Das diktatorische Imperium

Ursula von der Leyen
European Parliament, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Europäische Union vor allem ein Versprechen: Frieden, Wohlstand, Reisefreiheit. Ein kluger Ausgleich der Interessen, ein Binnenmarkt ohne Schlagbäume, eine Gemeinschaft, die ihre Bürger schützt. Heute jedoch tritt die EU immer offener mit dem Anspruch auf, geopolitischer Akteur zu sein – und mehr noch: Weltmacht. Und sie bedient sich bereits der Mittel ihres Vorbilds, der USA: Macht nach außen durch militärische Bedrohung, Macht nach innen durch Kontrolle und Überwachung.

Ausgabe 6 des Print-Magazins GEGENDRUCK von Manova widmet sich dem Thema »Imperium EU?«. Der Einleitungsbeitrag stammt von Peter Orzechowski. Außer Orzechowski haben 16 weitere Autorinnen und Autoren an dem Band mitgewirkt. Alle vereint eine kritische Sicht auf die EU. Für einen ersten Eindruck veröffentlicht Overton die gekürzte Fassung des Einleitungsbeitrags.

Was als technokratisches Integrationsprojekt begann, verschiebt sich zu einem politischen Leviathan. Wer genau hinhört, vernimmt die neue Diktion: »weltpolitikfähig«,»strategische Autonomie«,»Souveränität Europas«.

Diese Vokabeln markieren eine tektonische Verschiebung. Es ist der Wandel von der Verwaltung zur Herrschaft, von der »Friedensmacht« zur Abschreckungsmacht, von der Partnerschaft zur Mission. Über Jahre wurden die Begriffe in Thinktanks und Redaktionen geschliffen, in Ministerien in Strategiepapiere gegossen, in den Hauptstädten ritualisiert. Und nun, im fünften Jahr nach der Pandemie und im vierten Jahr eines Krieges, der das europäische Jahrhundert zu prägen droht, fällt die Rhetorik mit der Realität zusammen: Aufrüstung, Sanktionsregime, Extraterritorialität, digitale Steuerung der Bürger.

Dieser Text zeichnet die Konturen eines Imperiums, das sich – oft unter moralischer Flagge – im Innern verdichtet und nach außen streckt. Er bündelt Befunde aus Politik, Wirtschaft, Militär und Technologie. Er fragt: Was treibt dieses Europa? Wem dient es? Und wohin führt der Weg, wenn Anspruch und Realität so weit auseinanderklaffen, dass nur noch Zwang und Kontrolle die Lücke schließen sollen?

Weltmacht-Fantasien

Gegendruck 6 vs. Imperium EU: Unbedingt lesen!

»Was Europa zur Weltmacht fehlt« – die Titelzeile eines führenden außenpolitischen Fachblatts war kein Ausrutscher, sondern das Symptom eines Denkstils. Große Medien sekundierten: »Mehr Mut zur Weltmacht«, »Die EU hat das Zeug zur Weltmacht«. Der Subtext: Wer groß denkt, wird groß – wenn er nur will, wenn er marschiert, wenn er in Kommandostrukturen denkt und handelt.

Politiker und promiente Strategen gaben den Ton an. Eine europäische Armee mit gemeinsamer Kommandostruktur? Lange Zeit Tabu. Heute Selbstverständlichkeit in Papieren und Panels. Ein »Strategierat« in Brüssel, der die Richtlinien entwirft? Längst gefordert. Und Umfragen – vor allem unter Jüngeren – werden als Mandat präsentiert: Wenn 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen die EU als Weltmacht sehen wollen, dann soll die Politik liefern, so die Logik. Doch auf Umfragen kann man kein Imperium bauen.

