Die Schüsse von Sarajewo – oder: Wenn ein Zufallsfunke genügt …

Sarajewo, 1914: Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand
Achille Beltrame, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Ermordung des Habsburger Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 brachte eine Lawine ins Rollen, an deren Ende der Ersten Weltkrieg stand. Einen Automatismus gab es allerdings trotz des vorausgegangenen allseitigen Wettrüstens nicht. Die Fahrt in den Abgrund hätte gestoppt werden können – hätten alle Akteure nicht den damit verbundenen ‚Gesichtsverlust‘ gescheut. (Parallelen zur Gegenwart sind rein zufällig …)

Der Besuch war eine Provokation. Das war allen direkt und mittelbar Beteiligten klar. Ausgerechnet am Vidovdan (St. Veitstag) – dem für die Serben heiligen Tag ihrer mythologisch überhöhten Niederlage 1389 gegen die Osmanen –, ausgerechnet am 28. Juni 1914, dem 525. Jahrestag der „Schlacht auf dem Amselfeld“, dem Symbol für den serbischen Freiheitsdrang und Unabhängigkeitsanspruch, besuchte Österreich-Ungarns Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand zusammen mit seiner Frau, der Herzogin Sophie Chotek von Chotkowa, die Hauptstadt der von der Habsburger Doppelmonarchie fast sechs Jahre zuvor annektierten Provinz Bosnien, Sarajewo.

In der Region, die seit dem Berliner Kongress 1878 – formal noch zum Osmanischen Reich gehörend – unter österreich-ungarische Verwaltung gestellt, 1908 jedoch von Habsburg annektiert worden war, brodelte es schon lange. Die der österreichischen Herrschaft gegenüber feindselig eingestellten bosnischen Serben strebten eine Vereinigung mit ihrem ‚Mutterland‘ an, wo panslawistische Strömungen dominierten. Serbien seinerseits hatte bereits während des Berliner Kongresses Ansprüche auf die Provinzen Bosnien und Herzegowina erhoben.

An Warnungen im Vorfeld hatte es nicht gemangelt, selbst Belgrad hatte klandestin vage Hinweise auf Attentatspläne lanciert. Aber Franz Ferdinand hatte sie alle in den Wind geschlagen. Der Besuch Sarajewos sollte seinem Entschluss zufolge genau an jenem 28. Juni stattfinden. In seinem Roman „Die Schüsse von Sarajewo“ kommentiert der österreichisch-serbische Schriftsteller Milo Dor das Verhalten des designierten Habsburger Thronfolgers: „Entweder war er stur, oder er hatte kein Taktgefühl. Wahrscheinlich traf beides zu. Er wusste nur zu gut, was für eine Stimmung in Bosnien herrschte.“

Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

Die Macht des Zufalls

Zwangsläufig war allerdings nichts. Immer wieder hatte der Zufall seine gespenstische Hand im Spiel.

Als Franz Ferdinand, vom nahegelegenen Kurort Ilidža kommend, wo er am Vortag dem Abschluss der Manöver des XV. und XVI. k.u.k. Korps in Bosnien beigewohnt hatte, am Vormittag des 28. Juni zusammen mit seiner Frau Sophie im aus sechs Fahrzeugen bestehenden Konvoi und – darauf hatte er bestanden – offenem Verdeck den Miljacka-Fluss entlang durch das Zentrum Sarajewos Richtung Rathaus fuhr, da warteten, entlang der Route verteilt, unter den jubelnden Zuschauern am Straßenrand bereits sechs junge Männer des serbischen Geheimbunds „Schwarze Hand“, unter ihnen der neunzehnjährige Gavrilo Princip, darauf, das Symbol des verhassten Habsburger Staates zu ermorden. Die Nachlässigkeit der Verantwortlichen hatte es ihnen leichtgemacht: Die Sicherheitsvorkehrungen waren gering ausgefallen – Kontrollen und Absperrungen gab es keine –, Zeitplan und Fahrtroute waren zudem Wochen zuvor in den lokalen Zeitungen bekanntgegeben worden.

Zunächst einmal ging für die Attentäter allerdings so gut wie alles schief. Als die Kolonne gegen 10 Uhr auf dem Apfelkai den ersten Mörder in spe passierte, unternahm dieser – nichts. Der zweite, so zumindest die Legende, brachte es angeblich nicht über sich, das schneeweiße Kleid der Herzogin mit Blut zu beschmieren. Erst der dritte schleuderte die Bombe auf den Wagen des Erzherzogs, wo sie am zurückgeklappten Verdeck des Fahrzeugs – anderen Quellen zufolge am Arm Franz Ferdinands – abprallte und auf der Straße, kurz vor dem nachfolgenden Automobil detonierte und dort drei Insassen sowie einige am Straßenrand stehende Passanten leicht verletzte. Auf Befehl des Erzherzogs setzte der Konvoi seine Fahrt ungerührt programmgemäß fort und passierte auf dem Weg zum Rathaus zwei weitere Attentäter, die jedoch nichts unternahmen.

