferenz biete ihm die Gelegenheit, einmal ohne diplomatische Rücksichten zu sagen, was »ich wirklich über internationale Sicherheitsprobleme denke«. Sechs Jahre zuvor, am 25. September 2001, hat der russische Präsident im Deutschen Bundestag gesprochen. Damals betont er, das Herz Russlands sei »für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft« geöffnet«. Und weiter: »Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.« Die Abgeordneten aller Fraktionen reagieren mit stehendem Applaus. Doch die nach der Jahrtausendwende ausgestreckte Hand wird ausgeschlagen, Russland über die Jahre von der NATO vor den Kopf gestoßen.

Jetzt, 2007 in München, kritisiert Putin namentlich die Ost-Erweiterung des Militärpakts und die US-Pläne zur Raketenstationierung unweit der russischen Grenzen. »Wir erleben mehr und mehr Abneigung gegen die Grundprinzipien des Völkerrechts«, konstatiert der russische Staatschef. »Und Rechtsnormen, die unabhängig sein sollten, nähern sich in Wirklichkeit zunehmend dem Rechtssystem eines einzelnen Staates an. Ein Staat – und dabei spreche ich natürlich zunächst und vor allem von den Vereinigten Staaten – hat seine nationalen Grenzen in jeder Hinsicht überschritten. Das zeigen die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und Bildungs-Standards, die sie anderen Nationen aufnötigen. Wem gefällt das? Wer ist glücklich darüber?« Es sei gefährlich, in den internationalen Beziehungen nach Kriterien politischer Zweckmäßigkeit und auf Grundlage des aktuellen politischen Klimas zu agieren. Dies führe dazu, »dass niemand sich sicher fühlt. Ich möchte das betonen: Niemand fühlt sich sicher!« Der Einsatz von Gewalt könne »nur dann legitim sein, wenn die Entscheidung dazu von den Vereinten Nationen getroffen oder bestätigt wird«. Es bestehe »keine Notwendigkeit, die UN durch die NATO oder die EU zu ersetzen«.

Feste Sicherheitsgarantien

Den von den USA geplanten Aufbau eines Raketenabwehrsystems im Osten Europas, der offiziell mit einer Bedrohung durch »Schurkenstaaten« wie dem Iran und Nordkorea begründet wird, kommentiert der russische Präsident Putin damals mit den Worten: »Die Pläne, bestimmte Elemente des Raketenabwehrsystems auf Europa auszuweiten, müssen uns zwangsläufig beunruhigen. Wer braucht einen neuen Schritt in Richtung auf etwas, was in diesem Falle unvermeidlich zu einem Wettrüsten geraten würde? Ich bezweifle zutiefst, dass die Europäer selbst so etwas brauchen.« Putin stellt offen die Rechtfertigung der NATO für die Raketenabwehr infrage: »Raketenwaffen mit einer Reichweite von etwa fünf- bis achttausend Kilometern, die Europa also tatsächlich bedrohen würden, gibt es in keinem der sogenannten Problem-Länder. (…) Und der hypothetische Abschuss beispielsweise einer nordkoreanischen Rakete in Richtung auf amerikanisches Gebiet über Westeuropa hinweg widerspricht offenkundig den Gesetzen der Ballistik.«

Für Russland ist offensichtlich: Die NATO-Raketenabwehr und neue US-Militärbasen in den Staaten Osteuropas sind »vorgeschobene Truppen« der NATO »an unseren Grenzen«. Das richtet sich gegen Russland selbst. »Ich denke, es liegt auf der Hand, dass die Expansion der NATO mit der Modernisierung des Bündnisses selbst oder mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa in keinerlei Zusammenhang steht. Sie stellt im Gegenteil eine ernste Provokation dar, die das Maß des gegenseitigen Vertrauens vermindert.«

Russlands Präsident Putin fragt in München, was aus den einst gegebenen Sicherheitsgarantien geworden sei, die »unsere westlichen Partner« nach der Auflösung des Warschauer Vertrages gegeben hätten. Er erinnert namentlich an die Rede des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel, in der dieser bekräftigt hat: »Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.«

Der Appell des russischen Präsidenten, man müsse »sehr ernst über die »Architektur der globalen Sicherheit nachdenken und nach einer vernünftigen Balance zwischen den Interessen aller Teilnehmer des internationalen Dialogs suchen«, wird in den Wind geschlagen. Washington und die NATO bleiben auf Kurs. Auf dem Lissabon-Gipfel 2010 beschließen die NATO-Verbündeten die Entwicklung einer gemeinsamen Raketenabwehr in Osteuropa – »Aegis Ashore Missile Defense System« nimmt seinen Lauf. Die gemeinsame sicherheitspolitische Architektur, wie sie noch in der 1997 vereinbarten »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation« und dem NATO-Russland-Rat vereinbart worden war, wird damit Geschichte. Bestehende Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen werden gefährdet, neuen Verträgen der Weg versperrt.

