Ein nicht gesendetes Interview zum Krieg in der Ukraine: Wer war es?

Nach der Bombardierung des Einkaufszentrum Petroville in Kiew. Screenshot aus einem tagesschau-YouTube-Video vom 21. März. Nicht erwähnt wird, dass es sich bei dem zerstörten Fahrzeug um ein Militärfahrzeug gehandelt haben könnte.

Es ging um den Medienkrieg, dass Skepsis gegenüber Berichten und Bildern aller Seiten angesagt ist und welche Rolle Medien dabei spielten sollten.

Wir setzen unsere Sammlung nicht veröffentlichter Interviews fort – mit erneut der Möglichkeit, beim Erraten des richtigen Mediums ein Buch „Medienanalyse: ein kritisches Lehrbuch“ gewinnen zu können; wer zuerst richtig tippt, erhält den Preis. In diesem Fall suchen wir einen TV-Sender. Ihre Antworten schicken Sie bitte an info [ät] medienverantwortung.de.

Die Interviewanfrage erhielt das Institut nach der Aussendung unserer Pressemitteilung zur Berichterstattung im und um den Krieg in der Ukraine, die auf der Website des Instituts für Medienverantwortung medienverantwortung.de verlinkt ist. Ihr Titel lautet: Kriegslügen aufdecken von allen Seiten – die Geschichte mahnt.

Darauf erhielt ich – Sabine Schiffer – direkt am 2. März eine Einladung aus Brüssel von einem großen deutschen Fernsehsender zum Interview für eine Sondersendung zur Ukraine, die mich noch am selben Tag ins entsprechende Studio in Berlin führte. Hier lesen Sie nun den Interview-Mitschnitt im Wortlaut (mit etwas wegredigierten Stottern) und dürfen raten, wer es in der besagten Sondersendung und vielen weiteren seither nicht gesendet hat.

Wohlgemerkt das Interview wurde Anfang März aufgezeichnet. Neue Entwicklungen im Medienkrieg sind dementsprechend nicht enthalten.

Journalist: Jeder Krieg ist immer auch ein Propagandakrieg. Was für eine Schlacht beobachten Sie da im Moment?

Sabine Schiffer: Ja, neben dem echten Krieg auch tatsächlich einen Medienkrieg. Eigentlich, dass man von allen Seiten nicht genau weiß, wer was weglässt oder was dazu dichtet. Und dass natürlich wir uns ja mit Desinformation aus Russland vielfach beschäftigt haben, aber wir auch feststellen müssen, dass durch fehlende Informationen natürlich auch Vorstellungen von der Situation oder auch von dem Hergang, wie es dazu genkommen sein könnte, konstruiert werden.

Journalist: Was meinen Sie damit?

Sabine Schiffer: : Nehmen wir beispielsweise die Regierungserklärung des Kanzlers, der von einer „Zeitenwende“ – sicher richtig –, aber auch vom „ersten Krieg auf europäischem Boden“ nach der KSZE Schlussakte von Helsinki sprach; das wurde bereits… der erste Krieg (und die Zeitenwende) hat natürlich mit dem Bosnienkrieg stattgefunden und ist dann in der Abspaltung des Kosovo letztendlich geendet; also Jugoslawienkrieg zusammengefasst. Und, wenn man das auslässt, dann kann man natürlich eher dafür werben, dass man jetzt nicht nur Sofortmaßnahmen ergreift, sondern eine riesen Umstrukturierung quasi für die gesamte Politik beschließt – Mittel für Militär, Abzug von Mitteln für die sozial-ökologische Transformation. Das ist eine Konstruktion; das ist im Grunde das, was man „strategische Kommunikation“ nennt. Gewissermaßen darf man das von politischer Seite. Medien sind dann natürlich dafür da, um das aufzudecken.

Journalist: Gut, da werden Dinge weggelassen. Aber beobachten Sie auch Lügen. Gibt es schon sowas? Was sind die größten Lügen in diesem Krieg?

