Jeremy Bentham: Einführung in die Grundsätze der Moral und Gesetzgebung

Jeremy Bentham von Henry William Pickersgill. Bild: gemeinfrei

100 Bücher, die die Welt verändert haben

Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748-1832) ist vor allem als Begründer des so genannten „Utilitarismus“ in Erinnerung geblieben, der Lehre, dass menschliche Handlungen auf der Grundlage eines Kalküls des Gesamtnutzens und -schadens, den sie verursachen, erklärt und sanktioniert werden können. Das ist es, was man das „Glückskalkül“ nennt.

In der „Introduction to the Principles of Morals and Legislation“, einem langen Buch, das er 1780 fertigstellte, aber erst 1789 veröffentlichte, legt Bentham das Wesen des Utilitarismus dar und beschreibt damit die Grundlage eines möglichen rationalen Rechtssystems. Bentham war sicherlich nicht der erste, der von Glück und Wohlbefinden als der treibenden Kraft des menschlichen Handelns sprach – Denker wie Helvetius in Frankreich hatten bereits ähnliche Ideen formuliert. Bentham ist jedoch der erste, der eine ganze Soziologie populär gemacht hat, die auf dem Utilitarismus basiert, der einfach den größten Nettonutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen anstrebt.

Der Utilitarismus wurde wegen der Paradoxien, die er hervorbringt, kritisiert. Im Gleichnis von der Stadt Omelas leben alle in diesem Ort in vollkommenem Glück, aber alles hängt davon, dass ein Kind an einem dunklen Ort leidet. Als die Einwohner davon erfahren, akzeptiert die große Mehrheit die Gegenleistung, die das soziale Glück maximiert. Andere beschließen, das Dorf zu verlassen, weil sie nicht hinnehmen können, dass ein Mensch zum Leiden verurteilt ist, damit andere glücklich sein können. In jüngerer Zeit: Nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme in New York im Jahr 2001 erließ die deutsche Armee die Anweisung, entführte Flugzeuge im Anflug auf eine Stadt abzuschießen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Entscheidung mit der Begründung für ungültig, dass es in einer solchen Situation nicht zulässig sei, den Verlust von Menschenleben (in einem Gebäude oder im Flugzeug) zu berechnen, da ihm kein Zahlenwert zugeordnet werden kann. Eine arithmetische Berechnung des sozialen Glücks oder Unglücks wäre schlicht unmöglich und würde die Menschenwürde verletzen, da jedes Leben unendlich wertvoll ist.

Die „Einführung“ stellt zu Beginn deutlich heraus, was  Benthams philosophische Grundlage ist, wenn er schreibt: „Die Natur hat den Menschen unter die Herrschaft zweier Herren gestellt, des Leidens und der Lust. Sie allein bestimmen, was wir tun sollen (…) Sie bestimmen alles, was wir tun, was wir sagen und was wir denken.“ Und weiter: „Das Nützlichkeitsprinzip (…) billigt oder missbilligt jede Handlung entsprechend der Tendenz, die sie hat, um (…) das Glück der betreffenden Person oder Gruppe zu erhöhen oder zu vermindern.“

Bentham fährt dann fort, alle Quellen von Schmerz und Leid zu katalogisieren, wobei er davon ausgeht, dass sich beide Erfahrungen quantifizieren lassen. Es gäbe vier Bereiche der Freude oder der Not: den physischen, den politischen, den moralischen und den religiösen Bereich. Der Wert einer Freude oder eines Leidens hängt von ihrer Intensität, Dauer, Gewissheit oder Ungewissheit und ihrer Nähe oder Ferne ab. Darüber hinaus muss die zeitliche Abfolge der Wirkungen („Fruchtbarkeit“) berücksichtigt werden, um die Nettosumme der Freuden und Leiden zu berechnen. Die „Reinheit“ des Leids und sein „Ausmaß“ (wie viele Menschen betroffen sind) müssen in die Berechnung einfließen. In Kapitel 5 der „Einführung“ klassifiziert Bentham vierzehn einfache Vergnügungen, zwölf ebenfalls einfache Leiden und neun sinnliche Vergnügungen, um nichts auszulassen, was ein wichtiger Faktor in dem sein könnte, was er das „felicific calculus“ nennt. Vielleicht hat noch nie jemand so präzise aufgeschlüsselt, was uns glücklich oder unglücklich machen kann, wie Jeremy Bentham es hier tut.