„Herr Bürgermeister, da kommt man nach Sarajewo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend!!“, schnaubte der Thronfolger das Stadtoberhaupt und die versammelten lokalen Honoratioren wütend an, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.

Bei den folgenden Ereignissen spielte wiederum der Zufall eine verhängnisvolle Rolle.

Nach dem Empfang im Rathaus, der eine knappe Stunde gedauert hatte, fasste Franz Ferdinand den Entschluss, die Verletzten im Militärspital zu besuchen – die Route wurde also geändert, allerdings nicht mit der örtlichen Polizei abgesprochen, worauf die Kolonne, irrtümlich auf den ursprünglich vorgesehenen Rückweg geleitet, die Anreiseroute in umgekehrter Richtung wieder zurückfuhr. Als der in einem der Wagen sitzende und für den Programmablauf zuständige Militärgouverneur Oskar Potiorek den Irrtum bemerkte, ließ er den Konvoi auf der Höhe der Lateinerbrücke stoppen, um zu wenden und zur geänderten Route zurückzukehren. – Was nun geschah, schildert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem Wälzer „Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918“:

„Doch just an der Stelle, wo das Auto mit Franz Ferdinand und seiner Frau anhielt, befand sich der bosnische Serbe Gavrilo Princip. Als Einziger der Attentäter hatte er nach dem Fehlschlag des ersten Anschlagsversuchs nicht aufgegeben, sondern war an der vorgesehenen Route geblieben und hatte auf eine zweite Chance gewartet. Die bot sich ihm jetzt und er feuerte auf das zum Stillstand gekommene Fahrzeug zwei oder drei Schüsse ab. Ein Schuss traf den Erzherzog in die Halsvene, ein anderer die Herzogin Sophie in den Bauch. Der Wagen raste nun zur Residenz des Militärgouverneurs, die sich nur wenige Minuten vom Ort des Attentats entfernt befand. Von einem Begleiter nach seinem Befinden befragt, versicherte Franz Ferdinand, es sei nichts und wiederholte dies mehrfach. Als die Fahrzeugkolonne die Residenz erreichte, war Herzogin Sophie bereits ihren schweren Verletzungen erlegen; eine Viertelstunde später starb auch der österreichisch-ungarische Thronfolger.“

Im Autopsiebericht äußerte der untersuchende Arzt später die Ansicht, die Verletzungen wären nicht tödlich gewesen, wäre die Kugel etwas weiter rechts oder links eingedrungen. Sie habe Franz Ferdinand mehr oder weniger zufällig getroffen, da es Princip in der Eile unmöglich gewesen sei, genau zu zielen.

„Die Vorstellung von der Wirkmacht des Zufalls“, schreibt Münkler für einen kurzen Moment kontrafaktische Geschichtsschreibung betreibend, „hat etwas ebenso Verführerisches wie Entsetzliches. Es hätte dann weder die zehn Millionen Gefallenen gegeben noch die Millionen Toten, die infolge des Krieges an Hungerka­tastrophen und Pandemien gestorben sind, ebenso wenig die Opfer des russischen Bürgerkriegs als indirekte Kriegsfolge oder die Opfer des Stalinismus, weiterhin nicht die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus und auch keinen Zweiten Weltkrieg.“

Intermezzo: Die vorgestrige „Welt von Gestern“

„Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands.

Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910. Wien, Mailand, Paris, London, Amsterdam – wann immer man wiederkam, war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete. Überall entstanden neue Theater, Bibliotheken, Museen; Bequemlichkeiten, die wie Badezimmer und Telephon vordem das Privileg enger Kreise gewesen, drangen ein in die kleinbürgerlichen Kreise, und von unten stieg, seit die Arbeitszeit verkürzt war, das Proletariat empor, Anteil wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens zu nehmen. Überall ging es vorwärts.

Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst wurden schöner und gesünder dank des Sports, der besseren Ernährung, der verkürzten Arbeitszeit und der innigen Bindung an die Natur. Und die Berge, die Seen, das Meer lagen nicht mehr so fernab wie einst. Das Fahrrad, das Automobil, die elektrischen Bahnen hatten die Distanzen verkleinert und der Welt ein neues Raumgefühl gegeben. Wer Ferien hatte, zog nicht mehr wie in meiner Eltern Tage in die Nähe der Stadt oder bestenfalls ins Salzkammergut, man war neugierig auf die Welt geworden, ob sie überall so schön sei und noch anders schön; während früher nur die Privilegierten das Ausland gesehen, reisten jetzt Bankbeamte und kleine Gewerbsleute nach Italien, nach Frankreich. Es war billiger, es war bequemer geworden, das Reisen, und vor allem: es war der neue Mut, die neue Kühnheit in den Menschen, die sie auch verwegener machte, weniger ängstlich und sparsam im Leben – ja, man schämte sich ängstlich zu sein. Eine ganze Generation entschloss sich, jugendlicher zu werden. 

Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft; niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ‚gute alte Zeit‘.“

So schilderte uns Anfang der Vierzigerjahre, mitten im Zweiten Weltkrieg, Stefan Zweig seine „Welt von Gestern“.

Die Julikrise – oder: Der vermeintliche Determinismus

Die den Schüssen von Sarajewo nachfolgenden vier Wochen – an deren Ende dann die berühmte Kettenreaktion der Mobilmachungen und Kriegserklärungen infolge wechselseitiger Bündnisverpflichtungen stand und die schließlich alle Akteure in den Abgrund riss –, diese knappe Frist ist unter dem Begriff „Julikrise“ in die Geschichtsschreibung eingegangen. Und auch hier, man kann es nicht oft genug betonen, gab es keinen Determinismus. Anders formuliert: Es gab keinen zwangsläufigen Weg in die „Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts“!

Gewiss: Die mit dem Deutschen Reich verbündete und durch interne Nationalitätenkonflikte geschwächte Habsburger Doppelmonarchie sah sich durch den (von Russland unterstützten) Panslawismus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan entstandenen Mittelmacht Serbien, die ihrerseits gerade mühsam die jahrhundertelange osmanische Herrschaft abgeschüttelt hatte, herausgefordert. – Gewiss: Das mit dem zaristischen Russland verbündete Königreich Serbien sah sich umgekehrt bereits im Zuge des Berliner Kongresses und erst recht durch die Annexion von Bosnien-Herzegowina 1908 in seinen territorialen Ansprüchen von Österreich über den Tisch gezogen. – Gewiss: Das Zarenreich hatte seine Aspirationen auf den Balkan als Einflusszone und Tor zum Bosporus und den Dardanellen nicht aufgegeben und in den Jahren zuvor mit französischer Unterstützung ein modernes Eisenbahnnetz errichtet, das es nun in die Lage versetzte, Truppenverlegungen gen Westen doppelt so schnell zu organisieren. – Gewiss: Der Weltmacht Großbritannien war auf dem Kontinent in Gestalt des Deutschen Reiches nicht nur ein ernstzunehmender Wirtschaftsrivale herangewachsen. Dieser hatte zudem, vor allem im Bereich der Kriegsflotte, mächtig aufgerüstet und wiederholt parvenuhaft den Mund ziemlich weit aufgerissen. – Gewiss: Im mit Russland und Großbritannien verbündeten Frankreich sann man nach der schmachvollen Niederlage von 1871 auf Revanche und setzte für den Fall eines Krieges auf einen raschen Einmarsch Russlands in den deutschen Osten. – Gewiss: Im in der Mitte des Kontinents gelegenen Deutschen Reich kursierten Ängste vor einer politischen Einkreisung durch Frankreich und Russland.

Kurz: Die europäischen Großmächte hatten bereits ein gigantisches Pulverfass aufgetürmt. Niemand aber war wirklich gezwungen, die Lunte anzulegen oder diese gar entzünden! Immer wieder waren in den Jahren zuvor auch brandgefährliche Krisen durch kluge Diplomatie eben dieser Akteure noch im letzten Augenblick beigelegt worden.

Und zunächst schien man nach dem Attentat auch überall wieder schnell zur Tagesordnung überzugehen. In Österreich-Ungarn hatte die Ermordung Franz Ferdinands kaum mehr als einen vor­übergehenden Schock ausgelöst. Der stets arrogant auftretende Thronfolger und seine kühle Gattin waren bei der Bevölkerung nie sonderlich beliebt gewesen. (Hohe ungarische Militärs sollen insgeheim gar in Jubel ausgebrochen sein, als sie von den Schüssen in Sarajewo erfuhren.) Habsburgs wichtigster Verbündeter, der deutsche Kaiser Wilhelm, war auf Sommerreise in die norwegischen Fjorde abgetaucht, und von den hektischen Aktivitäten im Hintergrund – allen voran dem ‚Blankoscheck‘, den die deutsche Führung am 6. Juli Österreich-Ungarn für ein hartes Vorgehen gegen Serbien ausstellte und damit fahrlässig einen Konflikt mit dessen Schutzmacht Russland in Kauf nahm – bekam die Öffentlichkeit in den europäischen Ländern anfangs so gut wie nichts mit.