Sabine Schiffer: Ehrlich, das ist total schwierig. Also, wir halten uns da eigentlich momentan noch zurück als Institut. Auch die Bilder, die gesendet werden… es sind ja schon einige sogenannte Fakes aufgetaucht. Die Bildzeitung hat sich schon entschuldigt. Man kann das immer wieder feststellen in solchen Krisen und Konflikten: anscheinend geht’s den Leuten nicht schnell genug mit schrecklichen Bildern. Und dann nimmt man die halt aus anderen Konflikten. Die reisen sozusagen. Das macht die Sache nicht besser. Und deswegen sind wir auch so zurückhaltend. Eine Verifikation in dem Sinne kann im Moment noch nicht ausreichend stattfinden. Das geht in der Schnelligkeit vielleicht auch nicht. Und bevor wir auch Dinge, die sich nachher als Fakes erweisen, propagieren, werben wir eher dafür, alles auf Herz und Nieren zu prüfen – was natürlich ein bisschen widersprüchlich ist in einer Zeit mit dieser Eskalation.

Journalist: Sie erwähnen jetzt, dass Medien Dinge nehmen, die gar nicht hier passiert waren, weil man vielleicht Bilder möchte. Sie erwähnen Politiker, die vielleicht Sachen untern Tisch fallen lassen. Aber, wie wird denn Desinformation… wird die nicht auch als Waffe eingesetzt? Was ist da typisch und was ist da hier jetzt zu beobachten?

Sabine Schiffer: Jetzt machen wir es mal so, machen wir es mal ganz provokant: Tatsächlich ist das Desinformation, so etwas wegzulassen. Das ist natürlich auch – wenn man so sagen will – eine Lüge, gewollt oder ungewollt; es entspricht nicht der Wahrheit.

Desinformation sozusagen, auch Geschichten zu erfinden noch dazu – weitergehende Lügen –, ja, da kann man vielleicht einen qualitativen Unterschied feststellen. Aber im Grunde genommen bleibt es tatsächlich… das wäre jetzt sozusagen mein Plädoyer von Medienseite, hinter allem ein Fragezeichen zu setzen. Und sich nicht so dem Reflex hinzugeben, es gibt glaubwürdige Quellen, es gibt unglaubwürdige Quellen. Die Desinformation findet vor allem im Internet statt usw.; da haben sich in den letzten Jahren so Mythen gebildet. Ja, das gibt es. Das gibt es auch.

Aber nehmen wir mal als Beispiel das Twittermädchen aus Syrien, das wurde dann wiederum durch einen Blog aus dem Internet aufgeklärt, nachdem es vielfach durch alle Hauptnachrichten gegangen ist. Das war ein Fake und das kann eben immer und überall passieren. Manchmal, dass man es bewusst macht. Da kann man sich die Stellen kritisch angucken, die dafür vielleicht bekannt sind. Aber, dass man vielleicht selber auch bei gutem Willen oder durch nicht durchschaute Soft Power quasi solchen Fakes aufsitzt. Damit wäre man dann in einer Kriegslogik und Teil des Medienkriegs.

Journalist: Aber, wird das nicht wirklich richtig gezielt eingesetzt von der ein oder anderen Seite. Wie läuft sowas?

Sabine Schiffer: Ja sicher. Da werden dann Heldengeschichten oder eben militärische Erfolge verkündet. Da werden Opferzahlen in die Welt gesetzt, die nicht verifziert oder sogar verifizierbar sind im Moment. Das sind dann Propagandalügen. Vielleicht erinnern wir uns an diesen irakischen Militärsprecher, der immer eine Story erzählte, die gar nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Ja wahrscheinlich können wir solche Dinge jetzt auch erleben – von russischer Seite, vielleicht auch von ukrainischer Seite. Es geht ja auch immer um die Stärkung der Moral der eigenen Leute. Da ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass wir es viel mit – ja – Propaganda zu tun haben.

Journalist: Nun soll es ja Videos von Kriegsgefangenen geben: Sie kennen die nicht, aber die sind offenbar auf dem Markt. Welche Rolle sollen oder könnten solche Medien nun spielen? Und eventuell von und auf beiden Seiten?

Sabine Schiffer: Videos von Kriegsgefangen habe ich noch keine gesehen und ich würde sie auch nicht sofort für bare Münze nehmen; sie sind vielleicht oder wirklich Fakt – ob sie dann trotzdem darüber hinaus oder zu anderen Zwecken noch eingesetzt werden, oder ob es eventuell Bilder aus anderen Konflikten sind… ich meine, der Krieg in der Ukraine herrscht ja seit acht Jahren… mmh, das können wir im Moment noch gar nicht beurteilen.

