Sachbücher des Monats: November 2022

 

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung präsentiert von DieWelt/Neue Züricher Zeitung/RBB/ORF

1. Jürgen Kaube/andre Kieserling: »Die gespaltene Gesellschaft«

Verlag Rowohlt Berlin, 286 Seiten, € 24,00

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Talkshows und Zeitungen gefragt wird, was unsere Gesellschaft – noch – zusammenhält. Ob Arm gegen Reich, Ost gegen West, Land gegen Stadt, Jung gegen Alt oder der anhaltende Streit über Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen: Die gesellschaftliche Spaltung erscheint als ein Signum unserer Zeit. Jürgen Kaube und André Kieserling gehen dieser Diagnose auf den Grund: Schrumpft die Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden?

2. Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey: »Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus«

Suhrkamp Verlag, 478 Seiten, € 28,00

Corona-Kritiker mit Blumenketten, Künstlerinnen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Journalisten, die sich als Rebellen gegen angebliche Sprechverbote inszenieren: Der libertäre Autoritäre hat Einzug gehalten in den politischen Diskurs. Er sehnt sich nicht nach einer verklärten Vergangenheit oder der starken Hand des Staates, sondern streitet lautstark für individuelle Freiheiten. Etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen – und frei von gesellschaftlicher Solidarität.

3. Moritz Baßler: »Populärer Realismus – Vom International Style gegenwärtigen Erzählens«

C.H. Beck, 408 Seiten, € 24,00

Über die Maßstäbe für „gute“ Gegenwartsliteratur herrscht große Unsicherheit. Moritz Baßlers Buch analysiert erfolgreiche Erzählliteratur der Zeit, mit dem Schwerpunkt auf deutschsprachigen Romanen und Seitenblicken auf Fantasy und neue Qualitäts-TV-Serien, und diskutiert den veränderten Status der Literatur in der aktuellen Markt- und Mediengesellschaft. Dabei macht Baßler einen international prägenden Stil des „populären Realismus“ aus: Leichte Lesbarkeit und routinierte Plots, aufgeladen mit Zeichen der Bedeutsamkeit, ohne dass die Texte aber tatsächlich Neuland beträten.

4. Ulrike Herrmann: »Das Ende des Kapitalismus – Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind und wie wir in Zukunft leben werden«

Ulrike Herrmann, 341 Seiten, 24,00€

Die Klimakrise verschärft sich täglich, aber konkret ändert sich fast nichts. Die Treibhausgase nehmen ungebremst und dramatisch zu. Dieses Scheitern ist kein Zufall, denn die Klimakrise zielt ins Herz des Kapitalismus. Wohlstand und Wachstum sind nur möglich, wenn man Technik einsetzt und Energie verbrennt. Leider wird die Ökoenergie aus Sonne und Wind aber niemals reichen, um weltweites Wachstum zu befeuern. Die Industrieländer müssen sich also vom Kapitalismus verabschieden und eine Kreislaufwirtschaft anstreben, in der nur noch verbraucht wird, was sich recyceln lässt.

5. Reinhard Mehring: »Aus der Elendsgeschichte des deutschen Privatdozenten – Prosastücke zum denkwürdigen Schicksal des Friedich Eduard Beneke«

Verlag Matthes & Seitz Berlin,  170 Seiten, 16,00 €

Als Hegel-Opfer blieb er zeitlebens unbesoldet. Dabei hätte er ein besseres Schicksal verdient als ein Ende im Landwehrkanal. Die Elendsgeschichte, die Reinhard Mehring kongenial erzählt, rettet die Bruchstücke unseres biografischen Wissens in die Poesie. Sie skizziert dafür das Programm einer satirischen Umwertung des gängigen Kanons und erzählt im Anschluss in Prosaminiaturen von Benekes erbarmungswürdigem Leben im vormärzlichen Berlin, seinem tragischen Tod und der abgebrochenen Wirkungsgeschichte, die nicht die Netzwerke und Institutionen fand, die andere geschickter bedienten. Mehrings Rekonstruktion führt uns bis in die 1990er-Jahre der Humboldt-Universität zu Berlin.