Denn der Realitätscheck ist ernüchternd. Wo die EU politischen Einfluss behauptet, stößt sie auf harte Grenzen: in der Iran-Politik, die unter US-Sanktionen zusammenbrach; in Afrika, wo China mit Krediten, Infrastruktur und Angebotstiefe die Norm setzt; in der Technologie, wo Europas Anteil an Patentanmeldungen seit Jahren sinkt. Wer vom Kommandoton träumt, aber wirtschaftlich ausdünnt, produziert eine gefährliche Mischung: Gipfelrhetorik ohne industrielle Basis. Das ist die Blaupause nicht für Größe, sondern für Übergriffigkeit.

Dennoch will Europa endlich souverän sein: »Strategische Autonomie« – das klingt nach Selbstbestimmung, nach Freiheit von Vormündern. Seit 2013 geistert der Begriff durch Dokumente, 2016 wurde er zur Leitidee der »Global Strategy«. Gemeint war, dass Europa seine Interessen definiert und durchsetzt, ohne sich abhängig zu machen – militärisch, wirtschaftlich, technologisch. In der Praxis aber ist »Autonomie« zu einer Chiffre geworden: mal Tarnbegriff für Aufrüstung, mal Etikett auf längst laufenden Programmen, mal moralische Hülle für wirtschaftliche Entkopplung.

Die Bilanz: Europa redet viel über Autonomie – und importiert mehr denn je: Energie, Chips, Software, Vorprodukte und vor allem Waffen. Abhängigkeiten verfestigen sich, während zugleich die Ansprüche steigen. Autonomie ohne industrielle Renaissance bleibt ein Papiertiger. So wächst die Versuchung, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit Kontrolle und Zwang zu füllen: nach innen digital, nach außen militärisch. Was als Selbstbestimmung verkauft wird, kippt so in Fremdbestimmung der eigenen Bürger.

Überhaupt scheint die angestrebte Souveränität nur ein Wunschtraum zu sein.

Kaum ein Dokument hat die europäische Lage so nüchtern beschrieben wie eine Analyse des European Council on Foreign Relations: Die »strategische Autonomie« sei gescheitert, Europa sei in die zweite Reihe zurückgefallen. Militärisch dominiert Washington, finanziell dominiert der Dollar – und technologisch baut der Westen seine Fabriken primär in den USA aus. Europa, so die Diagnose, wird zur verlängerten Werkbank, zum Zahlmeister, zum Sanktionsverwalter.

Diese Entwicklung zum Vasallen hat mehrere Ebenen. Erstens die militärische: Kriegsstrategie, Eskalationsstufen, Rohstoffkriege – alles wird in Washington festgelegt. Europa liefert Material, fragt nach Freigaben und bejubelt »Einigkeit«. Zweitens die technologische: Big Tech sitzt in Kalifornien, nicht in Köln. Drittens die politische: Ost- und Mitteleuropa werden als Hebel genutzt, um eine eigenständige Linie von Berlin und Paris zu torpedieren.

Und doch: Statt diesen Mechanismus zu durchbrechen, wird er in Brüssel internalisiert. Der Slogan lautet dann nicht mehr »autonom«, sondern »wertebasiert«. Wer widerspricht, gilt als »pro-russisch« oder »anti-europäisch«. So wird die Sprache zur Disziplinarwaffe.

Ein neues Lieblingswort erobert Reden und Strategiepapiere: »weltpolitikfähig«. Es suggeriert Erwachsenwerden, Verantwortung, Ernsthaftigkeit. Tatsächlich ist es die semantische Einlösung eines dogmatischen Anspruchs: Überall mitzureden, überall mitzumischen, überall mitzuregulieren.

In der Praxis bedeutet das: Deutsche Kriegsschiffe üben zusammen mit der US-Navy und weiteren US-Verbündeten aus dem asiatischen Raum im Pazifik, deutsche Kampfjets nehmen an den jährlichen Großmanövern im Indopazifik (RIMPAC) teil, deutsche Verbindungsstäbe sind in Japan eingerichtet (ein militärisches »Geheimschutzabkommen« zwischen Deutschland und Japan ist seit 2021 in Kraft), deutsche Kampfjets und andere Flugzeuge der Luftwaffe sind dauerhaft auf einer Airbase in Jordanien stationiert – aber parallel wird versichert, man bleibe eine verantwortungsbewusste Friedensmacht. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird mit Propaganda überbrückt. Aber diese ersetzt keine Strategie.