Wir können nur feststellen, dass es natürlich auch den strategischen Einsatz von Bildern gibt. Auch den strategischen Einsatz von Satellitenbildern. Zu bestimmten Zeiten gibt es keine Satellitenbilder, und zu ganz bestimmten Zeiten gibt es dann Satellitenbilder. Und dann gibt es so dubiose Institutionen, wie zum Beispiel Bellingcat, die jetzt für die Verifikation dieser Bilder zeichnen. Diese hat sich wieder als Quelle rehabilitiert, obwohl sie 2015 vom Spiegel im Nachgang der Ukraine-Krise 2014 ja bereits als unseriös arbeitend entlarvt wurde.

Ehrlich gesagt, die Frage muss ich jetzt zurück an Sie bzw. die Medien stellen – die kann ich gar nicht beantworten – wie man da durch den Dschungel steigt. Ich tu mich da leicht, so als Medienanalytiker von außen, das zu bemängeln. Aber so im Tagesgeschäft und in der Schnelligkeit diese Dinge zu prüfen… Sie haben ja Verifikationsstellen hier. Ich denke mal, die sind rund um die Uhr beschäftigt.

Journalist: Was würden Sie denn ganz generell jedem Einzelnen, der mit solchen Nachrichten konfrontiert wird, von denen er wirklich nicht weiß, ob das stimmt oder nicht. Was würden Sie raten? Wie soll man da vorgehen? Wie sollen Medien vorgehen?

Sabine Schiffer: Ganz konkret jetzt, immediat in dieser Kriese, aber auch allgemein: Nachrichten sind immer mit einer gewissen Vorläufigkeit zu konsumieren. Wir wissen einen Teil nach einer Weile, vielleicht, und einen großen Teil wissen wir nicht. Und die journalistische Neugier müsste ja bestrebt sein, die Lücken zu füllen. Das ist die Aufgabe der Recherche.

Ich sehe im Moment ein Problem darin beispielsweise, die russische Regierung als irr und psychopathisch abzustufen, weil – man kann diese natürlich kritisieren wegen ihres völkerrechtswidrigen Kriegs –, aber diese Pathologisierung verhindert womöglich, dass man an die Sache rangeht und fragt: Was war denn da nun genau? Was soll denn da genau gewesen sein? Was können denn die Gründe sein? Was hat sie zu dem Schritt getrieben? Wir haben es ja die letzten acht Jahre anders erlebt. Also quasi, sich diese Rechercheaufgabe durch solche Etiketten nicht aus der Hand nehmen zu lassen.

Journalist: Aber was empfehlen Sie jedem Einzelnen. Soll man jetzt Dinge einfach für bare Münze nehmen, nur weil es Bewegtbild ist und direkt aufgenommen wurde?

Sabine Schiffer: Da muss man tatsächlich aufpassen. Wir wissen über die Deep-Fake Technik und solche Dinge. Da wird ja auch immer wieder drüber aufgeklärt, dass man sogar Bewegtbild hervorragend manipulieren kann. Ich will nicht jedem Bild anhängen, man solle gar nichts mehr glauben. Aber gerade, wenn wir jetzt aktuelle Nachrichten konsumieren, die alle einer Schnelligkeitslogik unterliegen… da müssen wir Distanz wahren und sehr zurückhaltend sein und alles erst als vorläufig ansehen: Ich habe jetzt einen kleinen Teil, der stimmt, vielleicht, wahrscheinlich oder auch nicht. Und ich muss warten, bis ich mehr weiß – um darüber urteilen zu können. Und dann dürfen natürlich keine Selektionsprozesse einsetzen, dass man das einmal geschaffene Bild künstlich konstant hält.

Journalist: Das werden wir dann noch erleben, wenn das noch viel besser und ausgereifter wird. Wird dann überhaupt noch Wahrheit von Fake unterscheidbar sein?