6. Ian Morris: »Geographie ist Schicksal – Machtkampf zwischen Großbritannien, Europa und der Welt: Eine 10,000-jährige Geschichte«

Campus, 655 Seiten, 32,00 €

Wer sind wir, wo leben wir, was haben wir, wie schützen wir uns und wer macht die Regeln? Diese Fragen treiben die Menschheit seit jeher um,
und sie alle werden von der geographischen Lage bestimmt. Das zeigt Historiker, Archäologe und Bestsellerautor Ian Morris mit Blick auf Großbritannien, das einstige Imperium. Er erzählt die Geschichte seiner sich wandelnden Beziehungen zu Europa und der Welt, von der physischen Trennung am Ende der Eiszeit bis zu den ersten Anfängen des Vereinigten Königreichs, den Kämpfen um den Atlantik und dem Aufstieg der Pazifikregion.

7. Jens Balzer: »Die Ethik der Appropriation«

Verlag Matthes & Seitz Berlin, 87 Seiten, 10,00€

Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr »fremder« Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern wie man richtig appropriiert.

8. Emanuele Coccia: »Das Zuhause – Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes«

Carl Hanser Verlag, 160 Seiten, 22,00€

Drei Zimmer, Küche, Bad – ist damit erklärt, was ein Zuhause ist? Keineswegs, beweist Emanuele Coccia in seiner „Philosophie des Wohnens“. Obwohl die Philosophie von jeher eine besondere Beziehung zur Stadt hatte, ging es ihr bislang kaum um Häuser und Wohnungen. Dabei spielt das Zuhause für das menschliche Glück eine entscheidende Rolle. Die Aufteilung der Räume spiegelt und verstärkt soziale und kulturelle Ungleichheiten.

9. Friedrich Sieburg: »Die Fliege im Bernstein – Tagebuch November 1944 bis zum Mai 1945«

Wallstein Verlag, 232 Seiten, € 29,90

Friedrich Sieburg (1893-1964) führte vom 23. November 1944 bis zum 15. Mai 1945 Tagebuch – verfasst als Mikrogramm in kleiner Bleistiftschrift aus Angst vor der Beschlagnahme durch die Gestapo und um es vor unerwünschten Lesern zu verbergen. Geschildert werden der Untergang des Dritten Reiches und der verlorene Krieg, aber auch der Untergang seiner Ehe mit der aus württembergischen Adel stammenden Dorothee, verwitweten Gräfin Pückler, geb. von Bülow, an der Sieburg zu zerbrechen drohte

10. Laura Cazes (Hrsg.): »Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland«

S.Fischer Verlag, 224 Seiten, € 24,00

Wenn über jüdisches Leben in Deutschland gesprochen wird, dann vor allem bezogen auf die Shoah und Antisemitismus. Damit aber werden Jüdinnen und Juden zu Objekten von Themen, die zwar untrennbar verbunden sind mit dem Land, in dem sie leben. Ihr eigenes Leben mit all seinen Realitäten aber taucht in gesellschaftlichen Diskursen kaum auf.
Die Autor:innen nehmen einen radikalen Perspektivwechsel vor, indem sie die Vielfalt jüdischer Positionen aufzeigen und sich als Jüd:innen selbst zu Wort melden. Sie schreiben über Rollen, die ihnen zugewiesen werden, über das Unbehagen, das die Präsenz lebender Jüdinnen und Juden manchmal auslöst, über den Schmerz und die Leerstellen, die sie empfinden, aber auch über Chancen und Perspektiven.

Besondere Empfehlung des Monats des November von Barbara Sichtermann (Schriftstellerin):

Ulrike Ackermann : »Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt«

Verlag wbg Theiss, 176 Seiten, € 22,00

Ulrike Ackermann erklärt, wie Ideen und Strategien aus der akademischen Welt Amerikas zu uns nach Deutschland kamen und hier wie dort zu Denkverboten und Sprachvorschriften führten sowie der üblen cancel culture Vorschub leisteten. Der Postkolonialismus, die Gender Studies und die Critical Social Justice Theory schießen in vielerlei Hinsicht übers Ziel hinaus und gefährden die freie Forschung und das Erbe der Aufklärung. Aber das Buch bietet mehr. Ackermann zeigt, wie die Fehlentwicklungen an den Universitäten in die größere Öffentlichkeit ausstrahlen und uns alle betreffen. (Barbara Sichtermann)


Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Knud von Harbou, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Uni Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Ma-rianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Gerlinde Pölsler, Der Falter, Wien; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, krass-und-konkret, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

Ähnliche Beiträge:

4 Kommentare

  1. indirekt hierzu, der Hinweis, dass nach dem kurzen Interview Guerots, auf Multipolar, der freundliche Mr. Ther aus Wien einen Angriff auf Guerot gestartet hat.

