Eine verlorene Welt

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Ulrike Guérots aktuelles Buch sehnt sich nach Menschlichkeit und warnt vor einer gesellschaftlichen Transformation, die den Menschen zur Störfaktor erniedrigt.

Der Begriff Zeitenwende ist in den letzten Jahren zur staatstragenden Formel geronnen. Er gehört zum Mantra der herrschenden Politik, die sich an der Wiedereinführung des Kriegsgeistes erschöpft und sonst alles aus dem Blick verliert. Ulrike Guérot hingegen löst in ihrem Buch ZeitenWenden den Begriff aus diese einfältigen Rhetorik heraus und schärft ihn als Diagnose. Zeitenwende heißt für sie: Der Boden unserer Selbstverständlichkeiten ist brüchig geworden. Oder schlimmer noch, er wird den Bürgern entzogen.

Demokratie, Vernunft, Europa: Begriffe, die einst als tragende Säulen des Zusammenlebens betrachtet wurden, haben ihre Festigkeit verloren. In Guérots Darstellung ist die Zeitenwende nicht einfach die Ankündigung neuer Budgets für die Bundeswehr, sondern die Erfahrung einer kollektiven Destabilisierung. Gewissheiten wurden dekonstruiert und viele Grundlagen des Zusammenlebens zerschossen.

Gesellschaft ohne Sinnlichkeit

Dieses Buch sollten Sie gelesen haben!

Mit größter Schärfe wendet sich Guérot gegen den Verlust der Vernunft. Sie beschreibt eine Kultur, die sich in Zahlen, Modellen und Simulationen verliert und dabei den Blick für das Wirkliche verliert. Die Corona-Jahre sind für die Gelehrte prototypisch für diese Entwicklung: Wissenschaft, die sich zum Legitimationsinstrument politischer Macht aufschwingt; Medien, die sich in einer Haltung der moralischen Belehrung einrichten; Bürger, die von Freiheitsrechten entwöhnt werden, bis sie sie vergessen haben und kaum noch vermissen.

Die Vernunft, die sich als Verbindung zwischen Kopf und Intuition verstand, wird abgetrennt, ersetzt durch algorithmische Berechenbarkeit. Wo Kant einst das eigenständige Denken forderte, herrscht heute Lemmingmentalität: Follow the Science. Guérot hält dem eine einfache Wahrheit entgegen, die heute kaum noch Beachtung findet: Wissen ohne Erfahrung ist leblos. Und Gesellschaften ohne Sinnlichkeit verlieren jedes Maß.

Aus diesem Befund folgt die tiefere Diagnose: Die Demokratie, wie wir sie uns dachten und was sie nie recht war, ist im endgültigen Abbruch begriffen. Der Endgegner ist kein Putsch, sondern finalisiert die Prozesse mittels schleichender Verschiebungen: Plötzlich werden Grundrechte antastbar und werden in Ausnahmesituationen suspendiert. Die Rechtsstaatlichkeit zerrinnt Schritt für Schritt mehr und kaum jemand nimmt davon Notiz. Der Frosch im Topf spürt lange nicht, wenn das Wasser erhitzt wird, in dem er schwimmt. Das Vertrauen in Institutionen, einst das unsichtbare Kapital jedes Gemeinwesens, geht nachhaltig verloren.

Guérot beschreibt diesen Prozess nicht als Skandal des Augenblicks, sondern als historischen Mechanismus: Demokratien sind sterblich. Ihre Vitalität hängt davon ab, ob Bürger als denkende Subjekte ernstgenommen werden. Werden sie zu Objekten einer menschenverachtenden Politik, dann bleibt nur noch der demokratische Anstrich.

Die Bürde des Menschseins

Noch eindringlicher wird der Blick, wenn Guérot den Kontinent betrachtet. Europa, so ihre These, hat sein zivilisatorisches Versprechen verraten. Einst als Friedensidee geboren, pirscht es sich heute an, um ein Kriegsprojekt zu werden. Statt eigenständig zu agieren, folgt die Europäische Union einer geopolitischen Agenda, die nicht ihre eigene ist. Der Traum eines föderalen, bürgergetragenen Europas, inspiriert durch das Manifest von Ventotene, das Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni schrieben, ist nie eingelöst worden. An seine Stelle tritt ein technokratisches Konstrukt, das mehr verwaltet als gestaltet. Guérot sieht Europa am Abgrund: zwischen Unterwerfung gegenüber den Vereinigten Staaten, Entfremdung zu Russland und chinesischer Weltmacht.

Die Idee der Zivilität hielt den Kontinent einst zusammen. Doch dieses Selbstverständnis ist erloschen.

Das Buch ist kein nüchternes Traktat, sondern ein leidenschaftlicher Essay. Guérot schreibt nicht aus der Distanz des Forschers, sondern mit der Unruhe der Betroffenen. Sie zitiert Hannah Arendt, Simone Weil, Jean Gebser: Mit Hilfe dieser Stimmen tastet sich die Autorin denkend voran. Der Text oszilliert zwischen persönlicher Erinnerung und philosophischer Reflexion, zwischen Zeitdiagnose und kulturkritischem Aufschrei.

Stilistisch gleicht ZeitenWenden einem Mosaik: mal präzise Argumentation, mal dichterisches Bild, mal scharfe Polemik. Guérot ist eine Welt verlorengegangen. Man spürt das deutlich. Sie macht sichtbar, dass der schönen neuen Welt an vielem mangelt. An Transparenz und demokratischer Struktur beispielsweise. Aber auch an Lebensgefühl oder Lebensart. Selbst der spontane Museumsbesuch wird zur Prozedur ohne Spontanität, denn viele Häuser bitten um vorherige Anmeldung auf deren Website. Lieben und lachen: Alles wurde gezielt verkompliziert. Der Mensch hat sich verloren. Mensch zu sein fühlt sich zunehmend als schwere Bürde an.

Darf man nicht analog glücklich werden?

Wohlwollend gelesen ist ZeitenWenden kein Pamphlet der Resignation, sondern der Versuch eines Weckrufes. Ulrike Guérot insistiert darauf, dass Gesellschaft nicht auf Selbsttäuschung bauen darf. Der Verlust von Vernunft, Demokratie und europäischer Nachbarschaft ist kein Naturgesetz, sondern Folge politischer und geistiger Entscheidungen und historischer Dynamiken. In der Tradition von Julien Benda oder Hannah Arendt begreift sie den Intellektuellen als Warner, als Stimme gegen die Verführungen der Macht.

Guérot fordert ein neues Denken, das sich nicht mit den bequemen und eindimensionalen Narrativen der Gegenwart zufriedengibt, sondern die Mühe auf sich nimmt, Fragen neu zu stellen: Was ist der Mensch? Was darf er hoffen? Hat er kein Recht darauf, analog glücklich zu werden?

ZeitenWenden ist ein Buch des Übergangs. Es beschreibt kein fertiges System, sondern die Transformation in eine menschengemachte Gesellschaft, die den Menschen ablehnt. Guérots Diagnose ist düster, aber sie enthält einen Funken Hoffnung: Wo Altes zerfällt, kann Neues entstehen und zwar aus dem Alten. Denn der Ruf nach Vernunft, nach Zivilität, nach einem Europa der Bürger, ist nicht einfach bloß nostalgische Sehnsucht, sondern etwas Zwangsläufiges, wenn der Weltgeist aus seiner Hysterie aufwacht.

Ob wir wollen oder nicht, wir stecken mitten in einer Zeitenwende. Auch jenseits der militärischen Aufblähung. Diese Zeitenwende ist antiaufklärerisch, sie möchte die Ideale der Aufklärung ins Nichts auflösen und die bisherige menschliche Geschichte zu einem Irrtum umdeuten. Ulrike Guérots Arbeit hält dagegen und stellt den Versuch dar, die Werte der alten Welt zu konservieren.

Joachim Z. Buchmann

Joachim Z. Buchmann hat sie alle gelesen. Zwischen Buchdeckeln und im echten Leben. Kritiker aus Liebe. Leser aus Leidenschaft. Rezensent aus Geldnöten.
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