Sabine Schiffer: Also, wir können das ja von vergangenen Konflikten sehen. Nehmen wir mal das Beispiel des Kriegs in Georgien 2008. Wir wissen heute – es ja auch den internationalen Haftbefehl für Saakaschwili -, dass flankiert von einer PR-Agentur aus Brüssel, ASPECTS, dieser Krieg begonnen und inszeniert wurde. Gesehen haben wir als Initialereignis die russische Reaktion während der Olympischen Spiele in China. Das ist also im Windschatten passiert. Das will jetzt natürlich nicht alles rechtfertigen, was da gelaufen ist. Aber wir stellen fest, bis heute ist die Wahrnehmung eine andere. Auch, dass es den Krieg in Jugoslawien gegeben hat in den 1990er Jahren, wissen viele Menschen nicht. Das ist nicht Teil des kollektiven Bewusstseins, des normalen Diskurses. Das alles macht ja was aus, wie man die Lage jetzt einschätzt.

Und das wird mit diesem Konflikt, mit diesem Krieg, wieder genauso werden. Es werden sich Dinge durchsetzen – man sagt ja, „die Geschichtsschreibung ist immer die Geschichtsschreibung des Siegers“ –, es wird sich ein Narrativ durchsetzen und ich befürchte, wenn es so wird wie in der Vergangenheit, dann wird jede Seite ihre Narrative pflegen und wir werden überhaupt nicht mehr zusammen kommen.

Am Ende werden Verhandlungen stehen – wie immer – nach vielen vielen Toten mehr. Was anderes bleibt gar nicht. Und da kann man sich vielleicht jetzt schon fragen, was man dazu beitragen kann, um das möglich zu machen.

—-

Anwesend waren ein Kameramann, ein Tontechniker und der Interviewer, der seine Leitfragen aus der Redaktion erhalten hatte, die er dann vermutlich an einigen Stellen ergänzte bzw. vertiefte. Es war eine konstruktive und professionelle Atmosphäre. Nach der Aufnahme kam ich mit dem Kameramann und dem Tontechniker ins Gespräch über die allgemeine und zunehmende Gefährdung von Journalisten im Krieg, die immer öfter nicht geschont, sondern anscheinend zur Vermeidung von störenden Eindrücken sogar primär attackiert würden – ein Kriegsverbrechen, das beiden Sorgen machte. Sie begannen ihre Schilderungen mit dem Irakkrieg und setzten bis heute fort. Aus der Ukraine wisse man noch nicht, ob auch gezielt Journalisten getötet würden, aber wir gingen alle davon aus.

Dass mein Interview – trotz unseres professionellen Konsenses – nicht in die übliche Dramaturgie der Sendungen passte, die ein klares Gut-Böse-Framing pflegte, war mir als aufmerksamem Beobachter öffentlicher Diskurse natürlich bewusst. Und dass letztendlich die Redaktion über die Gestaltung entscheidet und nicht diejenigen, die die O-Töne einsammeln, auch. In der Sondersendung hätte man aus diesem Interview maximal wenige Sekunden untergebracht – so ist es üblich. Insofern ermöglicht uns das Nichtausstrahlen, es hier in Gänze zu veröffentlichen.

Ähnliche Beiträge:

2 Kommentare

  1. „Da muss man tatsächlich aufpassen. Wir wissen über die Deep-Fake Technik und solche Dinge. Da wird ja auch immer wieder drüber aufgeklärt, dass man sogar Bewegtbild hervorragend manipulieren kann.“

    Jedes Bild und mehr noch jedes bewegte Bild schreit: ich bin authentisch, ich bin real. Du musst mir glauben.

    Aber die Bilder und Filme auf meinem Bildschirm sind etwas ganz anderes als das, was ich sehe, wenn ich mich abwende und aus dem Fenster schaue. Was ich draussen hinter dem Fenster sehe, ist authentisch, aber alles auf dem Bildschirm ist bearbeitete und konstruierte „mediale Realität“.

    Bilder lassen sich räumlich und zeitlich verschieben, in andere Zusammenhänge stellen, Ausschnitt und Perspektive der Kamera manipulieren die Wahrnehmungen schon lange bevor deep Fake im Einsatz ist.

    Bilder auf dem Bildschirm sind darum eher mit einem sprachlichen Text verwandt, der die Realität auch in Worte fasst, weglässt, vereinfacht, perspektivisch verkürzt, hervorhebt etc. Darum kann alles, was uns diese bearbeiteten und bearbeitbaren Bilder erzählen wahr oder unwahr sein.

  2. Gänze ist gut.
    Aber richtig Neues finde ich nicht darin. Viel zu lesen für wenige Sekunden als Ziel.
    Und für eine hübsche Beschwerde über Framing.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert