Sachbücher des Monats: Dezember 2022

 

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung präsentiert von DieWelt/Neue Züricher Zeitung/RBB/ORF

Cover Orlando Figes Eine Geschichte Russlands

1. Orlando Figes: »Die Geschichte Russlands«

Verlag Klett-Cotta, 447 Seiten, € 28,00

Mitreißend, prägnant und menschlich berührend erzählt Orlando Figes die Geschichte Russlands. Dabei entfaltet er das große Panorama der russischen Seele: von unsterblichen Mythen über die großartigen kulturellen Leistungen bis zur Weltmachtpolitik des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart. Eine unerlässliche Lektüre für alle, die dieses uns noch immer fremde und rätselhafte größte Land der Erde verstehen wollen.  Souverän lässt er die Jahrhunderte der Monarchie und deren Ende Revue passieren – das Zarenreich, den Totalitarismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die Perestroika Gorbatschows bis hin zu Wladimir Putins Krieg.

Cover Andrea Wulf Fabelhafte Rebellen

2. Andrea Wulf: »Fabelhafte Rebellen – Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ichs«

C.Bertelsmann, 528 Seiten, € 30,00

Seit wann genau kreist unser Denken und Handeln um uns selbst, um unser Ich? Seit wann erwarten wir, dass wir allein über unser Leben bestimmen? Ende der 1790er Jahre – als die meisten Staaten in Europa noch im eisernen Griff absolutistischer Herrscher waren – galt die Idee vom freien Individuum als brandgefährlich. Und doch wagte zu dieser Zeit eine Gruppe von Denkern in der kleinen Universitätsstadt Jena, das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schreibens und Lebens zu stellen.

Cover Wolgang Kraushaar - Keine falsche Toleranz

3. Wolfgang Kraushaar: »Keine falsche Toleranz!«

Europäische Verlagsanstalt, 602 Seiten, € 34,00

Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg. Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen. Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten.

Cover Philipp Blom -Die Unterwerfung

4. Philipp Blom: »Die Unterwerfung – Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur«

Carl Hanser Verlag, 368 Seiten, 28,00€

»Macht euch die Erde untertan«: Vor rund 3000 Jahren legte der Autor der Genesis seinem Schöpfer diesen Satz in den Mund. Damit war die Idee geboren, dass der Mensch eine Sonderstellung auf der Erde einnimmt und deren Ressourcen rücksichtslos ausbeuten darf. Sie war so stark, dass sie sich über den ganzen Planeten verbreitete. Wer sich ihr widersetzte, bekam es mit Kolonisatoren und Geschäftemachern zu tun, die sich auf angeblich höhere Werte beriefen.

Cover Ian Kershaw - Der Mensch und die Macht

5. Ian Kershaw: »Der Mensch und die Macht – Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert«

Deutsche Verlagsanstalt,  589 Seiten, 36,00 €

Wie groß ist der Einfluss Einzelner auf den Lauf der Geschichte? Bestsellerautor Ian Kershaw über die prägendsten politischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, De Gaulle, Adenauer, Franco, Tito, Thatcher, Gorbatschow und Kohl. Der englische Historiker Ian Kershaw ist einer der besten Kenner und klügsten Erklärer der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In seinem neuen Buch betrachtet er diese unter dem Aspekt mächtiger Menschen und ihres Einflusses: Wie weit haben Politiker mit ihren Entscheidungen den turbulenten Lauf der Geschichte bestimmt? Wie weit wurden sie von den Umständen getrieben? Welche sind die Voraussetzungen für die Erlangung von Macht und welche Eigenschaften bringen politische Anführer mit?

Cover Marlen Hobrack - Klassenbeste

6. Marlen Hobrack: »Klassenbeste – Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet«

Verlag Hanser Berlin , 224 Seiten, 22,00€

Die Wäschekörbe waren immer voll – nicht mit Wäsche, sondern mit unbezahlten Rechnungen, die ihre Mutter trotz harter Arbeit nicht pünktlich bezahlen konnte. Wenn Marlen Hobrack an ihre Kindheit in Armut in einem bildungsfernen Haushalt denkt, stellt sie immer wieder fest, wie wenig ihr Aufwachsen mit den Herkunftserzählungen der Mittelschicht gemeinsam hat, zu der sie als erfolgreiche Journalistin zählt. Aber gehört sie als Grenzgängerin zwischen den Klassen wirklich dazu? Als alleinerziehende Ostdeutsche, die mit 19 Mutter wurde?

7. Nobert Miller: »Die künstlichen Paradiese – Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge«

Wallstein , 887 Seiten, 48,00€

Von den Kuriositäten-Reportagen eines Restif de la Bretonne bis zu Eduard Mörikes Kinderfantasie eines fernen Inselreichs, von Samuel Taylor Coleridges lyrischen Balladen hin zu Jean Pauls erschriebenem Leben, von Thomas de Quinceys Niederschrift seiner Bekenntnisse eines Opiumessers über E.A. Poes kalkulierten Schreibprozess bis zu Charles Baudelaires zugleich deskriptiven und die Beschreibung überschreitenden Rauschmittel-Berichten – für tausendundeine Nacht schlägt das Erzählen die Zuhörenden und nach ihnen die Lesenden in seinen Bann und begründet eine ganze Literatur, die sich ihre Stoffe aus Reportage und Arabeske, aus Fantasie und Traum holt, bis hin zu den Halluzinationen unter »bewusstseinserweiternden« Substanzen wie Opium und Haschisch – Kopfkino beim Zuhören und Lesen.

8. Maggie Haberman: »Täuschung – Der Aufstieg Donald Trumps und der Untergang Amerikas«

Siedler Verlag, 832 Seiten, 36,00€

Sie ist Donald Trumps erklärte Lieblingsfeindin unter den Journalisten, niemand hat die Berichterstattung über den Präsidenten stärker geprägt als sie: Maggie Haberman erhielt für ihre Reportagen den Pulitzer-Preis und hat das Phänomen Trump ergründet wie kein anderer. Er selbst nennt sie »meine Psychiaterin«. Als Boulevardreporterin der New York Post und spätere Korrespondentin der New York Times hat sie über mehr als zwanzig Jahre den Weg des Selfmade-Millionärs von New York ins Weiße Haus aus der Nähe verfolgt.

9. NorbertMappes-Niediek: »Krieg in Europa – Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent«

rowohlt Berlin, 399 Seiten, € 32,00

Norbert Mappes-Niediek, langjähriger Südosteuropa-Korrespondent, führt in seiner großen erzählerischen Gesamtdarstellung mitten hinein in dieses dunkle Kapitel der jüngsten europäischen Geschichte: angefangen mit den ersten Panzern in Slowenien und dem Schock darüber, dass im vermeintlich friedlichen Europa plötzlich wieder Krieg ausbricht, bis hin zum UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Er zeichnet die Bruchstellen des gescheiterten Vielvölkerstaats nach, nimmt das unfassbare Massaker im bosnischen Srebrenica in den Blick, fragt nach Interessen und Strategien der Kriegsparteien, aber auch nach der Verantwortung der ausländischen Mächte – und macht so die weltpolitische Tragweite des Konflikts deutlich.

10. Chelsea Manning: »README.txt – Meine Geschichte«

Harper Collins, 336 Seiten, € 22,00

Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters

Besondere Empfehlung des Monats des November von Prof. Dr. Hermann Parzinger (Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz):

Sudhir Hazareesingh : »Black Spartacus – Das große Leben des Toussaint Louverture«

C.H. Beck, 336 Seiten, € 34,95

In einer Zeit, in der Begriffe wie „Dekolonisierung“ und Bewegungen wie „Black Lives Matter“ uns Europäer und insbesondere auch uns Deutsche mit unserer – lange verdrängten, weil marginalisierten – Verantwortung für unsere koloniale Vergangenheit konfrontieren, ist diese faszinierende Biografie von Toussaint Louverture ein wahrer Hochgenuss. Der „schwarze Spartacus“ war trotz seines elenden Endes in einem französischen Kerker ein herausragender Gestalter der beginnenden Moderne in der Karibik. Als Heerführer aus Notwendigkeit und Politiker aus Überzeugung kämpfte er mit allen Mitteln der Diplomatie, Intrige und Gewalt nur für ein Ziel: die Befreiung der versklavten Schwarzen in Haiti. Das Leben des Toussaint Louverture gibt den Errungenschaften der Aufklärung eine globale Dimension, unterstreicht deren Gültigkeit für alle Menschen und führt eindringlich vor Augen, dass die Ideen der Aufklärung nur dann Sinn machen, wenn sie nicht nur für weiße Europäer gelten. Nach diesem Buch blickt man anders auf die frühe Geschichte der antikolonialen Befreiung! (Hermann Parzinger)


Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Knud von Harbou, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Uni Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Ma-rianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Gerlinde Pölsler, Der Falter, Wien; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, krass-und-konkret, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

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6 Kommentare

  1. Mal davon abgesehen, daß „Fabelhafte Rebellen – …“ für mich tatsächlich interessant ist, bin ich gerade irritiert, daß hier die Bestenliste von Die Welt / NZZ / RBB … erscheint. Und wie unter „Ähnliche Beiträge:“ zu sehen ist, nicht erstmalig, aber auch nicht regelmäßig. Irgendwie fehlt mir die Erklärung, was an dieser Bestenliste so interessant ist im Verhältnis zu früheren, daß sie wert ist, hier veröffentlicht zu werden. Die meisten Buchempfehlungen haben m.E. wenig mit dem sonstigen Inhalt des Overton-Magazins zu tun. Da finde ich gelegentliche Buchbesprechungen einzelner Bücher, deren Inhalt direkt mit dieser Webseite korrelieren, deutlich interessanter :)))

    1. Diese Buchliste gab es immer schon als Florian Rötzer noch Chefredakteur von Telepolis war.
      Einer der Gründe warum sie hier auch veröffentlicht wird, liegt wohl schlicht darin, dass Rötzer auch Mitglied der Jury ist!

  2. Norbert Mattes Miedieck:
    „… und dem Schock darüber, dass im vermeintlich friedlichen Europa plötzlich wieder Krieg ausbricht“.

    Wolfgang Kraushaar:
    „Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg“

    „Plötzlich“ kommt dieser Krieg, auf den die USA lange hingewirkt hat, nur für politisch unbedarfte und naive Zeitgenossen.
    Diese darf man dann auch zur „Wehrhaftigkeit“ aufrufen. Unter „menschenverachtend“ geht eh nix mehr.
    Wem’s gefällt…

    Vlt. wird ja auch bald Ernst Jünger wieder ausgegraben.

    1. Hallo lieber Chefkoch 01

      Ernst Jünger in der Waldgänger,

      „Daß ein solcher Waldgänger tatsächlich Widerstand leisten muss, ist die Ausnahme. Für den Normalfall geht Jünger davon aus: Im allgemeinen bilden die Institutionen und die mit ihnen verknüpften Vorschriften gangbaren Boden; es liegt in der Luft, was Recht und Sitte ist. Natürlich gibt es Verstöße, aber es gibt auch Gerichte und Polizei. Allerdings muss dieser „Waldgänger“ von vornherein mit der Möglichkeit rechnen und darauf vorbereitet sein, dass sich das ändert und er irgendwann einem verbrecherischen System gegenübersteht: Man kann sich jedoch nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird“

      https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Waldgang

      Und daß auch noch; der deutsche Dichter Ernst Jünger und sein „LSD-Bruder, der Schweizer Chemiker Albert Hofmann, schmissen zur Erweiterung des Bewusstseins psylocybinhaltigen Pilze!

      Vielleicht brauchen „Wir“ mehr solcher reflektierten Hundertjährigen Indianer! ?

    2. Wer Dr. Daniele Ganser aufmerksam zuhört, der weiß, dass dieser Krieg nicht ‚plötzlich vom Himmel gefallen‘ ist.
      Der von den USA inszenierte Putsch 2014 hat maßgeblich dazu beigetragen, das gebrochene Versprechen die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen ab der Wiedervereinigung 1990 gegenüber Gorbatschow, ebenso.
      Ich kann dieses Mainstream Mantra nicht mehr hören.

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