New START

Als Ausgangs- und Wendepunkt im Verhältnis zwischen den USA und Russland muss die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages über strategische Raketenabwehrsysteme 2002 gesehen werden. US-Präsident George W. Bush ebnete damit den Weg zur Installierung des Raketenschilds im Osten Europas. Im Februar 2019 kündigten die USA unter dem damaligen Präsidenten Trump den für die europäische Sicherheit wichtigen Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen auf. Der war am 8. Dezember 1987 in Washington vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow unterzeichnet worden. Im November 2020 sagen die USA auch den Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies) ab. Der Vertrag hat NATO-Staaten und ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages auf Gegenseitigkeit beruhende Beobachtungsflüge auf dem gesamten Gebiet vom kanadischen Vancouver bis Wladiwostok im Osten Russlands ermöglicht. Der im Jahr 2010 zwischen Washington und Moskau vereinbarte »New START«-Vertrag über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen wird von den USA im Februar 2021 um fünf Jahre verlängert – aber erst in letzter Minute. In Kraft getreten war das ursprünglich auf zehn Jahre angelegte Abrüstungsabkommen mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden durch US-Außenministerin Hillary Clinton und ihren russischen Amtskollegen Sergei Lawrow, und zwar auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 5. Februar 2011. Mit dem Ukraine-Krieg und den Wirtschaftssanktionen des Westens gibt das russische Außenministerium im August 2022 schließlich bekannt, Kontrollen von Atomwaffenbeständen im Rahmen des Abkommens vorerst auszusetzen, da Russland wegen der Sanktionen gegen seine Flugzeuge keine Inspekteure in die USA fliegen könne. Einseitige US-Inspektionen auf russischem Gebiet aber würden den Amerikanern einen Vorteil verschaffen. Am 21. Februar 2023 schließlich setzt Russlands Präsident Putin die Teilnahme an »New START« aus. Das Verteidigungsministerium in Moskau betont, die USA würden, wie zuvor, weiterhin über Verlegungen von russischen Atomstreitkräften unterrichtet, »um Fehlalarme zu verhindern«.

»Frieden durch Dialog« lautet das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz. Es gilt dort die »Munich Rule«: »Engage and interact with each other: Don’t lecture or ignore one another«, miteinander interagieren und voneinander lernen, auf Augenhöhe. Es ist so arrogant wie fahrlässig angesichts der geopolitischen Zuspitzungen, 2024 Gespräche mit Regierungsvertretern aus Moskau zu verweigern und wie Konferenz-Chef Christoph Heusgen öffentlich zu formulieren, Russland müsse erst wieder in der »Zivilisation« ankommen.

 

Sevim Dagdelen kommt nach Neu-Isenburg. Am 26. September 2024. Melden Sie sich jetzt an!

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4 Kommentare

  1. Guter weil überzeugender Artikel! Heusgen halte ich für einen pathologisch ideologisierten Dummkopf. Historisch richtig ist und bleibt die historische Perspektive des kapitalistischen “creative (self-) destruction” in Bezug auf den Status der USA.

  2. Liebe Frau Politikerin Sevim Dagdelen, ihre Worte in Ehren, aber was können sie als Partei real tatsächlich umsetzen?
    Nichts, weil über ihnen die EU steht und darüber die Alliierten, Punkt.
    Die deutsche Regierung ist so aufgestellt, wie die deutsche Politik das wollte.
    Die deutsche Politik in ihrer sogenannten demokratischen Verfassung, zeigt überdeutlich, das das Haus Deutschland gerade vor ihren Augen zusammenfällt. Lustiger oder besser trauriger Weise, sind alle Parteien daran beteiligt. Genau jede Regierung die man hätte oder hat, hat ihre Schlüsselindustrien dort angesiedelt, wo diese Märkte bedienen können für ihre Anleger, aber das Land wird Kollektiv für etwas in Haftung genommen, die die Mehrheit nicht teilt, aber dafür bezahlt.
    Der Sack ist zu und Deutschland als Land, hat verloren, aber nicht diejenigen die das zu verantworten hatten.
    Und wenn ich über diejenigen die das ermöglicht hatte schreibe, wer soll das genau sein, die USA, GB, F, NL +++?
    Diese diejenigen, sind nicht die Länder, sondern Personen bzw. Vereinigungen oder sonstige konspirative ‘Verschwörungen’.
    Die USA steht vor Wahlen und nicht eine einzige Partei benennt klar und deutlich ihren Bezug zum transatlantischen Flügel, warum?
    Weil der zerrüttete Staat USA vor dem Wiederaufbau steht und auch Deutschland, das sind Standorte die offensichtlich für jeden erkennbar seit zig Jahren bewusst herunter gesetzt wurden.
    Und die liebe politische Klasse hat das alles mitgetragen und genau diese Klasse der ‘demokratischen Republik Deutschlands’ gehören durch das Volk auf dem Prüfstand.

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