Auf das in Ton und Inhalt nahezu inakzeptable Ultimatum, das das zunächst eher zögerlich agierende Österreich dann – mit deutscher Rückendeckung – am 23. Juli Serbien unterbreitete, ging Belgrad zur allgemeinen Überraschung in Wien und Berlin sogar sehr weit ein, womit eigentlich der unmittelbare Anlass, dem Land „militärisch eine Lektion zu erteilen“, entfallen wäre. Wiens Unnachgiebigkeit bei der Forderung, binnen achtundvierzig Stunden österreichische Beamte an den Nachforschungen nach den Hintermännern des Attentats zu beteiligen und einreisen zu lassen – die einzige Forderung, die Belgrad dezidiert zurückgewiesen hatte –, machte jedoch alles zunichte.

Inzwischen war die russische Regierung zu der Überzeugung gelangt, sich keinen weiteren Gesichtsverlust in Südosteuropa leisten zu können und stellte ihrerseits Belgrad einen ‚Blan­ko­scheck‘ aus. Herfried Münkler: „Ein über die serbische Regierung hinweg geschlossener Kompromiss zwischen Wien und St. Petersburg wäre unter diesen Umständen der eigentlich naheliegende Ausweg gewesen. Aber dazu hätte Wien mit den Russen Gespräche führen müssen, und das wollte die österreichische Regierung nicht.“

Trotzdem schien auch jetzt noch nicht alles verloren. Noch am Montag, dem 27. Juli berichtete die Wiener Neue Freie Presse über britische Versuche, den Frieden wiederherzustellen. Schließlich waren die Bündnisse keineswegs so zwingend, wie man später oft glauben machen wollte: Das Deutsche Reich war durchaus nicht verpflichtet, Österreich-Ungarn in diesem Konflikt zu Hilfe zu kommen, Russland musste Serbien nicht um jeden Preis Beistand leisten und England war nicht gezwungen, wegen Belgien – das Deutschland, dessen erklärte Neutralität missachtend, ab dem 4. August brutal überrollte – in den Krieg einzutreten.

Die rasende Fahrt in den Abgrund

Am 28. Juli jedoch erklärte die Donaumonarchie Serbien den Krieg, österreichische Kanonenboote beschossen Belgrad, der verhängnisvolle Dominoeffekt von gegenseitigen Ultimaten, Mobilmachungen und Kriegserklärungen kam in Gang und eine Woche später befanden sich Österreich-Ungarn, Serbien, Russland, Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien bereits im Krieg!

War die Kriegsmaschinerie aber erst einmal angelaufen, radikalisierten sich auch die Kriegsziele immer rasanter. So hieß es etwa im Septemberprogramm 1914 des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg – die deutsche Offensive gegen Frankreich war bereits gescheitert –, zur „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit“ sei Frankreich so zu schwächen, „dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann.“ Russland solle nach Möglichkeit von der Grenze „abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“

Eine verhängnisvolle Rolle als Scharfmacher spielten nicht zuletzt die Intellektuellen und, wohl erstmals in Mitteleuropa, die Presse. Herfried Münkler: „Nicht nur die wenigen Skeptiker und Pazifisten, die vor dem Krieg gewarnt und nach seinem Ausbruch auf seine schnelle Beendigung gedrängt haben, sondern auch die Annexionisten waren Intellektuelle. Viele von ihnen sind dezidiert regierungskritisch aufgetreten und haben dabei – ohne spezifische Expertise und rein wertorientiert argumentierend – im typischen Stil von Intellektuellen den auf eine Politik der Zurückhaltung und Mäßigung bedachten Reichskanzler aufs heftigste attackiert. Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die Intellektuellen, und zwar auf beiden Seiten, eine politisch einflussreiche Rolle gespielt haben: Die Deutungseliten haben sich nachhaltig in das Geschäft der Entscheidungsträger eingemischt, und dabei haben sie mehr zur Eskalation als zur Moderation des Kriegsgeschehens beigetragen.“ [Hervorhebungen L.E.]

Zusammenfassend betont Münkler, der Krieg hätte bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Ein Zusammenspiel von Angst und Unbedarftheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen habe auf einen Weg geführt, „auf dem schließlich keine Umkehr mehr möglich schien: Ende Juli 1914 nicht, als dies noch relativ einfach gewesen wäre, aber alle Seiten den damit verbundenen ‚Gesichtsverlust‘ scheuten, und auch nicht während des Krieges, als längst klar war, dass jeder weitere Schritt irreparable Verheerungen nicht nur beim Gegner, sondern auch in der eigenen Gesellschaft hinterlassen würde.“ Deutschland, das vier Jahre später den Krieg mit über zwei Millionen gefallenen Soldaten endgültig verlor, hatte auch nach dem Scheitern der Offensive gegen Frankreich im September 1914 nichts unternommen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Im Gegenteil: Der jahrelange und für alle Seiten höchst verlustreiche Stellungskrieg an der Westfront begann erst richtig …

Die Benzinfässer und der Funke des Zufalls

Und die ‚Moral von der Geschicht‘?