Die neue Aufrüstung – Ein teurer Irrweg

Europa rüstet auf. Panzer, Drohnen, Raketen – das ist die Sprache, die in Berlin und Brüssel wieder gesprochen wird. Milliarden fließen in die Waffenschmieden, während Schulen verfallen, Krankenhäuser schließen und Unternehmen über Energiepreise klagen. Die Militarisierung der Wirtschaft ist kein Weg aus der Krise – sie ist ihr Beschleuniger.

Der französische Ökonom Claude Serfati bringt es auf den Punkt: »Wer die Wirtschaft auf Rüstung trimmt, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt.« Waffen, sagt Serfati, haben kein produktives Potenzial – sie zerstören Werte, sie schaffen keine. Während Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder Gesundheit langfristig Wohlstand mehren, enden Rüstungsausgaben in einem toten Kreislauf: Ein Panzer produziert nichts, eine Rakete schafft keinen Arbeitsplatz, ein Kampfflugzeug nährt niemanden.

Frankreich ist das warnende Beispiel. Jahrzehntelang setzte Paris auf seine Rüstungsindustrie als Motor nationaler Größe. Heute, so Serfati, zeigt sich: Dieser Kurs führte nicht zur ökonomischen Stärke, sondern in die Stagnation. Der Traum von der »Großmacht Frankreich« wurde zum Trugbild – er endete in Schulden, Abhängigkeit und wirtschaftlichem Rückschritt.

Und Deutschland? Wiederholt gerade denselben Fehler.

Die deutsche Wirtschaft steckt in der tiefsten Strukturkrise seit Jahrzehnten. Der einstige Vorzeigesektor, die Autoindustrie, ächzt unter globaler Konkurrenz und Versorgungsengpässen. Der Streit um den chinesischen Chipproduzenten Nexperia bedroht zusätzlich die Halbleiterversorgung – ein weiterer Schlag gegen den Industriestandort.

Auch die Chemiebranche, einst Rückgrat der Exportnation, gerät ins Straucheln. Durch den Zolldeal der EU mit den USA drängen nun US-Produkte zollfrei auf den europäischen Markt – während deutsche Hersteller unter den höchsten Energiepreisen der Welt leiden. Die Bundesregierung verspricht Wachstum, doch ihre Prognosen stützen sich auf wacklige Pfeiler: ein paar Milliarden für Brücken, Straßen, Glasfaser – Flickwerk, kein Aufbruch.

Das einzige Segment mit Zuwachs? Die Rüstungsindustrie. Milliardenaufträge, Subventionen, Sondervermögen. Es ist der trügerische Glanz eines Sektors, der kurzfristig Gewinne liefert, langfristig aber Wohlstand vernichtet.

Zahlen lügen nicht. Eine Studie der Universität Mannheim zeigte jüngst, dass der sogenannte Fiskalmultiplikator bei Militärausgaben bei gerade einmal 0,5 liegt. Jeder investierte Euro erzeugt also nur 50 Cent an zusätzlicher Wirtschaftsleistung. Das ist ökonomischer Wahnsinn – und dennoch wird er betrieben.

Im Gegensatz dazu bringt jeder Euro, der in Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur fließt, zwei- bis dreifache Effekte. Das heißt: Während Panzerhallen gefüllt werden, verarmen Schulen, Krankenhäuser und Familien.

Deutschland, ja ganz Westeuropa glaubt, sich mit Panzern und Raketen aus der Krise kaufen zu können. Man will eine »Führungsmacht« werden, eine »Verantwortungsmacht«, wie es in den Strategiepapieren heißt. Doch diese Begriffe verschleiern die Realität: Es ist der Versuch, mit militärischer Symbolik wirtschaftlichen Verfall zu übertünchen.

