Ferdinand Lassalle, die Arbeiterbewegung und der Idealismus  

Ferdinand Lasalle
Bundesarchiv, gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Eine Erinnerung an die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) am 23. Mai 1863.

Lassalle, Ferdinand, 1825–1864, Gründer der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland und Schriftsteller. Lassalle – in Berlin als Student das „Wunderkind“ genannt – nahm aktiv an der Revolution 1848 teil und war stark von Hegel, Marx und Karl Rodbertus beeinflusst, wich aber in einigen Punkten von diesen ab. Die wichtigste Abweichung von Marx war, dass er ein evolutionäres Konzept für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus entwickelte. Lassalle formulierte das eherne Lohngesetz.“[1]

Ferdinand Lassalle, (born April 11, 1825, Breslau, Prussia [now Wrocław, Pol.]—died Aug. 31, 1864, near Geneva, Switz.), leading spokesman for German socialism, a disciple of Karl Marx (from 1848), and one of the founders of the German labour movement.”[2]

Ferdinand Lassalle (né le 11 avril 1825 à Breslau, (Wrocław), mort le 31 août 1864 à Carouge (près de Genève) est un homme politique allemand d’origine juive, théoricien socialiste et écrivain.“[3]

Lassalle ist bis heute eine faszinierende historische Figur innerhalb der demokratischen, sozialen Arbeiterbewegung im bürgerlichen Deutschland des 19. Jahrhunderts. Auch als Literat[4] und für Literaten[5]. Das erkannten schon Lassalles Zeitgenossen Friedrich Engels (1820-1895) und Karl Marx (1818-1883). Für sie bildete die Auseinandersetzung mit Lassalle einen der Hauptpunkte der Kritik am Gothaer Programm (1875): “Zum ersten Mal wird hier die Stellung von Marx zu der von Lassalle seit dessen Eintritt in die Agitation eingeschlagenen Richtung klar und fest dargelegt, und zwar sowohl was die ökonomischen Prinzipien wie die Taktik Lassalles betrifft.“[6]

Lassalle stand während seiner gesamten Tätigkeit im ADAV in Verbindung mit dem (seit 1862 amtierenden) Ministerpräsidenten von Preußen, von Bismarck. Mit diesem hatte Lassalle vier längere Unterredungen.

Gute Bekannte: Marx und Engels

Als Schattenseite Lassalles stellte Marx Lassalles „Staatssozialismus“ und seine „Sektenstiftung“ dar:

“D´abord, was den Lassalleschen Verein betrifft, so war er gestiftet in einer Zeit der Reaktion. Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle – und dies bleibt sein unsterblicher Verdienst – die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland. Aber er beging große Fehler. Er ließ sich zu sehr durch die unmittelbaren Zeitumstände beherrschen. Er machte den kleinen Ausgangspunkt – seinen Gegensatz gegen einen Zwerg wie [Hermann] Schulze-Delitzsch – zum Zentralpunkt seiner Agitations-Staatshilfe gegen Selbsthilfe. Er nahm damit nur die Parole wieder auf, die [Philippe] Buchez, der Chef des katholischen Sozialismus, 1843 sqq., gegen die wirkliche Arbeiterbewegung ausgegeben hatte. Viel zu intelligent, um diese Parole für etwas andres als ein transitorisches pis-aller [vorübergehenden Notbehelf] zu halten, konnte er sie nur durch ihre unmittelbare (angebliche) practicability rechtfertigen. Zu diesem Behuf mußte er ihre Ausführbarkeit für die nächste Zeit behaupten. Der “Staat” verwandelte sich daher in den preußischen Staat. So wurde er zu Konzessionen an das preußische Königtum, die preußische Reaktion (Feudalpartei) und selbst die Klerikalen gezwungen […] Er gab ferner von vorneherein […] seiner Agitation einen religiösen Sektencharakter […] Er verleugnete ferner, eben weil Sektenstifter, allen natürlichen Zusammenhang mit der frühern Bewegung in Deutschland wie im Ausland. […]“[7]

Diese und weitere Kritik, die von Marx und Engels an Lassalle formuliert wurde – beide kannten Lassalle persönlich, standen zu unterschiedlichen Zeiten in regem Briefwechsel mit ihm und besuchten ihn auch – veranschaulicht, warum Lassalle bis heute von Sozialdemokraten geschichtlich, politisch und ideologisch typischerweise zur Rechtfertigung staatsinterventionistischer Interessenpolitik bemüht wird.

