Nach Recht und Gesetz des Islam

Kleine Fahnen Saudi-Arabiens auf verschwommenem Hintergrund
Mini Onion/Shutterstock.com

Wo Hinrichtungen die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten sollen.

Hinter die Kulissen zu schauen und neben den Dramen auch die Verschiedenheit und Schönheit des Orients zu entdecken – das war das Interesse des 2021 verstorbenen Nahost-Korrespondenten Martin Gehlen. Seine Reportagen und Geschichten spiegeln dabei eine große Offenheit gegenüber der Vielfalt der Kulturen und Liebe zu den Menschen wider. Das Buch „Es war einmal ein Garten Eden“ versammelt ausgewählte Reportagen von Martin Gehlen und Bilddokumente seiner Frau, der Fotografin Katharina Eglau. Angesichts der andauernden Machtkämpfe und Kriege zwischen den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens tragen die Artikel und Essays auch heute noch zum Verständnis der aktuellen Situation bei. Ein Auszug.

Ein heißer Windstoß fegt über den Al-Safah-Platz, treibt leise schmirgelnd einen leeren Pappkarton vor sich her. Versteinert steht die etwa tausendköpfige Menge hinter den Absperrgittern und verfolgt mit den Augen die beiden großen, schlanken Gestalten in weißen Gewändern, wie sie zur Mitte des Platzes schreiten. Hüfthohe, silbrige Krummsäbel blitzen in ihren Händen. Die Augen sind hinter Sonnenbrillen verborgen, Mund und Nase verhüllt, der Kopf mit dem üblichen Kufiya-Tuch bedeckt.

Langsam rollt der grau-blaue Kleintransporter rückwärts heran, die hintere Ladetür wird geöffnet. Auf den grauen Steinplatten, wo bis zum Mittag noch Jungen lärmend Fußball spielten und Springfontänen plätscherten, sind zwei Areale mit rötlichen Decken ausgelegt. Auf den umliegenden Dächern recken sich Scharfschützen, an den Ecken des Platzes liegen Lautsprecher aus für die beiden Todesurteile des Tages.

Es ist kurz vor 16 Uhr an diesem Freitag. Das Nachmittagsgebet nebenan in der Moschee von Riad ist gerade zu Ende, als Saudi-Arabiens blinder Großmufti Abdul Aziz al Sheikh in Sichtweite des Hinrichtungsortes im schwarzen Geländewagen vorfährt. Von seinen Begleitern untergehakt, wird der 71-Jährige durch das Haupttor ins Innere des prächtigen Gotteshauses geleitet, wo er – wie jeden Freitag – frisch bekehrten Muslimen den wahren Islam unterrichtet.

60 Menschen hat Saudi-Arabien in diesem Jahr bereits öffentlich mit dem Schwert hingerichtet

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Draußen stützen Helfer derweil die beiden Todeskandidaten bei ihren letzten Schritten auf Erden. Deren Hände sind auf den Rücken gefesselt, über die Gesichter breite, graue Tücher geknotet. Einen Moment mustert der Henker konzentriert sein flach knien-des Opfer, drückt mit dem linken Zeigefinger den frei gelegten Hals noch ein wenig nach unten.

Dann saust das Krummschwert herab – der Kopf fällt auf das Deckenlager, eine runde Blutfontäne spritzt aus dem Rumpf. Hastig werden über die blechernen Lautsprecher Name und Taten des Hingerichteten heruntergeleiert, während der Scharfrichter bedächtig seine Klinge mit einem weißen Tuch abwischt. Der geköpfte Saudi Abdullah al Qassim soll einen Mann erdrosselt, der Minuten später exekutierte Jemenit Khadr al Tahiri sein Opfer mit Säure übergossen und zu Tode geätzt haben.

