Die »Überschreitung« der Grenzen der Professionalität

Regenbogenflagge
Ivan Radic, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Wissenschaft ist heute zum großen Teil stark ideologisch aufgeladen. Die Sokal-Affäre aus den Neunzigern war ein Vorgeschmack auf die schöne neue Wissenschaftswelt.

Ein Buchauszug aus Catherine Lius »Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät«.

Im Jahr 1996, als die Zeitschrift Social Text Alan Sokals »Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity« veröffentlichte, glaubten die Herausgeber, sie würden das Werk eines – wie wir heute sagen würden – »woken« Physikers und Mathematikers veröffentlichen. Mit Fußnoten, die Theoretiker wie Derrida, Guattari und Deleuze zitierten, stellt Sokal die haarsträubende Behauptung auf, dass

[t]iefe konzeptionelle Veränderungen innerhalb der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts […] diese kartesianisch-newtonsche Metaphysik jedoch untergraben [haben]; revisionistische Untersuchungen über die Geschichte und Theorie der Wissenschaft […] an deren Glaubwürdigkeit weitere Zweifel [haben] aufkommen lassen, und zuletzt […] die feministische und poststrukturalistische Kritik den realen Inhalt der traditionellen wissenschaftlichen Praxis des Westens entmystifiziert und die hinter der Fassade der ›Objektivität‹ versteckte Herrschaftsideologie sichtbar gemacht [hat]. Dadurch wurde immer deutlicher, daß die physische ›Realität‹, nicht weniger als die gesellschaftliche, im Grunde ein soziales und sprachliches Konstrukt ist […].

Im Namen der poststrukturalistischen Theorie und des radikalen Relativismus, der seinen liberalen Pluralismus maskierte, verleugnete Sokals Artikel die Grundbausteine der modernen Wissenschaft – dass wir in einer Welt leben, in der die Gesetze der Physik herrschen, die beobachtet und beschrieben werden können. Eifrig dabei, diesen theoriefreundlichen, antiaufklärerischen Text zu unterstützen, der die Verwechslung von Relativismus mit Relativität erlaubte, waren die Herausgeber von Social Text Stanley Aronowitz, Bruce Robbins, Andrew Ross und die Peer-Reviewer des Artikels bereit zu glauben, dass Mathematik und allopathische Medizin nur darauf warteten, von der »Theorie« selbst unterbrochen und übertreten zu werden. Sokals Essay über Quantenphysik schien ein neues ma­triarchalisches Multiversum einzuleiten, das von instabilen, aber überschreitenden subatomaren Partikeln beherrscht wird, die im Slalom durch die Realität fliegen, dazu bereit, uns den Kopf zu verdrehen und unsere Geschlechter wie unsere Kultur zu verbiegen.

Die Guten im Kampf gegen die reaktionären Feinde

Nachdem Sokal offenbart hatte, dass sein Text ein Scherzartikel war, dafür vorgesehen, die fehlenden intellektuellen und wissenschaftlichen Bewertungsstandards einer der führenden Zeitschriften der Kulturwissenschaften aufzudecken, reagierten die Herausgeber herablassend, empört und defensiv. Sokal behauptete, dass die poststrukturalistische Theorie Betrug sei, nicht auf wissenschaftlicher Recherche oder Beweisen basierend, und von ehrgeizigen Autoren abhänge, die ordentlich Lärm machen und so die Aufmerksamkeit auf Schreckgespenster wie Wissenschaft und Objektivität lenken. Dagegen behaupteten die Herausgeber von Social Text, sie hätten Sokal nach der Einreichung seines Textes als naiven Wissenschaftler belächelt, der trotz seines ungeschickten und übereifrigen Versuches, diese Theorien zu verstehen, Unterstützung verdient hätte. Während sie ihn erst herablassend behandelten (indem sie ihn wohl angeblich ermutigten), verteufelten sie ihn, nachdem sie herausgefunden hatten, dass sein Artikel Unsinn gewesen war.