Ich entwickle nun den Unterschied in der sittlichen Idee der Bourgeoisie und der sittlichen Idee des Arbeiterstandes und ferner den sich hieraus wieder ergebenden Unterschied in der Auffassung des Staatszweckes in beiden Klassen. Wenn die Adelsidee die Geltung des Individuums an eine bestimmte natürliche Abstammung und gesellschaftliche Lage band, so ist es die sittliche Idee der Bourgeoisie, daß jede solche rechtliche Beschränkung eine Unrecht sei, das Individuum vielmehr gelten müsse rein als solches, und ihm nichts anderes als die ungehinderte Selbstbethätigung seiner Kräfte als Einzelner zu garantiren sei. Wären wir nun, sage ich, alle von Natur gleich reich,gleich gescheidt, gleich gebildet, so möchte diese sittliche Idee eine ausreichende sein. Da aber diese Gleichheit nicht stattfinde, noch stattfinden könne, da wir nicht als Individuen schlechtweg, sondern mit bestimmten Unterschieden des Besitzes und der Anlagen in die Welt treten, die dann auch wieder entscheidend werden über die Unterschiede der Bildung, so sei diese sittliche Idee noch keine ausreichende. Denn wäre nun dennoch in der Gesellschaft nichts zu garantiren als die ungehinderte Selbstbethätigung des Individuums, so müsse das in seinen Konsequenzen zu einer Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren führen. Die sittliche Idee des Arbeiterstandes sei daher die, daß die ungehinderte freie Bethätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum für sich allein noch nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit in der Entwicklung. […]

Die Geschichte sei ein Kampf mit der Natur, mit dem Elend, der Unwissenheit, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns im Naturstande, am Anfang der Geschichte, befinden. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit, das sei die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstelle. In diesem Kampfe würden wir niemals einen Schritt vorwärts gemacht haben oder jemals weiter machen, wenn wir ihn als Einzelne, jeder für sich, jeder allein geführt hätten oder führen wollten. Der Staat sei nun gerade diese Einheit und Verbindung der Individuen zu einem sittlichen Ganzen, welche die Funktion habe, diesen Kampf zu führen, eine Vereinigung, welche die Kräfte aller Einzelnen, die in sie eingeschlossen sind, millionenfach vermehrt, die Kräfte, welche ihnen allen als Einzelnen zu gebote stehen würden, millionenfach vervielfältigt. […] Der Zweck des Staats könne vielmehr kein anderer sein, als das zu vollbringen, was von Haus aus schon seine natürliche Funktion sei, also formell ausgesprochen: durch die Staatsvereinigung die Einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke und eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als Einzelne niemals erreichen könnten.“[8]

Der Staat muss gezwungen werden

Als philosophischer Idealist stand Lassalle Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel näher als der historischen Geschichtstheorie von Marx. Er sah (wie Fichte) Geschichte als eine Entwicklung zur Freiheit des Menschengeschlechts: “Der Zweck des Erdenleben der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit der Freiheit nach der Vernunft ausrichte.”[9]

Diese Befreiung des Menschengeschlechts verkörpert nach Lassalle allein die Arbeiterklasse: “Dieser vierte Stand, in dessen Herzfalten daher kein Keim einer neuen Bevorrechtigung mehr enthalten ist, ist eben deshalb gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller.”[10]