Dramatische Zufälle wie die Schüsse von Sarajewo wird man, namentlich zu Zeiten starker Spannungen, in den Beziehungen zwischen hochgerüsteten Großmächten immer einkalkulieren müssen. Aber man könnte, würde man es denn wollen, im Vorfeld (und auch später noch) einiges dafür tun, die möglichen Folgen zumindest zu begrenzen.

Sagen wir es so: Wenn ein gigantischer Berg von Benzinfässern auf engstem Raum aufgetürmt ist, dann muss das ganze Lager natürlich nicht automatisch in die Luft fliegen. Es kann durchaus alles noch eine kürzere oder längere Zeit ‚gutgehen‘. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ein Zufallsfunke eine monströse Detonation auslösen kann, steigt allerdings exponentiell. Vor allem dann, wenn alle Anrainer nicht nur keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, sondern auch noch munter zündeln… Vielleicht wäre es ja doch besser, Benzinfässer – zumal in Unmengen – gar nicht erst anzuhäufen.

Es gibt Risiken, die nicht eingegangen werden dürfen!

Leo Ensel

Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigheit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.
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71 Kommentare

  1. Das ist ausgezeichnet beschrieben. Danke Leo.
    Hat man denn nichts gelernt? Doch man hat. Da ist die NATO, die das verhindern soll. Ein Zusammenschluss der Staaten der Ersten Welt, das sich kollektiv verteidigt. Aber auch eine Wiederholung von Sarajewo verhindern soll. Man ist in der NATO vor Angriffen derer geschützt, die nicht drin sind. Noch wichtiger aber die Sicherheit vor denen, die drin sind. Die NATO hat Beides bisher ausnahmslos geschafft und das ist eine beachtenswerte Leistung. Von daher wird mir immer etwas schwummrig, wenn ein Austritt gefordert wird.
    Problem ist, dass die NATO daneben eben auch Beute machen will. Wir sind im Kapitalismus und da bleibt das nicht aus. Die gesamte Osterweiterung fällt unter dieses Bestreben und es ist gelungen, die Mitgliedsstaaten zu indoktrinieren und zu militarisieren. DAS ist der Kritikpunkt.

    Intellektuelle haben wir inzwischen ja erfolgreich abgeschafft. Insofern ist deren Kriegstreiberei nicht mehr zu befürchten. Halt – vor ich Unrecht tue: wir haben Richard David Precht. Der wird nicht kriegstreiben. Wenigstens das.

    1. Das Problem mit der Nato ist,daß sie zu einem Agressor (kein Verteidigungsbündnis mehr)geworden und komplett unter amerikanischer Kontrolle ist und die imperialen Kriege der USA mitmachen muss .(Serbien,Afghanistan,Iran,Ukraine usw.)

      1. Das war nie, kemen einzigen Tag , anders. Deshalb hatten sie auch kein Problem damit, die damals durch und durch faschistische Bundeswehr nahtlos zu integrieren.

    2. Die NATO war immer nur ein aggressives Instrument zur Sicherung der Hegemonie der amerikanischen war pigs, die seit WK2 die Welt permanent in Blut badeten. An keinem einzigen Tag ihres Bestehens diente sie der Verteidigung. Du sonderst eine Reihe von Phrasen ohne einen Hauch von Evidenz ab,
      Ich wiederhole, was ich hier vor Tagen schon schrieb : Nach der Niederlage des Realsozialismus hatte der Westen Zugriff auf auf alle militärischen Unterlagen des Feindes. In der Jelzinzeit sogar auf die russischen. Nicht, dass sie es nicht immer gewusst hätten, aber sie fanden keine Angriffspläne. Weil es die nie gab. Was man fand, war, dass sie in Falle eines Krieges Krieg führen würden. Nicht sehr überraschend.

      Ich kenne keinen einzigen Menschen persönlich, der über ausreichend Verstand und Anstand verfügt, der diese von dir vorgetragene Propaganda zur Grundlage ernsthafter Überlegungen machen würde.

    3. „beachtenswerte Leistung“ – soviel zum „Verteidigungs“bündnis:
      wiki: „Der Kosovokrieg wurde kontrovers diskutiert: Die NATO griff die Bundesrepublik Jugoslawien an, ohne dafür ein UN-Mandat zu haben und ohne dass ein Mitgliedsland angegriffen und so der Bündnisfall der NATO ausgelöst worden wäre. Nach Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta war der Kosovokrieg der NATO somit ein völkerrechtswidriger Angriff.“

      Ich werde nie die damals noch öffentlich getätigten und gesendeten Aussagen des Brigadegeneral Heinz Loquai vergessen, der in diesem Vorgehen der NATO den Auftakt für weitere Kriege, den Präzedenzfall für die Durchsetzung des Krieges als Mittel der Politik ansah:
      ….. Ausschaltung der UNO und die Dominanz der Vereinigten Staaten bei der Eskalation zum Krieg, die sich um Verbündete kaum kümmerte, und der feste Wille, Krieg zu führen, durch Krieg einen Regimewechsel zu erreichen. Es war ein Präventivschlag.. und ja, Krieg als Mittel der Politik wieder salonfähig zu machen.
      https://www.deutschlandfunk.de/heinz-loquai-weichenstellungen-fuer-einen-krieg-100.html

      bezeichnender Weise wird diese Warnung und die Haltung Loquais im Wikipedia-Artikel gar nicht erst erwähnt

      1. Tja, die Sowjetunion als Gegengewicht war weg also konnte man machen, was man als Imperium so macht. Es war meiner Meinung nach unausweichlich, weil auf die Güte und Moral von Regierungen zu Vertrauen ist naiv. Die USA waren die einzige Weltmacht seit Ende der UdSSR. Das kommt jetzt aber auch zu seinem Ende mit BRICS auf dem aufsteigenden Pfad.

    4. Die „Sicherheit vor denen. die drin sind“, bestand für den ukrainischen demokratisch gewählten Präsidenten Janukowytsch erst gar nicht. Sie bestand auch schon vorher für Serbien nicht.

      Bei Israel dagegen reicht es ohne Frieden nur zu einer „Partnerschaft“. Macht aber faktisch wenig Unterschied.

      Aber Du hast recht: neben der NATO kann auch der Kapitalismus weg.

  2. Kurz: Die europäischen Großmächte hatten bereits ein gigantisches Pulverfass aufgetürmt. Niemand aber war wirklich gezwungen, die Lunte anzulegen oder diese gar entzünden! Immer wieder waren in den Jahren zuvor auch brandgefährliche Krisen durch kluge Diplomatie eben dieser Akteure noch im letzten Augenblick beigelegt worden.

    Wenn man alles wegstreicht, was die „Krisen“ so „brandgefährlich“ macht, also alle politischen Zweck ignoriert, dann kommt so ein Artikel bei raus: eine Aufzählung von Ereignissen, „Zufällen“ und verhängnisvollen Entscheidungen, die gar nicht zwingend waren.

    Sagen wir es so: Wenn ein gigantischer Berg von Benzinfässern auf engstem Raum aufgetürmt ist, dann muss das ganze Lager natürlich nicht automatisch in die Luft fliegen. Es kann durchaus alles noch eine kürzere oder längere Zeit ‚gutgehen‘. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ein Zufallsfunke eine monströse Detonation auslösen kann, steigt allerdings exponentiell. Vor allem dann, wenn alle Anrainer nicht nur keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, sondern auch noch munter zündeln… Vielleicht wäre es ja doch besser, Benzinfässer – zumal in Unmengen – gar nicht erst anzuhäufen.

    Es gibt Risiken, die nicht eingegangen werden dürfen!

    Kriege brechen nicht aus. Der Vergleich mit den Benzinfässern suggeriert eine gefährliche Situation, bei der ein unbeabsichtigter(!) Funke reicht, um alles zu entzünden.

    Das ist Bullshit

    Die Staaten rüsten für den Krieg, d.h. sie kalkulieren mit ihm, sie wollen ihn. Die Vorstellung, dass Politiker (zu) hohe Risiken(!) eingehen, ist eine einzige Verharmlosung der politischen Zwecke.

    1. Im Text wird das Wort Zufallsfunke und nicht „…unbeabsichtigter(!) Funke…“ verwandt.
      Dies sind zwei unterschiedliche Dinge.

      Das beste Beispiel für Zufallsfunken sollte besonders heute hinlänglich mit ‚Petrow‘ und ‚Fehlalarm/Software 1983‘ bekannt sein!
      Der Möglichkeiten und Fehlerquoten mit fatalen, aber finalen Auswirkungen gibt es heutzutage unzählbare mehr.

      Das Beispiel ist daher keineswegs absurd, sondern zwingend! logisch. Denn nur auf einem vollen Pulverfass sitzend, kann man sich versehentlich, aufgrund „unglücklicher“ Umstände oder geplant/gezielt, aber unumkehrbar ins Jenseits befördern.
      Mit einem leeren funktioniert das NIE!