Was als »Sicherheitsstrategie« daherkommt, ist in Wahrheit eine ökonomische Selbstzerstörung – ein geopolitischer Größenwahn, der den Wohlstand nächster Generationen verspielt.

Der neue Militarismus: Aufrüstung und ständige Manöver

Von der Arktis bis zum Mittelmeer, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer – die NATO-Großmanöver haben sich in wenigen Jahren zu einer Dauerchoreografie verdichtet. »Cold Response« in Norwegen, »Dynamic Manta« im zentralen Mittelmeer, Luftraumüberwachung im Baltikum, Raketenabwehr in der Slowakei – überall übt Europa Krieg. Deutschland ist dabei »First Responder«: das Land, das als erstes vor Ort ist, wenn eine Krise zur Konfrontation eskaliert.

Parallel entsteht eine Logistik-Architektur, die nur einen Zweck hat: schnelle Verlegefähigkeit gen Osten. Flughäfen, Seehäfen, Schienennetze, Brückenlasten – alles wird kriegstauglich gemacht. Ulm beherbergt das Schaltzentrum, Ramstein und Leipzig sind Drehscheiben, die Ostsee wird zum NATO-Binnenmeer. Der bereits laufende Krieg, den die Ukraine im Auftrag der NATO gegen Russland führt, wird von Wiesbaden aus gesteuert und kommandiert. Nächstes Jahr (2026) sollen dort US-Hyperschallraketen stationiert werden vom Typ Dark Eagle – übrigens als einzigem Standort in Europa. Die Semantik dieser Planung ist eindeutig: Nicht Verteidigung, sondern Projektion.

Wer in diesem Umfeld von »Friedensmacht« spricht, ignoriert die Realität. Eine Sicherheitsordnung, die das Gegenüber nur als Feind kennt, produziert permanentes Eskalationspotenzial. Es ist der Militarismus der kurzen Wege: rasch verlegen, rasch zuschlagen, rasch ausweiten – und dabei die innenpolitischen Kosten externalisieren.

Im Kaukasus und in Moldau testet die EU ihre Zangenbewegung. Offiziell geht es um »Stabilisierung«, »zivile Missionen«, »Beobachtung«. Tatsächlich markiert jede Mission eine politische Entscheidung: Einflusszonen verschieben, vorrücken an Russlands Flanke, alternative Korridore sichern – und das unter dem Dach europäischer Flaggen.

In Armenien patrouillieren EU-Teams unter dem Namen EUMA, der Schritt folgte auf eine Testphase. In Moldau setzt Brüssel auf »Beratung« für Polizei, Zoll und Justiz, begleitet von Programmen gegen »Desinformation«. Diplomatische Hüllen – mit militärischem Schatten. Wer die Landkarten der Logistik und die Topographie der Pipelines und Korridore kennt, weiß, worum es geht: die südliche Energieroute, den Mittleren Korridor zwischen China und Europa, die Option, russische Transitstrecken zu umgehen.

Der »Mittlere Korridor« – von China über Kasachstan, über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan, weiter durch Georgien in die Türkei – ist nicht nur eine alternative Containerroute. Diese »Transkaspische Internationale Transportroute« – so der offizielle Titel – ist die Antwort auf sanktionierte Nordkorridore, auf blockierte Meere, auf den Zwang, Eurasien anders zu verbinden.

Die EU-Interventionen im Kaukasus, die Gespräche mit Baku, die Aktivitäten in Tiflis – sie alle zielen auf Steuerung, Absicherung, Einfluss. Wer die Korridore hält, diktiert die Ströme. Wo Pipelines laufen, ist Politik nie weit. Der Korridor ist damit Projektionsfläche für den europäischen Drang zur Steuerung – und eine neue fault line in einer ohnehin überdehnten Ordnung. Es ist Geopolitik im Technokraten-Gewand.