Allerdings modifiziert Lassalle Fichte in zweierlei Hinsicht: zum einen, indem er Fichtes Volksbegriff mit dem der Arbeiter gleichsetzte; zum anderen, indem er Fichtes eigene Relativierung, nämlich dass dort, wo es noch nicht zur Selbstverwirklichung des Volkes gekommen sei, der Staat als “Zwangsstaat” auftreten solle und dürfe, um ”die Erziehung aller zur Einsicht vom Rechte” die Selbstverwirklichung des Volkes durchzusetzen und sich selbst überflüssig zu machen[10], aufhebt und dies zum allgemeinen sittlichen Zweck des Staates verabsolutiert: “Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, d.h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit.”[12]

Doch der Staat unternimmt seine sittliche Pflicht nicht von sich selbst heraus: er muss dazu gezwungen werden. Deshalb müssen die Arbeiter über das zu erkämpfende allgemeine Wahlrecht Einfluss auf das Parlament und somit den Staat erlangen und ihn zwingen, das allgemeine Wohl des Arbeiterstandes durchzusetzen. (Die Voraussetzung dazu sah Lassalle in den Arbeiterassoziationen.) Lassalle forderte Staatsinterventionismus zugunsten und zum Wohl der arbeitenden Klassen. In diesem Sinn polemisierte er gegen seine bürgerlichen Kritiker: “Aber freilich, j e n e Intervention des Staates fand im Interesse der reichen und begüterten Klassen der Gesellschaft statt, und da ist sie freilich ganz zulässig und immer zulässig gewesen! Nur allemal, wenn es sich um eine Intervention zugunsten der Not leidenden Klassen, zugunsten der unendlichen Mehrheit handelt – dann ist sie reiner Sozialismus und Kommunismus!”[13]

Dagegen unterschätzte Lassalle – wie alle vergangenen und gegenwärtigen scheinradikalen Kräfte mit ihren “Alles oder Nichts“-Forderungen – einerseits die Bedeutung demokratischer Massenkämpfe und verkannte andererseits die strategische Bedeutung politischer Bündnisse: er rannte frontal gegen die Bourgeoisie an oder glaubte, sie wie die gesamte politische Reaktion “überlisten” zu können (etwa durch seine Unterredungen mit v. Bismarck).

Lassalles persönliches Handeln und sein politisches Wirken waren in der politischen Hauptorientierung gegen die Herrschaft der bürgerlichen Klasse gerichtet. Auch wenn Lassalle in wichtigen politischen Fragen idealistische Vorstellungen in die deutsche Arbeiterbewegung einbrachte: in der konkret-historischen Form unterstützte und förderte er die organisierte Arbeiterschaft und trat für die Erhaltung und Ausweitung des politischen Einflusses der Arbeiterklasse ein.

Fußnoten:

[1] http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/lassalle.html

[2] http://www.britannica.com/EBchecked/topic/331018/Ferdinand-Lassalle

[3] http://fr.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Lassalle

[4] Wilma Ruth Albrecht: Die „Sickingen-Debatte“; in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 10
(2011) I: 156-165

[5] Stefan Heym: Uncertain Friend [1968]; dt. Ausgabe udT. Lassalle. Roman. München ²1985

[6] Friedrich Engels: Vorwort zu Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms [1875]. In: Marx-Engels-Werke [= MEW], Band 22, Berlin 1963: 90/91

[7] Karl Marx an Johann Baptist von Schweitzer in Berlin (Entwurf) 13. Oktober 1868. In: MEW 32, Berlin 1965: 568-571 [Ergänzungen in dieser Klammer WRA]

[8] Die Wissenschaft und die Arbeiter. Eine Vertheidigungsrede vor dem Berliner Kriminalgericht gegen die Anklage die besitzlosen Klassen zum Haß und zur Verachtung gegen die Besitzenden öffentlich angereizt zu haben. Von Ferdinand Lassalle [am 16. Januar 1863]
http://web.archive.org/web/20070708041207/http://de.geocities.com/veblenite/txt/wiss_arb.htm

[9] J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05); „Die Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur, mit dem Elend, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht im Auftrag der Geschichte auftrat. Die fortschreitende B e s i e g u n g dieser Machtlosigkeit – das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt.“ (Ferdinand Lassalle: „Arbeiterprogramm“; zit. nach ders.: Reden und Schriften. Mit einer Lassalle-Chronik. Hg. Friedrich Jenaczek. München 1970: 56)

[10] Lassalle, „Arbeiterprogramm“, ebda. 49

[11] Ferdinand Lassalle: Fichtes politisches Vermächtnis und die neuste Gegenwart (1860). In: ders.: Gesamtwerke. Hg. E. Blum. Band 3: Ferdinand Lassalles politische Reden und Schriften. Leipzig o. J.: 252-280

[12] Lassalle, „Arbeiterprogramm“; Jenaczek: 57

[13] Lasalle, „Arbeitermanifest“; Jenaczek: 191

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16 Kommentare

  1. „Die wichtigste Abweichung von Marx war, dass er ein evolutionäres Konzept für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus entwickelte.“

    Hat ja gut geklappt !

    1. III. Das Manifest der drei Züricher

      Inzwischen ist uns das Höchbergsche „Jahrbuch“ zugekommen und enthält einen Artikel: „Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland“, der, wie Höchberg selbst mir gesagt, verfaßt ist grade von den drei Mitgliedern der Züricher Kommission. Hier haben wir ihre authentische Kritik der bisherigen Bewegung und damit ihr authentisches Programm für die Haltung des neuen Organs, soweit diese von ihnen abhängt.

      Gleich von vornherein heißt es:

      „Die Bewegung, welche Lassalle als eine eminent politische ansah, zu welcher er nicht nur die Arbeiter, sondern alle ehrlichen Demokraten aufrief, an deren Spitze die unabhängigen Vertreter der Wissenschaft und alle von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer marschieren sollten, verflachte sich unter dem Präsidium J. B. v. Schweitzers zu einem einseitigen Interessenkampf der Iindustriearbeiter.“

      Ich untersuche nicht, ob und wieweit dies geschichtlich sich so verhält. Der spezielle Vorwurf, der Schweitzer hier gemacht wird, besteht darin, daß Schweitzer den Lassalleanismus, der hier als eine bürgerlich demokratisch-philanthropische Bewegung aufgefaßt wird, zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter verflacht habe, indem er ihren Charakter als Klassenkampf der Industriearbeiter gegen die Bourgeoisie vertiefte.|3| Ferner wird ihm vorgeworfen seine „Zurückweisung der |160| bürgerlichen Demokratie“. Was hat denn die bürgerliche Demokratie in der sozialdemokratischen Partei zu schaffen? Wenn sie aus „ehrlichen Männern“ besteht, kann sie gar nicht eintreten wollen, und wenn sie dennoch eintreten will, dann doch nur, um zu stänkern.

      Die Lassallesche Partei „zog vor, sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei zu gerieren“. Die Herren, die das schreiben, sind selbst Mitglieder einer Partei, die sich in einseitigster Weise als Arbeiterpartei geriert, sie bekleiden jetzt Amt und Würden in ihr. Es liegt hier eine absolute Unverträglichkeit vor. Meinen sie, was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens Amt und Würden niederlegen. Tun sie es nicht, so gestehn sie damit ein, daß sie ihre amtliche Stellung zu benutzen gedenken, um den proletarischen Charakter der Partei zu bekämpfen. Die Partei also verrät sich selbst, wenn sie sie in Amt und Würden läßt.