        1. Nicht unbedingt. Die Akteure haben die Pulverfässer bewusst so gestapelt, dass bereits ein Funke ausreichte (fast alle wollten diesen Krieg).

          Aber ob es am Ende das Resultat der aufgeheizten Lage war (quasi selbsterfüllende Prophezeiung), oder ob jemand bewusst dem Zufall aushalf, lässt sich daraus nicht schliessen.

        2. „..negiert die bewusst handelnden Subjekte…“
          Ist bedauerlicherweise allgemein gepflegter und akzeptierter Usus.
          Ob im Privatleben, dem All- oder Geschäftstag, dem Miteinander, national oder international etc. – STETS werden Subjekte aufgrund erdachter Ursachen negiert/freigesprochen.

          So schieben Sie: „Die Staaten rüsten für….“
          Staaten sind KEINE Subjekte, sondern bestehen aus einer Vielzahl einzelner Subjekte, die in Minderheit einerseits erfolgreich Interessen verfolg(t)en bzw. andererseits mehrheitlich solchen, die entweder durch Unterlassung/oder Unterstützung den Erstgenannten zu Superlativen und deren Sicherung verhelfen, aber immer offensiver jammern: Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ mich nicht nass!

          WENN man also über Subjekte jeden will, soll und muss (sorry: eventuell, unter Umständen, vielleicht, wenn’s genehm wäre, intellektuell nicht überfordert, den eigenen Wohlfühlhorizont nicht unangenehm erweitert), dann bitte auch über ALLE*. ☝️

          *Aber im Vertrauen gesagt: (Selbst)Erkenntnissen/Reflexionen kämen ohnehin zu spät.

        3. @ im Vertrauen gesagt: ++++++
          +++++++ stimmt absolut ! Kriege
          passieren nicht einfach so. Kriege werden vorbereitet, um geführt zu
          werden. Alles andere ist Lügenpro paganda, die auch hier verfängt.

    2. Ich stimme Ihnen mit der Intention zu.
      Und sofort kommen Tätercharakter den Tätern zu Hilfe.
      Gucken Sie sich mal die Antworten unter Ihrem Post an.
      TÄTERCHARAKTER!

  3. Wirklich armselig. Es wird so getan wie wenn nicht Kräfte am Werk wären, die genau das so wollten und wollen wie es geschah und geschieht.

    Hier ist ein Volksverdummer aller erster Güte am Werk.

    Und sein Spießgeselle ArturdasZeh springt gleich peinlich bei.

    1. Klär uns doch auf, wer wollte das?

      Meines Wissens hatten die Briten einen gehörigen Anteil und ihre Freude und ihren Gewinn daran, den Kontinent gegeneinander auszuspielen, dem Konkurrenten Deutschland und den verhassten Franzosen zu schaden. Machen die ja immer noch, der Ukrainekrieg soll z.B. maßgeblich durch britische Diplomatie und Versprechungen ausgebrochen sein.

      Aufgerüstet wurde jedenfalls sowieso, schon als Vorsorge wegen der „Einkreisungspolitik“ (egal ob eingebildet oder tatsächlich vorhanden).

  4. So einen Sarajevo-Moment mit einer unserer Kriegshuren? Hat was.
    Aber dafür einen Weltkrieg anfangen? Kenne ich niemanden der da mitmachen würde…

  5. Jedesmal wenn ich drüber lese, staune ich wie nonchalant das damals war.

    Stellt euch mal vor der Thronfolger eines sich im Niedergang befindenden Vielvölkerstaates (nennen wir ihn Fritz Ferdinand von den Laien-McKinsey) kommt auf Besuch:
    Statt offener Limousine kommt da ein Konvoi gepanzerter Autos. Spalier gibt es auch keins, wenn Jubelperser erwünscht sind stehen die bei der Ankunft am Flughafen irgendwo weit weg. Die Route wird zudem streng abgeriegelt, die Anwohnern teils tagelang gegängelt (ich erinnere mich grad an den Besuch Obamas in Hamburg, wo es iirc nicht einmal erlaubt war entlang der Route Fenster zu öffnen).

    Wenn tatsächlich jemand eine Granate werfen würde, dürfte der Attentäter dies mit 99.7% Wahrscheinlichkeit nicht überleben.
    Das Treffen mit den Honoratoren fände vermutlich, wenn überhaupt, dann in einem Bunker statt. Der Konvoi würde auch niemals entlang derselben Route zurückkehren, und die neue Route würde zuerst vom Militär gesichert werden.

    Und der Franz Ferdinand war unbeliebt..

