
Franz Kafka (3. Juli 1883 – 3. Juni 1924): Kleine Erinnerung an einen großen Autor zu dessen Todestag vor 100 Jahren.
„Man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten” lautet ein pfäffischer Schlüsselsatz in Franz Kafkas Roman-(fragment) «Der Prozess». Der Autor lässt ihn von seinem Opferhelden Josef K. anschließend so kommentieren: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.”
„Franz Kafka, deutschsprachiger visionärer Schriftsteller, dessen posthum veröffentlichte Romane – vor allem «Der Prozess» (1925) und «Das Schloss» (1926) – Ängste und Entfremdung des Menschen im 20. Jahrhundert ausdrücken.“[1]
Fünfunddreißig Jahre nach Erarbeitung eines Anfang 1989 vom damaligen Südwestfunk Baden-Baden gesendeten Essay über Franz Kafka (1883-1924), seinen Josef-K.-Roman «Der Prozess» und dessen Staats-, Justiz- und Bürokratiekritik[2], möchte ich erneut an Franz Kafka erinnern. Und folgend einige der von mir gelesenen und positiv bewerteten Bücher über Kafka nennen.
Und zu diesem von mir, ähnlich wie Hans Henny Jahnn (1894-1959) und Elias Canetti (1905-1994), hochgeschätzten deutschsprachigen Autor des vergangenen „kurzen“ Jahrhunderts, der alles andere als ein „literarischer Vertreter der nihilistischen Verzweiflung“ respektive entsprechender „gesellschaftlicher Strömungen“[3] ist – anstatt weiterer – einige wenige Hinweise geben:
Zunächst auf Leo Koflers Deutung des K.-Romans, aufgespeichert in der scheinbar paradoxen poststalinistischen Schlüsselmetapher nihilistischer Humanismus.[4] Sodann auf Christoph Stölzls grundlegende Aufarbeitung der über sublimen Antisemitismus hin ausgehende rabiate Judenfeindschaft in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg[5] als „großem Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) und Horst Althaus’ ortsnah-sensitive Deutung des Landvermesser-Romans «Das Schloss».[6]
Materialreich zwei recht unterschiedliche um die letzte Jahrhundertwende ersterschienene Kafka-Bücher. Einmal Janko Ferchs rechtswissenschaftliche Studie über den vom Nationalökonomen und Kultursoziologen Alfred Weber (wie damals in Österreich-Ungarn üblich) ohne schriftliche Doktorarbeit nach (in diesem Fall zweitägiger) „strenger mündlicher Prüfung“, 1906 promovierten Juristen Kafka[7].
Zum anderen der Ausstellungsband über Kafkas berufliche Tätigkeit und sein fachliches Engagement als langjähriger Angestellter (in) der Zentralverwaltung der halbstaatlichen Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag.[8] Hier findet sich auch Kafkas an den Freund Max Brod (1884-1968) gerichteter erstaunt-verwunderter Ausruf über Geduld und Demut böhmischer Arbeiter und deren ausbleibende Rebellion:
„Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.“
Diese schmale tour d’horizon soll nicht enden ohne einen letzten Hinweis auf eine handlungssoziologische Deutung von Kafkas (1912 geschriebener, 1915 veröffentlichter) Erzählung «Die Verwandlung» als Samsas familiäres Drama.[9]
Sollte mich jemand fragen, welche Texte von Kafka ich empfehle – möchte ich nur – anstatt weiterer – die drei Texte, die ich immer wieder gern lese, nennen: Kafkas Roman(-fragment) «Der Prozess»[10], seine sarkastische Kurzerzählung «Bericht für eine Akademie» (1917)[11] und seine doppelbödige Türhüter-Kurzparabel «Vor dem Gesetz» (1915), in der der Autor das grundsätzliche „Es ist möglich“ als Grundhinweis auf lebensweltliche Kontingenz durch den lakonischen Zusatz „jetzt aber nicht“ präzisierte.[12] Und gern möchte ich darüber hinaus auch noch auf ein „vergessenes“, 1951 und 1961 erschienenes, Erinnerungsbändchen aufmerksam machen.
Im Übrigen hoffe ich als Wissenschaftler, was ‘gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen’ betrifft, etwas Entscheidendes von Franz Kafka gelernt zu haben: immer dann, wenn „lebendige Menschen“, etwa durch Justiz und Staatsbürokratie, in „tote Registraturnummern“ verwandelt werden, um sie als Objekte zu beherrschen , wirkt ‘falsches’ Bewusstsein als besondere Form gedanklicher Verkehrung und als Ausdruck der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse. Ohnmacht der dieser Herrschaft unterworfenen Subjekte ist deren erste Erscheinungsform und allgegenwärtiger Ausdruck.[13]
Und mit Blick auf diese Herrschaft(en) gilt allemal: Rebellion ist berechtigt.
Fußnoten
[1] http://www.britannica.com/EBchecked/topic/309545/Franz-Kafka
[2] Richard Albrecht, „Sie machen aus lebendigen Menschen tote Registraturnummern: Eine Bürokratie-Kritik nach Franz Kafka (Erstsendung SWF II, 12.2.1989: Die Aula); gedruckt in: Die Brücke, 84/1995: 79-83; erweiterte Netzfassung http://www.grin.com/de/e-book/38287/lebendige-menschen-als-tote-registraturnummern-eine-buerokratie-kritik
[3] Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling bis Hitler. Berlin; Weimar: Aufbau, ³1984: 619
[4] Leo Kofler, Der Prozess; in: Bettina Clausen; Lars Clausen, Hg., Spektrum der Literatur. Gütersloh: Bertelsmann, 1975: 324-325
[5] Christoph Stölzl, Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. München: Edition Text + Kritik, 1975, 147 p.
[6] Horst Althaus, Franz Kafka. Ghetto und Schloss; in: ders., Zwischen Monarchie und Republik. Schnitzler – Hofmannsthal – Kafka – Musil. München: W. Fink, 1976: 134-158
[7] Janko Ferch, Recht ist ein „Prozess“. Über Kafkas Rechtsphilosophie. Wien: Manz, 1999, X/116 p.; Wien: Atelier, ²2006, 182 p.
[8] Kafkas Fabriken. Mit einem Verzeichnis der ausgestellten Stücke als Beilage. Marbacher Magazin. Bearbeitet von Hans-Gerd Koch; Klaus Wagenbach. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, ²2003, 162 p; Zitat 39
[9] Knut Berner, „Familienaufstellung“ – Franz Kafkas Die Verwandlung als Metapher des Bösen; in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 35 (2012) 65: 109-122
[10] Franz Kafka, Der Prozess. Roman. Frankfurt/M.: Fischer Bücherei, 1960; Der Prozess. Roman; Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch, 1969, 41.-50. Tsd. [= Franz Kafka Gesammelte Werke. Hg. Max Brod. Taschenbuchausgabe in acht Bänden]; auch in: Franz Kafka, Romane und Erzählungen. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2004: 210-367; im Netz https://de.wikisource.org/wiki/Der_Prozess
[11] http://de.wikisource.org/wiki/Ein_Bericht_für_eine_Akademie
[12] http://de.wikisource.org/wiki/Vor_dem_Gesetz
[13] Richard Albrecht, Macht machtet. Ohnmacht nicht; in: soziologie heute, 6 (2013) 31: 20-23
Mit freundlichen Grüßen, ohne der IBM.
Der Text ist wohl dem geistigen Zeitenwandel heute gewidmet und bezeugt durch seine prägnante Form.
Wo gerade “Vor dem Gesetz” erwähnt wurde, dazu habe ich eine Tonversion zu bieten:
Kafka-Rap hier: https://kritlit.de/stoff/dasding.htm
Rob Kenius
Ich kenne nicht viel von Kafka. Klar scheint mir, dass er sehr mit sich selbst gerungen hat. Und, was ihm wohl auch bewusst war, dass man sich selbst oft am meisten im Wege steht.
Literatur des 20.Jh.:
Joyce
Kafka
Proust.
Kafka schrieb einen Brief an Papa. 100 Seiten. Die böhmische Tochter der Deutschen Post lehnte die Beförderung ab. Musk las die ersten Tweeds und ließ sie löschen. So kam der Brief nie an.
Autorische Kurzantwort
@PRO1
Ja: der Nischentext ist nix Tagesaktuelles. Sondern eine zeitgeschichtliche Deutung
@Rob Kenius
Hinweisdank: Hörbarer Softrap: textnah zur Kafkakurzprosa, professionell präsentiert.
@b-s
Origineller Hinweis auf ´n Kafkadilemma. Mag zum Weiterdenken anregen.
@OttoMotto
Mein literarisches Trio zu Rangautoren (op Kölsch Dreigestirn) mit Kafka als erstem scheint Sie angeregt zu haben. Mit Ihrer (ironischen?) Anspielung auch auf Mr. Musk kann ich wenig anfangen …
Laut “Kulturzeit” (3sat) kann man gegenwärtig sogar von einer Kafka-Renaissance sprechen, und zwar eher bei jungen Leuten.
Ein wichtiges Thema von Kafka, nämlich das Ausgeliefertsein des machtlosen Einzelnen an anonyme, willkürliche nicht verstehbare Mächte, stößt heute eben bei mehr Menschen als früher auf waches Interesse. Man vergleicht mit der Gegenwart und wird fündig.
Habe alles, was ich von Kafka in die Finger bekommen konnte, zwar verschlungen, hinterher aber auch immer wieder mal schlecht geträumt (etwa vom Hungerkünstler oder der Strafkolonie), dann wieder gelesen und noch mal: Gut angefühlt hat es sich nie aber vielleicht den Sinn für systemisches Unrecht geschärft, was nicht heißen soll, dass ich ihn bereits in der Grundschule oder für Rekruten der Bundeswehr als Pflichtlektüre empfehlen würde. Einfach lesen – wen es gepackt hat, lässt es nicht mehr los.