In europäischen Hauptstädten wird inzwischen ganz offen die Entsendung von Truppen in »Pufferzonen« diskutiert – zur »Garantie« eines Waffenstillstandes. Was als neutrale Mission präsentiert wird, ist de facto eine Kriegsbeteiligung Europas – ohne Rückversicherung durch die USA, ohne die Schutzklauseln eines Bündnisfalls. Ein gefährliches Spiel, dessen innenpolitische Kommunikation sich auf semantische Akrobatik stützen müsste: »nichtkämpfend«, »stabilisierend«, »temporär«.

Wer die Geschichte kennt, weiß: Es gibt nichts Dauerhafteres als eine »temporäre« Mission. Sie wird Struktur, verfestigt Interessen, bindet Budgets, zieht weitere Maßnahmen nach sich – und verengt den politischen Handlungsspielraum. Je länger die Truppen stehen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer politischen Lösung.

Die vielleicht gefährlichste Verschiebung spielt sich leise ab – in Feuilletons, Thinktanks, Ausschüssen. Erstmals seit Jahrzehnten fordern prominente Stimmen eine eigenständige europäische Atomabschreckung. Aus dem Bauch europäischer Eliten kommt die These: Frankreichs Force de frappe reiche nicht, der Schutz Litauens, Polens, des Baltikums sei nicht garantiert, also brauche es einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf.

Gepaart wird dies mit einer NATO-Doktrin, die nukleare und konventionelle Abschreckung zusammenbindet und einen Erstschlag nicht ausschließt. Wer diese Sätze zu Ende denkt, erkennt die neue Normalität: Atompolitik wird wieder zur Alltagspolitik, zum Mittel in Talkshows und Interviews. Die Enttabuisierung der Vernichtungskraft – das ist der vielleicht brisanteste Indikator für die ideologische Verhärtung des europäischen Projekts.

Aber auch ohne Atomwaffen: Das Kartell der Aufrüstung siegt auf der ganzen Linie. Während Parlamente um Sozialetats ringen, füllen Rüstungsfirmen ihre Auftragsbücher. CEOs treffen sich mit Generälen auf Flugzeugträgern, Vereinbarungen werden geschlossen über jegliche nationale Grenzen hinweg, Joint Ventures sind en vogue – die europäische Rüstungsindustrie formiert sich. Ziel: Serienfertigung, Munitionsdrehscheiben, Panzer-Allianzen, Drohnenkooperation – kompatibel, skalierbar, kriegstauglich.

Die politischen Rahmen tun ihr Übriges: »Zeitenwende«-Sondervermögen, 5-Prozent-Ziele, europäische Rüstungsfonds, Beschleunigungsgremien. Die Wertschöpfung dreht – von Konsum zu Kanonen. Und die Frage, wo die 800 Milliarden Mehrmittel herkommen sollen, wird vertagt. Kürzen dort, streichen da, erhöhen hier – die Antwort lautet immer: Sicherheit zuerst.

Die Entscheidung, Rüstungsausgaben in Richtung 5 Prozent des BIP zu schieben, ist eine Zeitenwende – nicht nur militärisch, sondern fiskalisch. Nahezu die Hälfte der Ausgaben des Bundes soll fortan zum Militär fließen. Jede Milliarde, die in Munition, Panzerröhren, Drohnen und Luftverteidigung fließt, fehlt bei Bildung, Pflege, Infrastruktur. Die kumulative Wirkung über Jahre ist massiv: Schuldenbremse oder Steuererhöhungen, Abgaben oder Einsparungen – wie man es auch dreht, die Zivilgesellschaft zahlt.

Zugleich wächst die politische Abhängigkeit von den Konzernen, die liefern. Sobald Produktion und Stationierung hohe Anteile regionaler Wertschöpfung generieren, werden Parlamente zu Lobbyarenen. Die Versuchung steigt, Kriege nicht zu beenden, sondern zu verlängern – und sie »zu managen«.

[…]

Gegenentwurf

Europa braucht Sicherheit – aber nicht als Imperium. Es braucht industrielle Renaissance, nicht moralischen Export. Es braucht Diplomatie mit allen, nicht Mission gegen viele. Es braucht Rückbau des Sanktionsabsolutismus, nicht neue Embargos. Es braucht eine digitale Infrastruktur in Bürgerhand, nicht in Hand des Apparats. Es braucht Abrüstung der Rhetorik – und Reduzierung der Konfrontation.