      Die sozialdemokratische Partei soll also nach Ansicht dieser Herren keine einseitige Arbeiterpartei sein, sondern eine allseitige Partei „aller von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer“. Vor allem soll sie dies beweisen, indem sie die rohen Proletarierleidenschaften ablegt und sich „zur Bildung eines guten Geschmacks“ und „zur Erlernung des guten Tons“ (S. 85) unter die Leitung von gebildeten philanthropischen Bourgeois stellt. Dann wird auch das „verlumpte Auftreten“ mancher Führer einem wohlehrbaren „bürgerlichen Auftreten“ weichen. (Als ob das äußerlich verlumpte Auftreten der hier Gemeinten nicht noch das Geringste wäre, das man ihnen vorwerfen kann!) Dann auch werden sich

      „zahlreiche Anhänger aus den Kreisen der gebildeten und besitzenden Klassen einfinden. Diese aber müssen erst gewonnen werden, wenn die … betriebne Agitation greifbare |161| Erfolge erreichen soll“. Der deutsche Sozialismus hat „zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sog. oberen Schichten der Gesellschaft energische (!) Propaganda zu machen“. Denn „noch fehlt es der Partei an Männern, welche dieselbe im Reichstag zu vertreten geeignet sind“. Es ist aber „wünschenswert und notwendig, die Mandate Männern anzuvertrauen, die Gelegenheit und Zeit genug gehabt haben, sich mit den einschlagenden Materien gründlich vertraut zu machen. Der einfache Arbeiter und Kleinmeister … hat dazu nur in seltnen Ausnahmsfällen die nötige Muße.“

      Wählt also Bourgeois!

      Kurz: die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muß sie unter der Leitung „gebildeter und besitzender“ Bourgeois treten, die allein „Gelegenheit und Zeit haben“, sich mit dem vertraut zu machen, was den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda – zu gewinnen.

      Wenn man aber die oberen Schichten der Gesellschaft oder nur ihre wohlmeinenden Elemente gewinnen will, so darf man sie beileibe nicht erschrecken. Und da glauben die drei Züricher, eine beruhigende Entdeckung gemacht zu haben:

      „Die Partei zeigt gerade jetzt unter dem Druck des Sozialistengesetzes, daß sie nicht gewillt ist, den Weg der gewaltsamen, blutigen Revolution zu gehn, sondern entschlossen ist …, den Weg der Gesetzlichkeit, d.h. der Reform zu beschreiten.“

      Also wenn die 5 – 600.000 sozialdemokratischen Wähler, 1/10 bis 1/8 der gesamten Wählerschaft, dazu zerstreut über das ganze weite Land, so vernünftig sind, nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, und einer gegen zehn eine „blutige Revolution“ zu versuchen, so beweist das, daß sie sich auch für alle Zukunft verbieten, ein gewaltiges auswärtiges Ereignis, eine daduch hervorgerufne plötzliche revolutionäre Aufwallung, ja einen in daraus entstandner Kollision erfochtnen Sieg des Volks zu benutzen! Wenn Berlin wieder einmal so ungebildet sein sollte, einen 18. März zu machen, so müssen die Sozialdemokraten, statt als „barrikadensüchtige Lumpe“ (S. 88) am Kampf teilzunehmen, vielmehr den „Weg der Gesetzlichkeit beschreiten“, abwiegeln, die Barrikaden wegräumen und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegsheer gegen die einseitigen, rohen, ungebildeten Massen marschieren. Oder wenn die Herren behaupten, das hätten sie nicht so gemeint, was haben sie dann gemeint?

      Es kommt noch besser.

      „Je ruhiger, sachlicher, überlegter sie“ (die Partei) „also in ihrer Kritik der bestehenden Zustände und in ihren Vorschlägen zur Abänderung derselben auftritt, um |162| so weniger kann der jetzt“ (bei der Einführung des Sozialistengesetzes) „gelungene Schachzug wiederholt werden, mit dem die bewußte Reaktion das Bürgertum durch die Furcht vor dem roten Gespenst ins Bockshorn gejagt hat.“ (S. 88)

      Um der Bourgeoisie die letzte Spur von Angst zu benehmen, soll ihr klar und bündig bewiesen werden, daß das rote Gespenst wirklich nur ein Gespenst ist, nicht existiert. Was aber ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs? Man schaffe den Klassenkampf ab, und die Bourgeoisie und „alle unabhängigen Menschen“ werden „sich nicht scheuen, mit den Proletariern Hand in Hand zu gehn“! Und wer dann geprellt, wären eben die Proletarier.

      Möge also die Partei durch de- und wehmütiges Auftreten beweisen, daß sie die „Ungehörigkeiten und Ausschreitungen“ ein für allemal abgelegt hat, die den Anlaß zum Sozialistengesetz gaben. Wenn sie freiwillig verspricht, sich nur innerhalb der Schranken des Sozialistengesetzes bewegen zu wollen, werden Bismarck und die Bourgeois dies dann überflüssige Gesetz aufzuheben doch wohl die Güte haben!

      „Man verstehe uns wohl“, wir wollen nicht „ein Aufgeben unserer Partei und unsres Programms, wir meinen aber, daß wir auf Jahre hinaus genug zu tun haben, wenn wir unsre ganze Kraft, unsre ganze Energie auf Erreichung gewisser naheliegender Ziele richten, welche unter allen Umständen errungen sein müssen, bevor an eine Realisierung der weitergehenden Bestrebungen gedacht werden kann“.

      Dann werden auch Bourgeois, Kleinbürger und Arbeiter sich massenweise an uns anschließen, die „jetzt durch die weitgehenden Forderungen … abgeschreckt werden“.

      Das Programm soll nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben werden – bis auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich selbst und für seine Lebzeiten, sondern posthum, als Erbstück für Kinder und Kindeskinder. Inzwischen wendet man seine „ganze Kraft und Energie“ auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. Da lobe ich mir doch den Kommunisten Miquel, der seine unerschütterliche Überzeugung von dem in einigen hundert Jahren unvermeidlichen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft dadurch bewährt, daß er tüchtig drauflosschwindelt, sein redliches zum Krach von 1873 beiträgt und damit für den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung wirklich etwas tut.

      |163| Ein andres Vergehen gegen den guten Ton waren auch die „übertriebnen Angriffe auf die Gründer“, die ja „nur Kinder der Zeit“ waren; „das Schimpfen auf Strousberg und dgl. Leute … wäre daher besser unterblieben“. Leider sind alle Menschen „nur Kinder der Zeit“, und wenn dies hinlänglicher Entschuldigungsgrund, so darf man niemand mehr angreifen, alle Polemik, aller Kampf unsrerseits hört auf; wir nehmen alle Fußtritte unsrer Gegner ruhig hin, weil wir, die Weisen, ja wissen, daß jene „nur Kinder der Zeit“ sind und nicht anders handeln können, als sie tun. Statt ihnen ihre Fußtritte mit Zinsen zurückzuzahlen, sollten wir die Armen vielmehr bedauern.

      Kommentare

      An Stelle dieser beiden Sätze stand ursprünglich der folgende, in der Handschrift gestrichenen Passus: „Schweitzer war ein großer Lump, aber ein sehr talentvoller Kopf. Sein Verdienst bestand grade darin, daß er den ursprünglichen engen Lassalleanismus mit seiner beschränkten Staatshülfe-Panacee durchbrach … Was er auch aus korrupten Motiven verschuldet hat und wie sehr er auch zur Erhaltung seiner Herrschaft an der Lassalleschen Panacee von der Staatshülfe festhielt, so hat er doch das Verdienst, den ursprünglichen engen Lassalleanismus durchbrochen, den ökonomischen Gesichtskreis der Partei erweitert und damit ihr späteres Aufgehn in die deutsche Gesamtpartei vorbereitet zu haben. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, dieser Angelpunkt alles revolutionären Sozialismus, war schon von Lassalle gepredigt worden. Wenn Schweitzer diesen Punkt noch schärfer betonte, so war das in der Sache selbst jedenfalls ein Fortschritt, wie sehr er sich auch daraus einen Vorwand geschmiedet haben mag, seiner Diktatur gefährliche Personen zu verdächtigen. Ganz richtig ist, daß er den Lassalleanismus zu einem einseitigen Interessenkampf der Industriearbeiter machte. Aber nur darum einseitig, weil er aus Gründen politischer Korruption von dem Interessenkampf der Landarbeiter gegen den großen Grundbesitz nichts wissen wollte. Nicht das ist es, was ihm hier vorgeworfen wird, die ‚Verflachung‘ besteht darin, daß er ihren Charakter als Klassenkampf der Industriearbeiter gegen die Bourgeoisie vertiefte.

      http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_407.htm

  2. Ehrlich gesagt, ich mag diesen Lassalle. Freilich hat er Fehler gemacht, aber er bewegte sich auch auf völlig unbekanntem Terrain. Es war weltweit die erste Arbeiterpartei, im weit früher industrialisierten England dauerte es bis ins Jahr 1900, bis die Labour-Party gegründet wurde.
    Historisch gesehen hat er recht behalten gegen Marx, der den bürgerlichen Staat rundweg ablehnte. Es will eben niemand hinter die Gewaltenteilung und freie Wahlen zurück, aus gutem Grunde. Auch ich lege Wert darauf, FDP wählen zu können. Was ich zwar niemals tun werde, aber ich könnte. Das ist mir durchaus wichtig.
    Eine Verfasstheit, in der Löhne und Preise stets automatisch gerecht ausfallen, wird es niemals geben. Darum muss immer gekämpft werden. Wobei man zunächst einmal schlechte Karten hat: die Bourgeoisie hat das Geld, die Presse und die Institute. Einzige Möglichkeit, dagegen anzukommen: man muss eben besser sein. Was so schwer nicht ist. Die Bürgerlichen kochen doch sehr mit Wasser.
    Und halt: sagen, was ist. Ein Zitat, das nun der Spiegel frecherweise für Rudolf Augstein reklamiert. Dieser aber hat es August Bebel geklaut, dem späteren Mitkämpfer Lassalles. Das ist der Zentralpunkt: die Leute erwarteten von der neuen Partei keine unmittelbare Besserung ihres Daseins, aber sie sollte verhindern, obendrein verdummt zu werden. Das zieht sich durch die gesamte Geschichte der SPD hindurch: wenn sie sagte, was ist, wurde sie vom Wahlvolk reichlich belohnt.
    Dass sie zeitweise unter 20 Prozent fiel, sagt uns was? Eben.

    1. Ich mag mein Frau, Lassalle habe ich nicht kennengelernt, aber er begründete viele Dinge, auf die die SPD auch heute noch beruft. Heute wird gerade wegen des Datums ziemlich viel gelobhudelt auf die SPD, immer schön unter Auslassung einiger Fakten.

  3. Der „Sozialstaat“ darf nicht mit echtem Sozialismus verwechselt werden. Nach Marx ist das Kapital immer an einer industriellen Reservearmee in Form von Arbeitslosen und Lumpenproletariern interessiert. Natürlich muss diese Reservearmee unterhalten werden. Dazu dienen Sozialleistungen wie Hartz IV und die sogenannten Sozialversicherungen. Sozialleistungen sollen auch Benachteiligte ruhig halten und die Vermeidung von Unruhen bewirken. Der Ansatz von Marx ist jedoch der Klassenkampf, d. h. die autonome Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten gegen das Kapital. Ursprünglich waren soziale Leistungen ja auch tatsächlich an echte Versicherungen gebunden, wie Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung. Inzwischen haben diese Institutionen ihre Selbstständigkeit verloren, der Staat verteilt die Leistungen, und die Beiträge sind in Wahrheit Steuern. Auf das Versicherungsprinzip berufen sich die Herrschenden nur, wenn es darum geht, die Behauptung zu belegen, dass die Rentner trotz jahrzehntelanger Einzahlungen durch die nachfolgenden Generationen finanziert werden müssten, und deshalb die Renten gekürzt werden müssten, indem das Eintrittsalter für die Rente erhöht wird. Der Klassenkampf wurde durch „Sozialpartnerschaft“ zwischen Kapital und Systemgewerkschaften ersetzt.