Sie beschuldigten Sokal des unethischen Verhaltens und der Böswilligkeit. Tatsächlich war es aber die Schuld der Herausgeber, die den Artikel veröffentlicht hatten. Dessen Publikation hat dem Ruf der Geisteswissenschaften stark geschadet, zumindest unter Akademikern. Physiker und Mathematiker und junge Wissenschaftler, die in den Bereichen der Quantenphysik und der Quantenchemie arbeiten, diskutieren auch heute noch die Ergebnisse der Sokal-Affäre. Theoretiker und Geisteswissenschaftler tendieren dazu, diese vergessen zu wollen. Wie dem auch sei, letztlich gab es für keinen der Herausgeber der Zeitschrift berufliche Konsequenzen. Im Gegenteil wurde der Ruf von Ross, Aronowitz und Robbins in den Kreisen der Theoretiker sogar noch aufpoliert, da sie vorgaben, die Guten im Kampf gegen die reaktionären Feinde der Theorie und der Identitätspolitik zu sein. Die drei Herausgeber repräsentierten das, was einmal die dominanten, von der PMC [Anm.: die Professional Managerial Class, Professionelle Managerklasse] genehmigten identitären Positionen in akademischen Kreisen werden würden. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Sokal-Affäre stattfand, als der Kulturkampf der amerikanischen Akademiker seinen Höhepunkt erreichte. An diesem Punkt stellten die Theorie- und Kulturwissenschaften alle Gegner ihrer erkenntnistheoretischen Neuheiten als Reaktionäre dar, die versuchten, an veralteten Ideen wie Objektivität und – schlimmer noch – Universalität festzuhalten.

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9 Kommentare

  1. versuchten, an veralteten Ideen wie Objektivität und – schlimmer noch – Universalität festzuhalten.

    Eine der nettesten Zusammenfassungen des Kulturkampfes um objektive Wissenschaften, die ich bisher gelesen habe… 👍

  2. An diesem Punkt stellten die Theorie- und Kulturwissenschaften alle Gegner ihrer erkenntnistheoretischen Neuheiten als Reaktionäre dar, die versuchten, an veralteten Ideen wie Objektivität und – schlimmer noch – Universalität festzuhalten.

    Nun halten aber gerade die ‘progressiven’ Identitätshanseln besonders hartnäckig gerade an der Universalität ihrer hehren ‘Werte’ fest…

    1. ja natürlich, die eigenen (SUBJEKTIVEN) Werte und Konzepte sollen doch eben unbedingt universell sein! Das macht doch den feinen Unterschied aus zwischen objektiver (also vom eigenen Willen unabhängiger) Realität und der subjektiven (dem eigenen Wollen und Denken untergeordneter) Werte-Ideologie (gleichzusetzen mit Machtstreben und Machterhaltung).

      1. Man sollte sie dazu verpflichten, sich den jeweils aktuellen Democracy Perception Index anzuschauen. Die von ihnen als Autokratien geschmähten, mithin zu belehrenden Länder haben, teilweise die besten Ratings (Zufriedenheit der Bevölkerung mit der im Land herrschenden Demokratie).
        Israel (83%), Vietnam (81%) und China (79%) bekommen von ihren Bürgern die höchsten Werte bei der Frage, ob ihr Land demokratisch sei.
        Beim wahrgenommenen Demokratiedefizit steht wiederum Israel insofern an der Spitze, als man dort den geringsten Unterschied zwischen den demokratischen Erwartungen und der Realität wahrnimmt; danach folgen die Schweiz, Indien, Taiwan, Norwegen, Vietnam, Singapur, Saudi Arabien, China, Hongkong.

        Die letzte Befragung fand im Februar 2024 statt.

        Und das bringt jetzt bitte mal jemand in einen sinnvollen Zusammenhang mit der “Universalität”.

        https://www.allianceofdemocracies.org/wp-content/uploads/2024/05/DPI-2024.pdf

        PS Ein Vergleich der Werte von Deutschland und China, insbesondere auch was Government Accountability angeht, legt den Gedanken nahe, daß wir von den Chinesen noch viel lernen könnten.