Das bedeutet konkret: Lieferketten diversifizieren, nicht zerstören. Handelsabkommen schlichten, nicht scheitern lassen. Energiesouveränität technisch lösen, nicht ideologisch. Militärische Präsenz reduzieren, nicht globalisieren. Und vor allem: die Bürger vor der »freundlichen« Totalisierung durch Wallets, Scorings und Protokolle schützen.

Die EU steht am Scheideweg. Der eine Weg führt in die imperiale Selbstermächtigung: mehr Rüstung, mehr Mission, mehr Kontrolle, mehr Hypermoral – und am Ende weniger Freiheit, weniger Wohlstand, weniger Frieden. Der andere Weg führt zurück zu dem, was Europa stark gemacht hat: Vielfalt, Subsidiarität, Recht vor Macht, Markt vor Planung, Diplomatie vor Drohung.

Ein diktatorisches Imperium braucht große Worte und große Apparate. Eine freie Union braucht mündige Bürger – und Politiker, die wissen, dass Macht Grenzen hat. Es ist Zeit, sich zu entscheiden.

Peter Orzechowski

Peter Orzechowski hat nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Politologie in München die journalistische Laufbahn eingeschlagen. Seit 1978 war er zunächst als Redakteur, dann als Ressortleiter und Chef vom Dienst, später als Blattmacher und Chefredakteur tätig. Von 1995 bis 2013 hat er außerdem als Dozent an der Akademie der Bayerischen Presse in München mehr als 5000 Journalisten ausgebildet. Er schreibt Beiträge meist geopolitischen Inhalts für verschiedene Fachpublikationen und hat über 30 Sachbücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Der Dritte Weltkrieg in Europa und seine katastrophalen Folgen für Deutschland“.
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5 Kommentare

  1. Schon Volker Pispers sagte in seinem letzten Bühnenprogramm prophezeihend: „Die von der Leyen ist mir unheimlich. Die strebt ganz nach oben“.

    Pispers hatte da wohl eher Ambitionen auf Merkels Amt im Sinn. Daß sie noch eine Etage darüber einsteigen und ganz Europa vernichten könnte, überstieg wohl auch dessen Phantasie….

  2. Das Konstrukt EU wurde eigens dafür gegründet den Mittelstand auszubooten, den Großkonzernen dazu zu verhelfen im Osten billig zu Produzieren und das Lohnpreisniveau in Europa auch ganz allgemein durch den stärkeren Konkurrenzdruck zu drücken.
    Und vor allem, die Souveränität der einzelnen Staaten zu begrenzen um alles von ungewählten Adlaten der herrschenden Klasse zu überwachen und zu kontrollieren.
    Das „Versprechen“ ist das Versprechen des Kapitalismus, das er niemals einhalten kann.
    All diese Befürchtungen, teilte ich schon Mitte der 80er im Frankfurter Westend, Schumanstr. Ecke Beethovenplatz dem Verräter Cohn-Bendit mit, als er von seinem Europatraum schwadronierte.

    1. @ motonomer

      „Das Konstrukt EU wurde eigens dafür gegründet den Mittelstand auszubooten, den Großkonzernen dazu zu verhelfen im Osten billig zu Produzieren und das Lohnpreisniveau in Europa auch ganz allgemein durch den stärkeren Konkurrenzdruck zu drücken.“

      Das scheint dem ehemaligen Brüsseler Lakaien langsam auch aufzugehen. Jetzt fordert Tusk doch Reparationszahlungen von Deutschland, was er vor drei Monaten noch anders sah.

      https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/reparationen-warum-polen-druck-macht-und-deutschland-blockt-49595991

      Wer soviel Geld in den verhassten ukr. Nachbarn pumpt, der wird doch wohl ein paar Cents für Polen übrig haben.

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