60 Menschen hat Saudi-Arabien in diesem Jahr bereits öffentlich mit dem Schwert hingerichtet, allein im August waren es 23, im vergangenen Jahr und 2012 jeweils 79. Immer wieder appellieren die Vereinten Nationen mit scharfen Worten an das erzkonservative Königreich, diese brutale Praxis zu beenden, die auf der Welt sonst nur die Barbaren vom »Islamischen Staat« (IS) praktizieren. »Trotz zahlreicher Aufrufe von Menschenrechtsorganisationen fährt Saudi-Arabien in widerlicher Regelmäßigkeit mit seinen Exekutionen fort und verstößt damit in schamloser Weise gegen internationale Rechtsstandards«, kritisiert Christof Heyns, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für außergerichtliche, wahllose und willkürliche Hinrichtungen. Human Rights Watch spricht von »einem weiteren dunklen Makel in der Menschenrechtsbilanz des Königreichs«.

Mord, Vergewaltigung, Hochverrat, schwerer Raub, aber auch Drogenhandel und sogar Hexerei können in dem ultraorthodoxen Gottesstaat mit dem Tode bestraft werden. Eine Woche später wird auf demselben Al-Safah-Platz in Riad ein Saudi öffentlich enthauptet, »weil er eine große Menge an Haschisch und Amphetaminen ins Land schmuggeln wollte«, wie das Innenministerium mitteilte. Für Amnesty International erfüllen saudische Strafprozesse nicht die Mindeststandards eines fairen Verfahrens. Angeklagten werden Strafverteidiger verweigert, Geständnisse durch Folter erpresst und die Beschuldigten dann einzig aufgrund dieser Geständnisse zum Tode verurteilt.

Nach Scharia-Recht kann die Familie des Opfers den zum Tode Verurteilten begnadigen

Die Zuschauer auf dem Al-Safah-Platz haben für diese Bedenken kein Verständnis, die sie als typisch westliche Bevormundung empfinden. »Leute wissen, wo sie bei uns dran sind. Sie bekommen ihre gerechte Strafe – das dient der Sicherheit unseres Lan-des«, sagt ein fülliger Saudi in traditioneller Kleidung. Ein älterer Herr mit schütterem Haar und abgewetztem Trainingsanzug gesellt sich dazu. »Ich bin undercover hier«, kokettiert der 66-Jährige in makellosem Englisch. Seinen Vornamen gibt er mit Aziz an und stellt sich als pensionierter Geheimdienst-General vor. 42 Jahre lang war er Agent, spezialisiert auf das Entschärfen von Bomben, wie er sagt. In den achtziger Jahren als junger Leutnant habe er saudische Geldkoffer eigenhändig nach Afghanistan zu Osama bin Laden und dessen Gefolgsleuten gebracht. »Ich habe alle Terroristen gekannt«, brüstet er sich. Damals im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer züchteten die Saudis die erste Generation arabischer Gotteskrieger heran. Drei Jahrzehnte später steht das superreiche Königreich nun selbst im Visier der Ex­tremisten – und fliegt Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten Luftangriffe gegen die blutrünstigen Fanatiker des »Islamischen Staates«.

Parallelen zwischen der offiziell lizensierten Strafpraxis der saudischen Monarchie und ihren Nachahmern vom IS, die bisher vier westlichen Geiseln vor laufender Kamera die Köpfe abschnitten, wollen Geheimdienstveteran Aziz und andere Umstehende nicht gelten lassen. »Was der IS macht, sind Verbrechen, was wir tun, geschieht nach Recht und Gesetz des Islam«, deklamieren sie. Außerdem seien Enthauptungen humaner und weniger qualvoll als der elektrische Stuhl.

Nach Scharia-Recht kann die Familie des Opfers den zum Tode Verurteilten im letzten Moment begnadigen. Dann wird ein Blutgeld fällig, der Tarif für Mord liegt in Saudi-Arabien gegenwärtig bei 60.000 Euro. Nach der Exekution wirkt der pensionierte Geheimdienst-General Aziz erleichtert und zufrieden, steckt sich eine Zigarette an und spendiert den ausländischen Besuchern Dosen-Cola aus dem Imbiss. Ob es ihnen gefallen habe und ob sie wiederkommen werden, will er wissen. »Wir hätten allen IS-Leuten sofort die Köpfe abschlagen sollen, wie diesen Mördern, dann hätten wir dieses Problem heute nicht«, deklamiert er in die Runde.

Am Hinrichtungsort steht inzwischen der weiße Tankwagen, der die ganze Zeit hinter den Zuschauern im Vorhof der Moschee gewartet hatte. Pakistanische Gastarbeiter schrubben die Steine, einige Saudis in weißen Gewändern schauen zu. Mit einem dicken Schlauch wird das Blut in den speziellen Abfluss in der Platzmitte gespült. Und dann sind die jungen Fußballer vom Mittag wieder da.

Oktober 2014

Martin Gehlen

Seit 2008 berichtete Martin Gehlen als Nahost-Korrespondent für zahlreiche Zeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zunächst lebte er neun Jahre in Kairo, der 20-Millionen-Metropole am Nil. Im Sommer 2017 zog er um nach Tunis, von wo aus er 22 Staaten der arabischen Welt bereiste. Er wurde am 10. Oktober 1956 in Düsseldorf geboren, hat Biologie, katholische Theologie und Nordamerikawissenschaften studiert, sich in Studienaufenthalten an der Harvard Universität, der Hebräischen Universität Jerusalem und bei Science Po in Paris intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt. Am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt promovierte er bei Hans Joas in Politikwissenschaften über den Einfluss von privaten Think Tanks auf die amerikanische Sozialpolitik. Nach einem Volontariat bei der Deutschen Journalistenschule München arbeitete er zunächst als Politik-Redakteur bei der Südwest Presse in Ulm, kurz nach dem Fall der Mauer wechselte er zum Tagesspiegel nach Berlin, 2012 kehrte er zur Südwest Presse zurück. Am 6. Februar 2021 ist er überraschend in seinem Arbeits- und Lebensort Tunis verstorben. Er war verheiratet mit der Fotografin Katharina Eglau.
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12 Kommentare

  1. „Immer wieder appellieren die Vereinten Nationen mit scharfen Worten an das erzkonservative Königreich, diese brutale Praxis zu beenden, die auf der Welt sonst nur die Barbaren vom »Islamischen Staat« (IS) praktizieren. »Trotz zahlreicher Aufrufe von Menschenrechtsorganisationen fährt Saudi-Arabien in widerlicher Regelmäßigkeit mit seinen Exekutionen fort und verstößt damit in schamloser Weise gegen internationale Rechtsstandards«, kritisiert Christof Heyns, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für außergerichtliche, wahllose und willkürliche Hinrichtungen. Human Rights Watch spricht von »einem weiteren dunklen Makel in der Menschenrechtsbilanz des Königreichs«.“

    „Für Amnesty International erfüllen saudische Strafprozesse nicht die Mindeststandards eines fairen Verfahrens. Angeklagten werden Strafverteidiger verweigert, Geständnisse durch Folter erpresst und die Beschuldigten dann einzig aufgrund dieser Geständnisse zum Tode verurteilt.“

    tja…erzähl das mal den Drohnenopfern der USA, die bei Hochzeiten und ähnlichem gleich scharenweise – ganz ohne irgendwelche Gerichtsverfahren wohlgemerkt, zerfetzt wurden. Frauen, Kinder, Greise….Tausende wurden nur unter Obama genau so: außergerichtlich, wahllos und willkürlich hingerichtet.
    Dieses Gemetzel, geführt mit Drohnen, nahm ab 2014 unter Präsident Obama richtig an Fahrt auf. Allein in den folgenden fünf Jahren flogen die USA mehr als 50’000 Luftangriffe.

    1. Wir werden die Todesstrafe noch brauchen.
      So viele Gefängnisse können wir gar nicht bauen, die es braucht diese Verbrecher alle unschädlich zu machen.
      War jemand von euch mal dort?
      Ich war in den 80ern mal in Riad.
      die haben sowas von einen an der Waffel…

    2. Brave-KI:


      Unter Donald Trump wurde das US-Drohnenprogramm, das unter Barack Obama erheblich ausgebaut wurde, weiter intensiviert. In den ersten beiden Amtsjahren von Trump wurden bereits mehr Drohnenangriffe (2243 Einsätze) durchgeführt als während Obamas gesamter Amtszeit von acht Jahren. Die Zahl der zivilen Opfer stieg erheblich, wobei allein in den ersten sieben Monaten der Trump-Regierung in Irak und Syrien mindestens 2.800 Zivilisten durch Drohnen getötet wurden, im Vergleich zu mindestens 2.300 Zivilisten in den letzten zwei Jahren der Obama-Administration. Trump verbot 2019 zudem der US-Militär und CIA, die Opferzahlen von Luftschlägen zu veröffentlichen, was die Transparenz weiter einschränkte.

      Obama-Ära:
      Das Drohnenprogramm wurde unter Obama deutlich ausgeweitet, wobei 542 bekannte Drohnenangriffe durchgeführt wurden, bei denen 3797 Menschen ums Leben kamen, darunter 324 Zivilisten.

      Obama begann 2013 mit der Veröffentlichung von Zahlen zu zivilen Opfern, die er kurz vor Ende seiner Amtszeit vorgeschrieben hatte.

      Trump-Ära:
      Trump setzte die Politik Obamas konsequent fort und intensivierte sie weiter. In den ersten 45 Tagen seiner Amtszeit stieg die Zahl der Drohnenangriffe um 432 Prozent.
      Er überließ die Entscheidung über solche Operationen nun seinen Generälen und erlaubte auch Angriffe auf „Fußsoldaten“ von Terrororganisationen, nicht nur auf hochrangige Führer. Die Zahl der zivilen Opfer wurde durch die verbotene Veröffentlichung der Zahlen weiter verborgen.

      Vergleich: Während Obama die Transparenz in der Drohnenpolitik erhöhte, sank sie unter Trump erheblich. Die Anzahl der Angriffe stieg deutlich an, und die Zahl der zivilen Opfer wurde systematisch verheimlicht.

      Nicht, dass hier noch ein falscher Eindruck entsteht… gelle.

      1. Nein, da sollte auch kein falscher Eindruck entstehen, nur hat Obama diese Hinrichtungen forciert und Trump steht dem in nichts nach.
        Mir ging es lediglich darum, die perfide Heuchelei aufzuzeigen, wenn es um Hinrichtungen geht.

  2. Fast in allen arabischen Staaten und auch im Iran gibt es Hinrichtungen, die Methode des Kopfabschneidens ist z B bei den Saudis bliebt, im Iran ist es der Strick, andere wiederum toeten durch Knickschuss, das kann man im Westen kritisieren, es ist aber keine arabische Besonderheit, es ist naemlich noch gar nicht so lange her, da verlor in Frankreich der Moerder Hamida Djandoubi  am 10.9. 1977 seinen Kopf durch die Guillotine.
    Soll keine Relativierung sein, ich finde Hinrichtungen generell scheusslich, ob nun in Saudi-Arabien oder in den USA!

    1. In Indien gibt es auch noch die Prügelstrafe mit dem Rohrstock, hab ich selbst auf einem Polizeirevier in Mumbai erlebt.
      In den Staaten leeren die Cops mittlerweile ihre 9 Millimeter Magazine, wenn Jemand bei einer Fahrzeugkontrolle nicht anhalten mag.
      Und bei uns, ist Müll auch nur ein Gegenstand, hab ich auf dem Sozialamt entgegnet bekommen, da muss man mit Leben. 😉

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