  3. Ja, es stimmt inzwischen, “daß die physische ›Realität‹, nicht weniger als die gesellschaftliche, im Grunde ein soziales und sprachliches Konstrukt ist” Beispiele CO2 Bedrohung, Klimakatastrophe, Geschlechterzahl, Nichtexistenz von Rassen, Extremismustheorien usw. . “An diesem Punkt stellten die Theorie- und Kulturwissenschaften alle Gegner ihrer erkenntnistheoretischen Neuheiten als Reaktionäre dar, die versuchten, an veralteten Ideen wie Objektivität und – schlimmer noch – Universalität festzuhalten.” Es ist schon erstaunlich, wie man vor Jahrzehnten Entwicklungen voraussah. Eigenartigerweise halten aber die woken Kulturrevolutionäre ihre Wahrheiten für objektiv und universell. Das erinnert an die chinesische Kulturrevolution. Was aber die meisten Leute nicht wissen, nach zwei Jahren ließ Mao die Kulturrevolutionäre zusammenschießen und errichtete mit Lin Piao eine Militärdiktatur. “Ende 1968 rief Mao Zedong die intellektuelle Jugend dazu auf, „in die weite Welt hinauszugehen“. Zehn Millionen Mittelschüler wurden aufs Land geschickt, um „von den Bauern zu lernen“. Sie verließen nun die Städte, in denen sie als Rote Garden Geschichte gemacht hatten.” (Wikipedia) “In der Endphase der Kulturrevolution lernten sie die bittere Lektion des Verrats durch ihre eigenen Idole.” (Fischer Weltgeschichte Bd. 36 S.288) Und die Moral von der Geschicht: mit Spinnern lässt sich auf Dauer kein Staat machen.

    1. An die Roten Garden muss ich auch immer denken, wenn ich mal wieder lese, was Wokeschisten und Genderasten veranstalten. Nicht, dass ich was für Mao übrig hätte. Aber die Idee, sie auf das Land zu schicken, um von den Bauern zu lernen, finde ich jetzt mal nicht so schlecht.

      Dass die Vögel, die diesen Artikel zur Annahme vorschlugen, sich anschließend noch in die Öffentlichkeit trauen, irritiert eigentlich nicht mehr. Die sind so vollkommen jenseits moralischer und wissenschaftler Maßstäbe, die kann man nicht mal mehr verspotten.
      Normale Menschen wären auf den Dachboden gegangen und hätten sich erhängt, um nicht mit der Schande leben zu müssen.

  4. Nun war das im Jahr 1996 noch Satire, aber inzwischen ist genau das Realität. Was im Buch weiter hinten sicher noch kommt. Um es kurz zu machen: das sind die verwöhnten Kinder der Reichen, die es als unzumutbar empfinden, sich anstrengen zu müssen. Stimmt ja, die Schrödingergleichung ist schwerer zu verstehen als Genderwissenschaft. Nur eben hat man die Errungenschaften der Neuzeit nur erzielt, weil man die Naturgesetze ergründet hat. Wodurch Autos, Bahnen und Raumfahrzeuge erst möglich waren. Aber dafür haben sie nur Geringschätzung übrig.
    Ich beobachte in allen naturwissenschaftlichen Foren in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang. Weniger Beiträge oder ganz eingestellt. Diese Propaganda verfängt offenbar und von der anderen Seite kommen Corona- und Klimaleugner. Alles meiner Meinung nach die Voraustruppen eines kommenden Mittelalters.
    Die Mpderne wehrt sich hoffentlich. Akteure sind allerdings noch nicht zu sehen.

    1. “Die Mpderne wehrt sich hoffentlich.”
      Ach was, das IST die Moderne oder vielleicht schon die Post-Moderne.

      “Akteure sind allerdings noch nicht zu sehen.”
      Sie müssen nach Osten schauen. Im Westen geht nicht nur die Sonne unter.

  5. Die Objektivität zu leugnen oder gar als abstruses Konstrukt zu beschreiben ist in meinen Augen Gedankenfaulheit.
    Das wäre so, als würde man einen auf einer engen Straße entgegenkommenden Wagen ignorieren und einfach weiterfahren. Kann man machen, doch die Konsequenz folgt auf dem Fuß.
    Wenn wir die objektive Umgebung nicht beschreiben können, heißt das nicht, dass sie nicht existiert. Das Gleiche gilt für Universalität.

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