Was bleibt, wenn das Schulwissen verblasst: hinreichend brauchbare und moralisch justierte Bürger für Wirtschaft und Staat. Dritter und letzter Teil der Serie.
Zum ersten Teil – Demokratiebildung – geht es hier.
Zum zweiten Teil – Lernkonkurrenz – geht es hier.
Die bürgerliche Schulpädagogik und die Bildungsbehörden gehen davon aus, dass in ihrem Verfahren der „Allokation“ die Aufgaben der „Qualifikation“ und der „Selektion“ der Schulabsolventen miterledigt werden. Zwischen dem Erwerb von Wissen und der seltsamen – dem Diktat von Zeit und Noten ausgesetzten – Bewährung besteht aber ein wesentlicher Unterschied, der sich zum Gegensatz auswachsen kann. Dem Begreifen einer Sache ist es äußerlich, wie lange man dazu braucht, und man weiß auch nicht, was man begriffen oder auch nicht verstanden hat, wenn man die Denkleistung „sehr gut“, „befriedigend“ oder „mangelhaft“ nennt. Sinn ergeben solche falschen Abstraktionen nur als Mittel des schulischen Konkurrenzvergleichs.
Gelegentlich merkt die Schule selbst und reagiert darauf, dass sich Ausbildung und Auslese ins Gehege kommen können. PISA hat durchaus gezeigt, dass ein schulüblicher Dreier-Durchschnitt im Lesen, Schreiben und Rechnen und die elementare Beherrschung dieser Kulturtechniken zwei Paar Stiefel sind. Versuche an Grundschulen sollen dann z.B. ausprobieren, ob ein Lernen ohne Noten nicht ‚nachhaltiger‘ ausfällt. Ihre „Allokationsfunktion“ wird die Schule darüber sicher nicht verlieren.
„Vier gewinnt“
Eine unvermeidliche Folge dieses Lernens unter Konkurrenzbedingungen ist das jedem in Erinnerung gebliebene instrumentelle und opportunistische Verhältnis, das Schüler dazu einnehmen. Das erklärt, warum das Prinzip „Vier gewinnt“ unter ihnen so populär ist, mit dem man ausdrückt, dass man in Chemie oder Französisch zwar nichts Substanzielles verstanden hat, aber mit der Bewertung „ausreichend“ noch versetzt wird. Das erwachsene Kokettieren damit, in Mathematik nie einen Durchblick gehabt zu haben, genießt sogar gesellschaftliche Reputation. Parallel dazu ergibt sich eine Art des Wissenserwerbs, der plakativ auf „Bulimie-Lernen“ getauft wurde, von dem also nach dem Einpauken und fristgerechten Ausspucken im Erfolgsfall die prägende Erinnerung bleibt, unter Druck nicht versagt zu haben. Selbstbewusst macht offenbar auch die Erfahrung, dass das Fingieren von Wissen, also das Spicken, Abschreiben oder Schwafeln, oftmals das gleiche Resultat erbringen kann wie die Kenntnisse selbst. Dass solche ‚informellen Lernresultate‘ im Bewerbungsgespräch und im Aufstiegsgerangel des Arbeitslebens brauchbar sein können, ist hinreichend bekannt.
Das zur Perfektion entwickelte Verfahren der Lernkonkurrenz hat neben seinen schulischen Implikationen eine gesellschaftliche Leistung, welche die Schulpädagogik unter dem Namen „Legitimationsfunktion“ kennt und so definiert: „In Schulsystemen […] ist die Reproduktion von Normen, Werten und Weltsichten institutionalisiert, die zur Stabilisierung der sozialen und politischen Verhältnisse dienen.“ (Wikipedia) „Die Schule soll bei den Heranwachsenden Loyalität gegenüber dem bestehenden politischen und gesellschaftlichen System entwickeln, und dies besonders durch das Akzeptieren der Berechtigung sozialer Ungleichheit.“ (Pädagogisches Institut Bozen) Wie im Fall der Hertie-Kommission zur Demokratiebildung (s. Teil 1), die ähnliche Ziele vertritt, dürfte auch die bürgerliche Pädagogik insgesamt keinen richtigen Begriff davon haben, worauf die erwünschte und bezweckte „Stabilisierung der Verhältnisse“, die „Loyalität“ und das „Akzeptieren von Ungleichheit“ eigentlich beruhen. Dazu noch die folgenden Erläuterungen.
Es gehört ebenfalls zur Schule der Konkurrenz, dass sie nicht nur Sprachen oder Naturwissenschaften zum Gegenstand der selektiven Leistungsunterscheidung macht, sondern in gleicher Weise auch den schulischen Auftrag zur staatsbürgerlichen Erziehung. „Normen“, „Werte“, Menschenbilder etc. werden als Bestandteil von Fächern der Gesellschaftskunde unterrichtet und abgeprüft, wobei sich die Lehrenden gewiss sind, dass in den präsentierten ‚Weltsichten‘ verbürgtes Wissen vorliegt. Das Grundschulkind erfährt z.B., den Bäckerladen gebe es wegen der geliebten Brötchen, und Fabriken böten Arbeitsplätze an, weil nicht alle Leute ein Geschäft besäßen. Polizei und Armee wären für Ordnung und Frieden da, und Politiker würden sich um das Ganze kümmern, weil die Bäcker, Polizisten und der Papa auf Schicht dafür keine Zeit hätten.
Warum manche Bäckereien und Handwerker Pleite gehen, wenn die Lohntüten der Papas nur noch den Discounter und Do it yourself hergeben, lässt sich nicht mehr spielerisch, sondern erst später lernen. Dann, wenn die Schüler in die Hefte schreiben, die Marktwirtschaft biete die adäquate Antwort auf das Problem der „Knappheit“, denn die Gütermengen seien begrenzt, die Konsumwünsche aber endlos. Dass der Kapitalismus umgekehrt einen Warenreichtum hervorbringt und Krisen induziert, indem er die Fähigkeit der Lohnabhängigen beschränkt, denselben zu kaufen, wird als Fehlentwicklung gedeutet, die eine richtige Wirtschaftspolitik aber vermeiden oder beheben würde. Im Lehrbuch steht auch, es brauche den Staat, weil der Mensch ein Wolf ist, und auch der Staat selbst sei demokratisch einzuhegen, damit er nicht seinerseits zum Raubtier wird. Gesellschaftliche Gegensätze werden also aus der menschlichen Natur abgeleitet, ohne zu bemerken, dass die gleichzeitig deduzierte Überwindung dieser Wolfsnatur ein Widerspruch in sich ist. Usw.
Schulzensur und Selbsturteil
Nach dieser Seite hin werden die bürgerlichen Ideologien tatsächlich zu einem Schulstoff, den der induzierte Opportunismus der Schüler aufnimmt, als wäre es die Satzreihe des Pythagoras. Plausibilität beziehen die unterrichteten Ideologien im Unterschied zur Mathematik aber nicht aus ihrer Schlüssigkeit, sondern als Weisen, sich eine Anpassung zurechtzulegen, zu der die Konkurrenzgesellschaft im späteren ‚Ernst des Lebens‘ ganz unmittelbar nötigt. Dazu braucht es keine komplexen Menschenbilder und sinngebende ‚Narrative‘, die nach der geschriebenen Klassenarbeit auch gerne wieder vergessen werden.
Zum „Akzeptieren der Verhältnisse“ leistet die Schule ihren entscheidenden Beitrag darin, dass sie der Jugend zu einer falschen, aber systemstabilisierenden Verarbeitung von Lernerfahrungen verhilft. Die Selektion anhand des zu erwerbenden Wissens, also die Herstellung entsprechender Schülertypen und Schülerzahlen, ist zwar das praktische Werk des Bildungswesens selbst. Es stellt sich den Lehrenden und Lernenden ideologisch aber so dar, als sei dies nur die Antwort der Schule auf von ihr ziemlich unabhängige Voraussetzungen, die gemeinhin auf den Namen „Begabung“ hören*. Wenn jeder Schüler, ob reich oder arm, seine Talente frei und gleich entfalten kann – so versteht sich und das fordert das demokratische Schulwesen –, dann sind die unterschiedlichen Ergebnisse dieser Begabungsentfaltung auch legitimiert. Wem die Wege im Prinzip offenstanden, wem sich alle Schulformen nach rechtlichen Regeln zugänglich und durchlässig zeigten, wer sogar einen begrenzten Anspruch auf Förderung hatte, der ist auch zu Recht auf dem gesellschaftlichen Platz gelandet, der ihm gebührt. Das bestärkt die einen in der Einbildung, sie würden in ihrer erfolgreichen Punktlandung die Früchte von Charakter und Begabung ernten. Im Mittelfeld der Hierarchie darf man sich das berufliche Auf und Ab so zurechtlegen, dass man darin dank eigener Veranlagung noch vergleichsweise gut fährt. Aber auch die vielen anderen, deren Unzufriedenheit mit ihrer Platzierung die Regel ist, sollen sich die Verantwortung dafür zähneknirschend selbst zuschreiben. Mehr als Hauptschulniveau war bei ihnen offensichtlich nicht drin. Für die heranwachsenden Verlierer der Veranstaltung, die das antizipieren, ist das natürlich ein harter Brocken. Etliche antworten darauf mit einem Verhalten, das den Lehrern an „Restschulen“ das Leben nicht leicht macht, bevor das Arbeitsleben zur ‚Vernunft‘ ruft.
Die Schule der Nation hinterlässt also etwas, das nachhaltig bleibt, auch wenn ein Großteil des sachlichen Lehrstoffs und die Einzelheiten der ideologischen Inhalte verblasst sind. Nämlich die große Lehre aus dem Verfahren, welches die Schulabsolventen veranlasst, das in den Zeugnissen und deren Rechtsfolgen ausgesprochene Urteil als Selbsturteil zu übernehmen. Derart erzogen stehen die künftigen Erwachsenen dann als hinreichend qualifizierte, berufsperspektivisch vorsortierte und moralisch justierte Konkurrenten um Beschäftigung und Einkommen einem Arbeitsmarkt zur Verfügung, der davon freien Gebrauch machen kann. Auf ihr Dasein als staatsbürgerliche Ressource für die weiteren Anliegen ihrer Nation sind sie ebenso vorbereitet. Und ihre demokratische Reife und „Resilienz“ betätigen sie darin, dass sie dies als positive Lebensgrundlage annehmen.
*Zum landesüblichen Fehler, das Verdikt der Schule mit der Offenlegung von höchstpersönlichen Eigenschaften zu verwechseln, trägt die Lehrerschaft, die erfahrene zumal, in spezifischer Weise bei. Ein Lehrerzimmer-Spruch dazu besagt, dass man aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen könne. Weil sie ihr Schulsystem zwar nicht durchschauen, aber gut kennen, sind deutsche Pädagogen schnell dabei, einen Schüler selbstsicher danach zu taxieren, ob er „Gymnasiast“, „Real“- oder „Hauptschüler“ ist, und ihm je nach ‚Spezies‘ eigene Lernkanäle, Grenzen des Verstandes oder eine falsche Schulwahl zuzuschreiben. Das Lächerliche daran ist z.B. in dem seltenen Fall zu erleben, wo solche Lehrkräfte ihr waldursprüngliches System ausländischen Kollegen zu erklären versuchen, die beruflich anders, z.B. einheitsschulisch sozialisiert und ausgebildet wurden. Die wundern sich dann, warum die deutsche „main school“ ausgerechnet die ist, wo keiner hinwill, weil die meisten lieber auf eine Schule wollen, die „Turnhalle“ heißt. Und die Separierung angeblicher Schülernaturen halten sie glatt für eine „Diskriminierung“.
Sir Ken Robinson geht schon seit ewigen Zeiten in sehr hoerenswerten Vortraegen der Frage nach “So schools kill creativity?”.
Ueber Herkunft, Entwicklungen und Fehlentwicklungen gibt dieser Vortrag in Kurzform, der zudem noch sehr anschaulich illustriert wurde, tiefe Einblicke. Wir haben es naemlich nicht mit einem nationalen Problem zu tun, sondern mit einem internationalen Problem der Industrienationen, fuer die Schule ein reiner Kostenfaktor geworden ist. In USA laufen Experimente in armen Gegenden, auf Lehrer weitgehend zu verzichten, um die Kinder an Computern zu unterrichten. Jeder ein Einzelkaempfer vor einem Bildschirm.
Ken Robinson: Changing Education Paradigms
https://youtu.be/zDZFcDGpL4U?si=LWrYBTPNB7_WM1um
auch sehr hoerenswert:
Ken Robinson TED talk: Do Schools kill Creativity?
https://youtu.be/iG9CE55wbtY?si=nmyTYyt15PvoSzMX
Aus persoenlichen Gruenden habe ich mich mit dem Thema Lernen, Lernmethoden und auch mit dem Schulsystem befasst, nachdem wir bemerkt haben, wie leicht es sich einige im System machen koennen, um Schueler loszuwerden und wie schwer es werden kann, eine andere Schule zu finden. Ja, es gibt Schulpflicht, aber keine Schule ist verpflichtet ein Kind zu nehmen. Zumindest war das zu diesem Zeitpunkt so.