Nun, da wir uns mit der Quantifizierung von Empfindungen befassen, müssen wir auch subjektive Unterschiede berücksichtigen. Gesundheit, Kraft, Alter und viele andere Faktoren (insgesamt 32) können unsere Wahrnehmung von Freude oder Leid beeinflussen. Und da Bentham daran interessiert ist, praktische Schlussfolgerungen aus dieser ganzen Übung zu ziehen, wird sich herausstellen, dass es nicht wirklich auf die Absicht einer Handlung ankommt, sondern auf die endgültige Wirkung, die sie hervorbringt. Eine Handlung ist je nach der Summe ihrer Folgen mehr oder weniger verhängnisvoll. Die Aufgabe der Regierung ist es also, „das Glück der Gesellschaft durch Bestrafung oder Belohnung zu fördern“.

Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Bentham nicht von Thomas Hobbes beeinflusst wurde, der mehr als ein Jahrhundert vor der „Einführung“ argumentiert hatte, dass es der individuelle Egoismus ist, der einen Gesellschaftsvertrag notwendig macht, um die menschlichen Leidenschaften zu kanalisieren und zu regulieren. Wenn jeder so handelt, dass er seinen individuellen Nutzen maximiert, wird der Mensch zum „Wolf des Menschen“. Bernard Mandeville sah in seiner „Fabel von den Bienen“ (1714) keinen Widerspruch: Da jeder Mensch seine privaten Interessen, d. h. seine Ambitionen, verfolgt, bewirkt er die Schaffung von Reichtum und eine umfassende Arbeitsteilung. Das soziologische Problem löst sich von selbst, da der Markt die sozialen Anstrengungen in die richtige Richtung lenkt und so „private Laster“ in „öffentlichen Nutzen“ umgewandelt werden.

Doch Bentham war sich eines solchen Automatismus keineswegs sicher, und so ist der gesamte zweite Teil der Einleitung eine Abhandlung über die Gesetze, die der Staat erlassen muss, um die oben erwähnten Strafen und Belohnungen zu bestimmen und zu kanalisieren. Um die rechtliche Wirkung menschlicher Handlungen zu beurteilen, muss man also die Absicht, die Motive und das Bewusstsein dieser Handlungen berücksichtigen. Vor allem aber muss die letztendliche Wirkung gemessen werden. Am schlimmsten sind die Schäden, die aus kriminellen Motiven und im vollen Bewusstsein der Straftat verursacht werden. Der letzte Teil der „Einführung“ befasst sich daher mit angemessenen Strafen und der Kriminalisierung von gesellschaftsschädigenden Handlungen und schließt mit Überlegungen zum Strafrecht.

Dass die Maximierung des „felicific calculus“ nicht automatisch à la Mandeville erfolgt, geht aus Benthams eigener Biographie hervor. Jahrzehntelang interessierte er sich sehr für den Gefängnisbau und entwarf das „Panopticon“, eine Gefängnisarchitektur mit einem zentralen Turm in der Mitte eines kreisförmigen Gebäudes, von dem aus die Wärter alle Gefangenen überblicken konnten. Die Insassen wissen nicht, ob sie beobachtet werden oder nicht, aber die bloße Möglichkeit, dass jemand sie beobachtet, reicht aus, um sie zu ihren eigenen Aufsehern zu machen. 1780 (im selben Jahr, in dem er die „Einführung“ fertigstellte) veröffentlichte Bentham das Buch „Panopticon“, in dem er die Art von Architektur vorschlug, die er zusammen mit seinem Bruder Samuel entworfen hatte. Obwohl es ihm gelang, das Parlament und die Krone für das Projekt zu interessieren, wurde die Idee schließlich 1811 (dreißig Jahre nach seinem Buch) verworfen, und Bentham verlor den Großteil seiner Investitionen. So verbrachte der englische Utilitarist mehr als 30 Jahre mit dem Versuch, das ideale Gefängnis zu bauen.