    „Ohne den Namen zu nennen: Die Uni Bonn distanziert sich von Ulrike Guérot –

    In Guérots neuem Buch heißt es, die Ukraine habe stellvertretend für den Westen den Krieg mit Russland begonnen. Nun schweigt auch ihre Universität nicht länger.“:

    https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/ukraine-krieg-ohne-den-namen-zu-nennen-die-uni-bonn-distanziert-sich-von-ulrike-guerot-li.282492

    Uni Bonn dazu: „„Die Äußerungen einzelner Wissenschaftler*innen stellen grundsätzlich keine Positionen der Universität Bonn dar. Wissenschaftler*innen genießen neben der grundrechtlich verbrieften Meinungsfreiheit auch Wissenschaftsfreiheit. Die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein Privileg, das jedoch auch mit großer Verantwortung einhergeht, dem Ansehen und dem Vertrauen gerecht zu werden, die der Wissenschaft entgegengebracht werden. Dazu gehört es, allgemeine Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu wahren und namentlich spekulative, nicht wissenschaftlich belegbare Behauptungen zu unterlassen. Verdachtsfälle auf Fehlverhalten werden im Einzelfall von den zuständigen Stellen geprüft und gegebenenfalls sanktioniert.““

    Das kann ja wohl alles nicht sein.

    1. „Das kann ja wohl alles nicht sein.“

      Leseschwäche ?

      „Wissenschaftler*innen genießen neben der grundrechtlich verbrieften Meinungsfreiheit auch Wissenschaftsfreiheit.“

      1. @Fredi

        Ich hoffe, dein Optimismus bestätigt sich.

        Aber erlaube meine Skepis bzgl. der Erklärung.

        Würde sie mit:

        „(…) Wissenschaftler*innen genießen neben der grundrechtlich verbrieften Meinungsfreiheit auch Wissenschaftsfreiheit.(…)“ enden, würde ich dir sofort Recht geben.

        Der Text geht aber an dieser Stelle erst wirklich los:

        Das lässt nichts Gutes ahnen.

        „(…) Privileg, das jedoch auch mit großer Verantwortung einhergeht, dem Ansehen und dem Vertrauen gerecht zu werden, die der Wissenschaft entgegengebracht werden(…)“
        ( = Guerot habe auch den Ruf der Uni zu berücksichtigen ggf. steht der über der indivuellen Forscherfreiheit)

        weiter:
        „(…) Dazu gehört es, allgemeine Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu wahren und namentlich spekulative (…) zu unterlassen(…)“
        ( = Guerots Behauptung, dies sei ein Stellvertreterkrieg, entspricht nicht der Wahrheit)

        Mitteilung endet, meiner Meiung nach, mit einer impliziten Drohung:

        „(…) Fehlverhalten (…) gegebenenfalls sanktioniert (…)“.
        ( = wenn die Uni es für nötig hält, muss sie das Buch zurückziehen / sich von der Aussage offiziell distanzieren / im ultimativn Fall kann Rücktritt stehen, da ja bereits die Studentenschaft Unmut geäußert zu haben scheint)

  2. Eine Gesellschaft ist keine sittliche Veranstaltung wo der eine auf den anderen verpflichtet wäre im Dienst eines Gemeinschaftswerks, sondern eine Konkurrenz um den Reichtum, jeder mit den Mitteln die er hat.
    Eine Gesellschaft ist keine Gemeinschaft (Ferdinand Tönnies).
    Sie hat Zusammenhalt nur durch Zwangsgewalt des Staates und ist längst entlang des Eigentums gespalten.
    Wenn Kaube, Schäuble, Merkel, sogar Wagenknecht oder gar die DKP* gegenteiliges behaupten lügen die.

    * https://www.unsere-zeit.de/solidaritaet-mit-wem-192559/ Manfred Sohn ist Mitglied der PdL und darf in der Hauspostille der DKP bürgerlichen Blödsinn schreiben. Noch nichtmal wo Kommunisten draufsteht sind welche drin! Ich beschwer mich!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert