Warum Gehen subversiv ist

Barfuß gehen durch Laub
Quelle: Pixabay

Als Journalist jettete Sebastian Schoepp zwei Jahrzehnte lang rastlos durch die Welt. Bis er eine Depression in sich hochkriechen spürt und sich fragt: Brauche ich das? Geht es nicht auch langsamer? Er beginnt, Deutschland zu Fuß zu erkunden.

Und dabei findet er auf den einsamen Höhen der Mittelgebirge, abseits der touristischen Hotspots, nicht nur seine Seelenpfade – sondern im Vorbeigehen auch die Antwort auf allerlei Fragen: Wer hat das Wandern erfunden? Wie entstehen eigentlich Pfade? Warum tut Wandern so gut in Zeiten des Beschleunigungsdiktats? Und ist langsames Gehen gar ein subversiver Akt, eine Art stiller Protest gegen das Immermehr, das unseren Planeten an den Rand des Kollapses gebracht hat? Ein Kommentar.

Gehen ist die natürlichste Fortbewegungsart des Menschen. Es bringt uns in Kontakt mit unserem nomadischen Erbe, hat der Schriftsteller und Vielwanderer Bruce Chatwin mal behauptet. Deswegen würden kleine Kinder weniger schreien, wenn die Eltern sie umhertragen, denn in Säuglingen sei das nomadische Erbe noch wach. Über die gesundheitsfördernde Wirkung für Körper und Seele, die entsteht, wenn man gemächlich einen Fuß vor den anderen setzt, kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Insofern ist es verwunderlich, dass Gehen in unserer Zeit so wenig Anhänger hat. Treppe hoch, Treppe runter, noch schnell zum Einkaufen, der Straßenbahn hinterhersprinten, Mülltonne rausstellen, die Hemden aus der Reinigung holen oder beim Nachbarn die Sendung einsammeln, die die gestresste Paketbotin hinterlassen hat: Diese Art des Gehens nervt, sie fühlt sich an wie ein Rennen, Hetzen, Abliefern, gehorcht dem „Beschleunigungstotalitarismus“ unserer Zeit, vor dem der Soziologe Hartmut Rosa gewarnt hat. In der Freizeit wird dann vielleicht gewandert, aber nicht entspannt und genussvoll, sondern ähnlich leistungsorientiert und gipfelorientiert wie im Beruf: Schneller, höher, weiter lautet die Devise. Und die Seele bleibt nicht selten auf der Strecke.

Ruhe in der Bewegung

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Wer hingegen beim Gehen die Umgebung sehend und fühlend in sich aufnimmt, muss sich fast wie ein Sonderling fühlen. Oder ist langsames Wandern gar ein subversiver Akt, ein leiser Aufstand gegen das Diktat des zwanghaften „Immer mehr“, das nicht nur uns, sondern unseren Planeten an den Rand des Kollaps gebracht hat? Auf solche Gedanken komme ich, wenn ich meine „Seelenpfade“ entlangwandere. So nenne ich Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen Rhythmus finden, der uns vorwärtsträgt. Auf einem Seelenpfad fühle ich mich zu Hause, solange ich auf ihm unterwegs bin. Seelenpfade können sich überall eröffnen, auf einem Pilgerpfad oder auf dem Weg zur nächsten Waldwirtschaft. Ich habe sie da entdeckt, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte: in deutschen Mittelgebirgen. Auf ihren meist einsamen Routen habe ich das gefunden, wonach meine Seele am meisten dürstete: Ruhe in der Bewegung.

Diese Art des Wanderns war zunächst nur als Ausgleich gedacht zum beruflichen Vielfliegen, das ich als Redakteur für Außenpolitik in einer großen deutschen Tageszeitung zu absolvieren hatte. Mit der Zeit stellte ich auf meinen Touren auf Rheinsteig, Goldsteig, Lausitzer Bergweg oder Hermannsweg jedoch fest, dass die Aussicht auf dahinrollende Hügel und verschwiegene Bachtäler auch den Blick auf eine ganz neue Lebensauffassung eröffnete. Ging es nicht grundsätzlich ein bisschen langsamer? Als die krisengeschüttelte Zeitung ein freiwilliges Ausstiegsprogramms auflegte, fackelte ich nicht lange. Ich stieg nach dreißig Jahren aus dem Hamsterrad aus und schnürte die Stiefel für den Aufbruch in ein neues Leben.