Erhellend waren die Vortraege von Hans Biegert, dem damaligen Leiter der Heboschule, der schon vor 20 Jahren mit Bergen von Informationsmaterialien, anerkannten Studien, Hirnscans ueber das Lernen etc. von Stadt zu Stadt tingelte und kostenlose Vortraege hielt. “Auf den Anfang kommt es an”. Schon damals gab es Studien, die belegten, dass Schulabbrecher bereits in der Grundschule verloren gehen und auch hinterher trotz Unsummen investierten Geldes nur sehr schwer wieder aufgefangen werden. Sein Vorschlag, das Schulsystem dahingehend umzustellen, dass die Grundschule die wichtigste Schulform ist, wo richtig in Personal, Materialien und Zeit investiert wird, um auch wirklich alle mitzunehmen, stiess auf wenig bis keine Gegenliebe. Das System wollte es nicht so. Da ging es um Poestchen, Pfruende, Geld, Gehaelter. Gymnasiallehrer fanden sich wichtiger, als Grundschullehrer etc. Kurzum. Nichts sollte sich aendern. Deshalb haben wir heute, das was wir haben: Same old shit. Das Schulsystem kaeme perfekt ohne Kinder aus.
Ich habe eine Kollegin, die bis heute Angst vorm Schreiben und Lesen hat, weil sie in der Schule immer ausgelacht wurde, weil sie das nicht richtig konnte, nicht so schnell war. In der Pause hat sie sich in der Toilette versteckt und haelt sich bis heute fuer dumm, was sie nicht ist. Schule kann so grausam sein.
Eine regelrechte Katastrophe ist die “Leistungsbilanz” für die Technik des methodischen Umgangs mit Abstraktionsebenen, die im Umgang mit geometrischen Zusammenhängen, Zahlen und rechnerischen / mathematischen Algorithmen einbegriffen ist. Das weiß ich auch deshalb gut, weil es mich persönlich betrifft, just weil ich keinerlei Problem hatte, die schulischen Anforderungen “im Vorbeigehen” zu erfüllen und keine Motivation, mir vorzulegen, was ich da eigentlich tat.
Ich habe mir dann viele, viele Jahre später erarbeiten müssen, was ich zwischen dem 11. und 16. Lebensjahr vermutlich leicht aufgefaßt hätte, wäre ich darauf aufmerksam geworden, was es zu begreifen gilt.
Ein vermutlich gar nicht so kleiner Teil meiner für viele “unverständlichen” Ausdrucksweise rührt daher, daß ich Begriffe in beträchtlichem Umfang intuitiv mathematisch ordne, und dann verblüfft bin, wenn viele Leser / Hörer das nicht ebenso intuitiv nachvollziehen (können).
Ein paar Bildungsbürger brauchen wir schon. Top gebildet, hoch intelligent. Der Rest sollte brav wählen, gut manipulierbar sein, sich für das Imperim opfern und wissen wie man eine Maschine bedient.
Nachdem ich vorliegenden Aufsatz als erstes zu dem Thema Schule gelesen habe, Teile I und II sind mir wohl entgangen, habe ich mir verwundert die Augen gerieben. Mir DDR-Aufgewachsenem ist dann deutlich geworden, es hat in der deutschen Geschichte einen kurzen Moment gegeben, in dem es möglich gewesen wäre, die Degeneration des Bildungswesens zur heutigen Schule zu verhindern. Nun ist mir natürlich auch klar, es war und ist natürlich nicht gewollt, einen Bürger zu bilden, der in der Lage ist, gesellschaftliche Zusammenhänge zu durchschauen. Der in der Lage ist, an einer bestimmten Stelle der gesellschaftlichen Entwicklung, an der das Scheitern einer aktuellen Politik evident wird zu sagen: Stop, hier spielen wir nicht mehr mit. Der den zivilen Ungehorsam dann auch auslebt. Wie nützlich wäre es gewesen, Einiges aus der (Margot)Honecker-Schule zu übernehmen. In der es weniger um stupides Lernen im Sinne von Pauken, der Autor zitiert den Begriff des “Bulimie-Lernens” ging, sondern um die Vermittlung einer humanistischen Bildung. Davon sind wir mittlerweile so weit entfernt als hätte es derartiges nie gegeben, als stünden uns diesbezüglich keinerlei Erfahrungen zur Verfügung, Wie singt Reinhard Mey so treffend in einem seiner Lieder? “…mit voller Fahrt aufs Riff”.