    1. Die interessante Frage ist ja, hat Lasalle mit seiner Haltung dazu beigetragen, dass die heutige SPD (Wer hat uns verraten? Leider wahr) aus Opposition, wie Kinder zu Eltern, die Enkel werden den Grosseltern oft ähnlicher sein als erwünscht oder gar gewollt, genau die Position eingenommen hat, die Lasalle, so wie ich ihn verstehe, gar nicht einnehmen konnte. Undenkbar, als hilfreiches Adjektiv. Oder ist das ein Adverb. Könnte manchmal auch sein. Nichts Genaues weiss man nicht. Für mich eher eine tragische Figur der Geschichte. Sozialstaat hin oder her.

  4. An die Site-Designer und Admins
    Cool, es gibt Verbesserungen. Wenn ich mindestens zwei Kommentare poste, dann kann ich alle Kommentare innerhalb Zeitfrist editieren. Es wird ein Refresh erzwungen, wenn ich das richtig sehe. Bei nur einem Kommentar wird mir der Kommentar korrekt angezeigt, aber die Möglichkeit zur Korrektur von Rechschreibfehlern fehlt. War nur so ein Gedanke …. im Notfall spam ich halte einen Comment um den Rechtschreibfehler im intendierten Comment ändern zu können.
    Lieber Gruss

    1. Glaube nicht, dass irgendjemand in der SPD Lassalle, Kautsky oder Bernstein kennt. Dort ist theoretische Beschäftigung verpönt und nicht Karriere fördernd. Eher verdächtig. Einen Theoretiker der SPD konfrontierte ich nur der spaßig gemeinten Überlegung, sie könnten doch (in einem bestimmten Zusammenhang) wieder Kautsky ausgraben , der würde genau gerade zu Recht kommen. Der Mann war zuerst verduzt und und antwortete: was sollen wir mit dem ollen Knausel. Seine Unkenntnis war unübersehbar. „Die Genossen wollen keine theoretische Diskussion“.

  5. Schon Lassalles Verhandlungen mit Bismarck waren nicht unproblematisch, heute haben wir eine ganze Kaste von schlechten Nachahmern, Funktionären in links verorteten Organisationen, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, den Herrschaftsapparat zu beraten.

    Man gibt sich als Anwalt der unzufriedenen Massen und beschützt gleichzeitig seine herrschaftlichen Verhandlungspartner davor, dass die Opfer deren Privilegien direkt in Frage stellen. Dafür lässt man sich dann von den Herrschenden zu Konferenzen etc. einladen, und an Geldmitteln und Prestige partizipieren.

    So werden z. B. Bilderberg und WEF von linken NGOs nicht als undemokratisch in Frage gestellt, sondern es wird lediglich kritisiert, dass man selber nicht dabei sein darf. Entsprechend hat das WEF Greta Thunberg eingeladen und alle fanden es ganz toll. Auch diejenigen übrigens, die sonst überall Querfront wittern.

  6. Lasalle denkt national. Auch Klassen. Das Ausland kommt nicht vor.
    Deshalb hat die SPD zuerst Kriegskredite bewilligt damit deutsche Proleten auf französische schießen können und
    später, zur Anerkennung, auch deutsche auf deutsche. Man merkts auch heute noch.
    Nazis denken national ohne Klassen. Das Ausland ist Feind.

  7. Damals wie heute das gleiche Spiel. Das einzige was sich änderte ist die Sprache, alte Wörter werden durch neue Kreationen erweitert, aber das System simuliert sich andauernd fort.

  8. Sie SPD hat viermal die Arbeiter verraten
    1918
    1933
    2000
    2023
    Herzlichen Glückwunsch zu 160 Jahren Verrat!
    Schämen sollte sich jedes SPD-Mitglied und austreten

    1. Der erste Verrat der SPD an sich selbst 1914 mit der Zustimmung für die Kriegskredite.

      1946 Eintritt der SPD in die SED.

      Sechsmal Verrat von Prinzipien!

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