Gewissermaßen im Vorbeigehen hat das Wandern in Mittelgebirgen mich auch mit der deutschen Provinz nicht nur versöhnt, ja, es hat mir ein Land nähergebracht, das ich bis dato kaum kannte. Ich war vertraut mit Mexiko-Stadt, Buenos Aires und Bogotá. Aber Darmstadt, Miltenberg, Zittau, Bad Bergzabern, Bielefeld? Inzwischen bin ich überall dort gewesen, und zwar zu Fuß. Ich bin die Weinterrassen im rheinischen Schiefergebirge emporgeklettert, habe mich durch die Felsspalten der Luxemburgischen Schweiz gezwängt und den Frachtschiffen auf der Mosel beim Dahingleiten zugesehen. Das Unspektakuläre, Impulsarme hat nicht nur meinen vom medialen Überfluss gereizten Nerven gutgetan, es barg auch unerwartete Entdeckungen: In Sachsen gab es Tafelberge, am Rhein Klettersteige, in der Fränkischen Schweiz Höhlen. Anstatt mich wie eine Hammelherde durch die Nacktscanner am Flughafen treiben zu lassen, zähle ich nun die Schäfchenwolken auf der Alb.

Ein politischer Akt

Immer wieder komme ich auf meinen Touren in Kontakt mit unerwarteten Lebensformen. Wo, wenn nicht in der Provinz, gibt es noch Rückzugsräume für individuelle Lebensentwürfe abseits des digitalen Mainstreams der Ballungsräume, wo sonst gibt es Nischen für Maler, Musikerinnen, Tagträumer, Kreative, Gründer? Wo sonst stehen die alten Schützenhäuser oder stillgelegten Bauernhöfe, die sie sich leisten können, wo gibt es billige Übungsräume, Ateliers, Parzellen für Öko-Gärtner? Deutschland kommt mir ungeordneter, durchlässiger, verkrauteter, diverser, vielfältiger und liberaler vor, als es die meisten Deutschen selber wahrhaben wollen.

Nebenbei finde ich diese Art Freizeitgestaltung konstruktiver als den Wochenendtrip in die Hotspots des Overtourism. Dort, wo ich durch das Trampeln auf Pfaden nichts zerstöre, sondern – im Gegenteil – zu ihrem Erhalt beitrage, trampele ich gerne mit. Manche Ecken Mittelhessens oder Westfrankens scheinen Strukturhilfe nötiger zu haben als Sardinien oder Andalusien. Ist das nicht ein Argument für Urlaub zuhause in unserer um die Gute Tat bemühten Zeit? Anders als auf Mallorca muss man sich im Hunsrück auch nicht fühlen wie einer mehr in der Masse; da freut sich die Wirtin noch, wenn jemand kommt.

Das Wandern durch den heimischen Obst- und Bauerngarten hat überdies meine Sensibilität geschärft für das, was am Wegesrand wächst. Und das wiederum hat mich aufmerksamer gemacht, was meinen alltäglichen Konsum angeht. Ich achte nun auch zuhause darauf, was wann auf heimischen Äckern, an Bäumen und Sträuchern reif ist, ich esse Erdbeeren nur im Juni und Birnen nur im Herbst. Im Winter gibt es Steckrüben, die haben viel Vitamin C. Ich pflücke Löwenzahn und Bärlauch, mampfe eigene Stachelbeeren statt Litschi, koche Pesto aus wild wachsender Zitronenmelisse und Minze, rühre mir aus den Haselnüssen vom Baum im Garten Nutella an. Tropische Früchte lasse ich im Regal liegen, ebenso wie südafrikanischen Wein. Schmeckt ein kantiger Mosel-Riesling nicht viel facettenreicher?

Natürlich ist so ein lebensverändernder Umstieg mit Risiken verbunden. Doch das Wandern hat mich auch gelehrt, mit weniger auszukommen, denn es reduziert die Ansprüche auf die Grundbedürfnisse. Der norwegische Abenteurer Erling Kagge lobt das „Gefühl der Freiheit, wenn ich alles, was ich zum Leben brauche, in den Stunden, Tagen oder Monaten, die eine Tour dauert, auf dem Rücken habe“. Dafür muss man nicht zwingend auf den Mount Everest kraxeln. Vielleicht genügt ja der Spessart? Epikur empfahl einst: Setze dir nur Ziele, die du erreichen kannst. Das habe ich beim Wandern gelernt. Seitdem versuche ich, das Leben anzugehen wie eine Frühlingswanderung, wenn die hellgrünen Blättchen sich wie von ganz alleine sich aus den Zweiglein tasten. Und ich staune, was ich damit alles schaffe. Das empfinde ich in der Tat als politischen Akt.

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16 Kommentare

  1. Also was ich echt nervig finde, dass gescheiterte Menschen, die dann zu Fuss durch die Gegend laufen, gleich einen Selbstfindungstripp oder gar einen politischen Akt daraus machen müssen. Es gibt viele Wanderer, die einfach nur wandern, ohne gleich ihren Seelenschmalz vor allen Menschen auszukippen oder es gar politischen Akt deuten.

    1. @Igel

      Was ich hingegen fast nervig finde ist, wenn Volldeppen immer wieder nur blöd daherreden können, wenn sie mit etwas konfrontiert sind, das alles was sie darstellen um ganze Welten übersteigt….

      Ursache dafür ist, dass nichts so idiotisch sein kann, dass es in den sozialen Medien nicht trotzdem noch von jeder Menge gleichge“sinn“ter Beifall und Likes bekommt. Ihr seid das nützliche Massenview, das den ganzen Saustall erst möglich macht…. Da ergibt sogar eine Wehrpflicht plötzlich einen ganz anderen Sinn, es wird sozusagen eine darwinistische Gross-Tat.

    2. Nicht nur das. Der Selbstfindungstripper nutzt dies auch gleich noch um ein Buch zu schreiben um daraus Kohle zu machen. Nein, ich kaufs mir nicht. Wandern oder gemützlich radfahren geht gut auch ohne dieses Buch.

      1. Ja das ist das nervige, man spürt sofort hinter allem die Masche, den Versuch aus allem Geld zu machen, Profit. Jeder B und C Promi versucht dann irgendwie auf den Zug aufzuspringen und was vom Kuchen abzubekommen. Ist halt Kapitalismus.
        Ein hoch auf die wirklich Stillen, Bescheidenen.
        Merke: Wahres Erleben macht nicht geschwätzig sondern schweigsam (Rudolf Georg Binding)

  2. „Auf meinen Wanderungen oder besser, immernoch am wandern, stelle ich fest, das wir nach dem römischen Kalender im Stillstand stehen.
    Die kreierte menschliche Gier nach mehr, zerstört mehr und unser Paradies.
    Es existiert, eventuell außerhalb unseres Wissen, aber die Erde ist das Paradies im Planetarium.
    Diese Erde besitzt alles für jeden und niemand, ‚real betrachtet‘, kommt zu kurz.

  3. Ein sehr schöner Text, der vieles eigentlich Altbekannte nochmal deutlich hervorhebt. Und der mit seinem Begriff des „Seelenpfades“ wahrscheinlich viel näher an der Wirklichkeit ist, als beabsichtigt. Denn das, was der Autor beschreibt, gehört m.M.n. zur ‚Grundausstattung‘ und zu den Grundbedürfnissen des Menschen; in Zeiten der zunehmenden Entfremdung, Verlust der Natürlichkeit und Normopathie geht das Empfinden für solche essenziellen Dinge immer mehr verloren.
    “ Das Unspektakuläre, Impulsarme hat nicht nur meinen vom medialen Überfluss gereizten Nerven gutgetan“.
    Eben weil es natürlich ist. Und nicht nur der mediale Überfluss trägt sein Scherflein zur allgemeinen (Hoch-)Spannung bei. In einer Welt voller Lärm (schon Schopenhauer sprach ja von den „vogelfreien Ohren“), Gestank und allgemeiner Unachtsamkeit ist es schwer, Orte (zumindest in einiger Nähe) der Stille und Ruhe zu finden. Und nicht wenige scheinen diese auch gar nicht mehr ertragen zu können.
    Als politischen Akt würde ich das im Artikel Beschriebene allerdings nicht deuten. Sondern als Ausdruck des Mensch-Seins.

    1. Inzwischen ist reines Mensch-Sein schon hochpolitisch, in Zeiten von KI-Deepfake und gesellschaftlich geforderter Identität als Konsument mit Arbeitssucht mit genormter „Schönheit“

  4. Vielen von uns wird das „gehen“ zukünftig, als einziges übrigbleiben, um uns noch fortzubewegen.
    Deswegen, fahre ich mit meinem alten GTI noch solange ich kann, auch zum Briefkasten.
    Weil, seit der Erfindung der Motorräder und Autos, (Auch Boote und Flugzeuge, hab alle Scheine) für mich der Inbegriff der menschlichen Freiheit darstellen, die uns jetzt u.a. durch die 15 Minutenstädte genommen werden sollen.
    Und ja, ich schreibe noch echte Briefe, weil die in aller Regel, keiner kontrolliert und sie so als sicherstes Kommunikationsmittel überhaupt anzusehen sind.

  5. Ich geh dann mal.
    🎼Das Wandern ist des Müllers Lust
    Ein Waldspaziergang ist Therapie, Wandern kann auch Sport sein, muss aber nicht. Besser als Jogging, das macht ja auf eingeebneten Wegen nur Gelenkschäden.

  6. Muss man eigentlich für alles, was man tut, eine Begründung haben? Verleiht die Annahme, etwas sei `gesund´ eine größere Freude am Tun? Für mein Leben gerne gehe ich zu Fuß. Das `zu Fuß´ soll verdeutlichen, dass ich im sportlichen Sinn keine `Geherin´ bin. Als Gehen bezeichnet man die Fortbewegung des Menschen ohne Zeitdruck in Verbindung mit stets andauernder Bodenhaftung. Dabei ist oft die Zeit mit im Spiel. Es kann sein, dass – bevor Bus, Tram, U-Bahn eintreffen – die erforderlichen 500 m locker bewältigt werden können. Auch ohne Doping allein auf der Grundlage von Brot und Wasser. Mensch stellt also Vergleiche an, bezüglich des Zeitaufwandes. Gehen kann man immer und überall. Auch In Städten ist Gehen erlaubt, nicht nur im Wald und auf der Heide. Vom Gehen über das Wasser würde ich abraten. Da ist Schwimmen sinnvoller.
    Viele Mitmenschen scheinen eine moralische, ideologische oder gesundheitliche Begründung zu brauchen für das Gehen, Dabei ist es ganz einfach: Wer geht statt zu fahren,, sieht mehr. In Wäldern, Sümpfen und in der Stadt. Das Erschließen der Umwelt in einer artgerechten Geschwindigkeit ist möglicherweise mit Bezug auf einen persönlichen Erkenntnisgewinn sinnvoller. Auch in Städten und auf Pflaster! Es bedarf keiner romantisierenden Begründung des Tuns durch die Anwesenheit von Pflanzen.

    1. „Muss man eigentlich für alles, was man tut, eine Begründung haben?“
      Eine bessere Frage kann man nicht stellen. Nein, muss man nicht. Nur irgendwelche Rechtfertigungs-Fetischisten brauchen die offensichtlich. Und die gehen mir ziemlich am Arsch vorbei.

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