Am bekanntesten aus seiner „Einführung“ ist heute sicherlich alles, was sich auf den gesellschaftlichen Nutzen und dessen Berechnung bezieht. Die rechtlichen Implikationen spielen keine so große Rolle mehr. Der Utilitarismus hat wichtige Änderungen erfahren, und nach Bentham wurde er als Grundlage für eine Konzeption ethischen Verhaltens neu formuliert. Am anderen Ende des Spektrums erschien später Immanuel Kant mit seiner auf dem kategorischen Imperativ beruhenden Ethik.

 

Jeremy Benthams „Auto-Icon“ im University College London. Bild: MykRreeve/CC BY-SA-3.0

 

Der Utilitarismus wird heute immer dann neu diskutiert, wenn es darum geht, wie mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Computer Entscheidungen treffen sollen. Wie soll sich ein autonomes Auto entscheiden, das plötzlich Menschen vor sich hat, die beide Fahrspuren blockieren, so dass es nur noch wählen kann, ob es die Menschen auf der rechten oder linken Spur überfährt? Die Frage wurde von den Forschern Tausenden von Menschen gestellt, die in einer Simulation auf einer Website mit dem Namen „Moral Machine“ anhand eines Szenarios ihre Entscheidung treffen konnten. Das Ergebnis war, dass die Teilnehmer überwiegend ein utilitaristisches Kalkül anwandten, das auf der Anzahl, dem Alter und den Umständen der potenziellen Opfer beruhte.

Getreu seinem utilitaristischen Denken veranlasste Jeremy Bentham, dass sein Leichnam nach seinem Tod während einer Anatomiestunde öffentlich obduziert wurde. Er legte fest, dass seine sterblichen Überreste einbalsamiert und mit Kleidern in einer Glasvitrine ausgestellt wurden, um ein „Selbstbildnis“ zu schaffen. Die University of London (UCL) erwarb die merkwürdige „Installation“, die seitdem in einer Glasvitrine ausgestellt wird, wobei der Kopf, der inzwischen stark beschädigt ist, durch einen Wachskopf ersetzt wurde. Bei einigen Gelegenheiten wurde der Leichnam Benthams zu den Sitzungen des Universitätsrats getragen. Es heißt, dass in den Protokollen der Versammlungen in solchen Fällen vermerkt ist, dass Jeremy Bentham „ohne Abstimmung“ anwesend war.

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8 Kommentare

  1. Das „größte Glück der größten Zahl“ , der „kategorische Imperativ“, die „invisible Hand“ und andere …
    Allesamt moralische Konstruktionen letztlich autoritärer und repressiver sich durch („freiwilligen, freiheitlichen“) Zwang unterzuordnender Herrschaftssysteme – auch und gerade die unserer liberalen, bürgerlichen Demokratien.

    1. „Ein Yankee am Hofe des König Artus“
      Ein Roman von Mark Twain

      Dort wird erwähnt daß besser ist Katzen als Herrschaft zunehmen diese sind Gerechter und Günstiger im Unterhalt. Und Streithändel tragen die Katzen auch immerhin untereinander aus. Also Ethisch sind diese auch Niedlicher als als Faschistische Reptiloiden.

  2. Das eine Kernproblem aller utilitaristischen Ansätze liegt in ihrer Abhängigkeit vom je herrschenden Ist-Zustand. Was unter den in einer bestimmten Gesellschaft herrschenden Verhältnissen zu objektiven Vorteilen führt, hat in einer anderen unter Umständen ganz gegenteilige Folgen. Im utilitaristischen Kalkül steckt also ein konstitutiver Relativismus und, ebenso verhängnisvoll, ein gleichfalls konstitutiver Ahistorismus. Denn einerseits ist synchron relativ, was für wen Vorteile bringt, andererseits diachron, also in der Zeit. Der heutige Vorteil kann der morgige Nachteil sein. Z. B. kann ein vom jeweiligen Wirtschaftssystem belohntes Verhalten ökonomischer Subjekte unter Umständen ökologisch schädlich sein, mithin zum Nachteil mutieren, was sich aber bloss zeitverzögert manifestiert.

    Das zweite Kernproblem liegt im individualistischen Ansatz begründet. Die gegebenen Umstände machen eventuell Handlungen Einzelner fruchtbar, die für die Gesellschaft als Ganze objektiv schädlich sind. Indem sie etwa die Vertrauensvorräte und damit die gesellschaftliche Kohäsion schmälern. Besonders ausgeprägt sind solche Fehlentwicklungen im Fall eines Hypertrophie des materiellen Aspekts von Lebenserfolg, was man deutlicher als Hypermaterialismus bezeichnen kann, ein starkes Überwiegen monetärerer Aspekte in der individuellen Entscheidungsfindung. Gesellschaften, in denen das ausgeprägt der Fall ist, zeichnen sich durch einen immens hohen Misstrauenspegel aus, der den gesamtgesellschaftlichen Erfolg massiv behindert.

  3. Mir war er nur als der Irre mit dem „Panoptikum“ bekannt . So wie ich es in Erinnerung habe , war die Idee keineswegs auf den Bau des idealen Zuchthauses beschränkt:

    The Panopticon is an institutional building where people are kept under inspection, whether it is a hospital, a school, public housing for poor people, a factory, or a mental health institution, but the most famous application is that of a prison.
    https://criminologyweb.com/jeremy-bentham-panopticon/

    Ein zu früh geborener Denker, der schon weiter als über den Bau von Gefängnissen gehen wollte, wenn man ihm denn nur gelassen hätte. Aber schon seine Gefängnisidee, so abgedreht sie ist , war ja fruchtbar.
    Wenn ich die Autorin des von mir verlinkten Artikels noch einmal zitieren darf:

    Some of the criticisms on the Panopticon are among others that, like other works by Bentham, it does not seem to be very humane. Bentham’s approach is quite rational and mechanistic and does usually not view individuals as human beings.

    Es ging ihm nicht um Kriminelle sondern um zu beherrschende , um Arbeiter, Kranke, Schüler. Rational und mechanisch.
    Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sein Traum von einer Gesellschaft, die im ständigen Bewusstsein optionaler Kontrolle und Sanktion sich gegenseitig und auch selbst kontrolliert, kurz vor der Vollendung steht. Eigentlich ein Mann für das 3. Jahrtausend.

    1. Ich meine das war auch jener Humanist, der Arbeitshäuser plante, in denen unnutzes Gesindel und Arbeitsscheue den Tag damit verbringen sollten, mit mehreren Gleichgesinnten in einem Gemäuer ein Pumprad antzutreiben, um den Pegel beständig eindringendes Wassers lebenserhaltend gering zu halten.
      Arbeiten als Selbstzweck….

      1. Auch eine ganz entzückende Idee. Meinst du, das geht auch auf auf ihn selbst zurück oder auf ein seelenverwandten Humanisten?

        Könnte aber auch ein früher Sozialdemokrat entwickelt haben:
        „Sozial ist was Arbeit schafft“ oder „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“
        Ganz zu Ende gedacht, also bis zum zur letzten Konsequenz: “ Arbeit macht frei“

        1. „…. bis zum zur letzten Konsequenz: “ Arbeit macht frei“

          In der Tat könnte man die deutsche Gegenaufklärung, den exkludierenden nationalen Liberalismus (als Vorstufe zum Nationalsozialismus) entgegen dem Franz. Modell der Freiheit aller Menschen, sehr gut nachzeichnen, aufklären, reflektieren.

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