    1. US-Präsidenten in Deutschland sind eine Sache für sich. Als Obama nach Dresden kam, wurde die Innenstadt luftleer gesaugt. Man wollte sogar den Hubschrauberlandeplatz der Uniklinik sperren, weil der „nur“ 2 Kilometer von Obamas Hotel weit weg war. Die Straßenbahnen wurden mit „Welcome Mr. President“ plakatiert – und durften ab zwei Tage vor dem Termin nicht mehr durchs Stadtzentrum fahren.

      Als Putin kam und im selben Hotel übernachtete, war nix, und Putin spazierte morgens sogar mutterseelenallein durch die Innenstadt. Sogar seine Leibwächter hatten ihn verpaßt.

      https://www.bild.de/news/2006/putin-deutschland-stehcafe-913522.bild.html

      Als Dabbeljuh nach Mainz kam, waren die Zufahrtsstraßen in die Stadt dicht und der Schiffsverkehr auf dem Rhein wurde gestoppt. Zwei Tage später nahm er in Rumänien ein Bad in der Menge…

      In Dänemark konnten beim Wechsel von Margarete auf Frederik die Leute auf 20m an den Balkon ran, das Auto der Königin fuhr im Schritttempo durch die Menge und in Sichtweite des Balkons saßen Leute auf den Dächern um zu winken…

  6. Im Kleinen wie im Großen: „Gesichtsverlust“ oder ein drohender Gesichtsverlust führen zu Zerwürfnissen, Kontaktabbrüchen und Kriegen – sowohl zwischen Ländern als auch innnerhalb und zwischen Familien. Der Mensch ändert sich nicht, die Welt auch nicht. Wohlan, dann „willkommen“ zum nächsten …

  7. Danke für den interessanten Artikel.
    Morgen jährt sich der Zündfunke, der den Anlass zum ersten Weltkrieg bot. Man wird sich wohl ewig fragen müssen, wieso die Verantwortlichen in Deutschland und Österreich nicht gesehen haben, dass ein Krieg in dieser Konstellation zur Katastrophe und zum eigenen Niedergang führen musste.
    Ursächlich für das gegenseitige Auftürmen von offenen Benzinfässern war jener Imperiale Gedanke der irgendwann zur direkten Konfrontation der konkurrierenden Mächte führen musste.

    Der zündende Funke zum 3. Weltkrieg ist längst getan. Noch ist die Druckwelle nicht in Deutschland angekommen, aber anstatt die Brandherde rings um zu löschen, tut man nun alles um noch mehr Benzinfässer aufzustellen. Mit 5% vom BIP und einer ruinösen Neuverschuldung setzt man alles was man aufzubringen vermag auf eine Karte. Den eigenen Untergang. Es ist der reinste Wahnsinn.

  8. „Der Krieg hätte bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Ein Zusammenspiel von Angst und Unbedarftheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen habe auf einen Weg geführt, auf dem schließlich keine Umkehr mehr möglich schien.“

    Hm, mir scheint, der Satz greift der nahen Zukunft voraus … und kann dann in den später erscheinenden Geschichtsbüchern 1 : 1 hineinkopiert werden!

    1. „…und kann dann in den später erscheinenden Geschichtsbüchern 1 : 1 hineinkopiert werden!“

      😳
      Ääähm: nach dem Showdown bliebe keiner übrig*, der, für wen auch immer, Bücher schreiben könnte oder intellektuell befähigt wäre, zusammenhängende und
      verständliche Sätze niederzuschreiben oder diese gar zu verstehen**.

      *mangels ausreichender Bildung, weil Smartphone,X,Facebook, ChatGPT etc. tot = 🤕🤯🤪 = 🧠hirntot
      **Ist ja nun wirklich nicht so, dass man es mit Erfahrungen/Geschichte/in Büchern nicht schon mehrfach, aber erfolgreich erfolglos versucht hätte.👍🤫

  9. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Trauma Europas tief. Über 16 Millionen Tote, ein zerstörter Kontinent, gesellschaftliche Erschütterungen – wer wollte da noch einmal in einen Krieg ziehen? Entsprechend groß war die Zurückhaltung der westlichen Demokratien in den 1930er Jahren, als Nazi-Deutschland begann, die europäische Ordnung zu untergraben.

    Als Hitler 1936 das entmilitarisierte Rheinland besetzte, geschah – nichts. Dabei war es ein klarer Bruch des Versailler Vertrags. Die Reaktion: Achselzucken. Krieg, schon wieder? Lieber nicht.

    1938 dann die Sudetenkrise. Deutschland schickte „Freikorps“ und behauptete, das „deutschsprachige Volk“ müsse befreit werden – ein inszenierter Vorwand. Statt dem Bruch internationaler Verträge zu begegnen, setzte man auf Verhandlungen. Das Ergebnis: Das Münchener Abkommen. Die Tschechoslowakei wurde ohne ihre Beteiligung aufgeteilt. Neville Chamberlain erklärte danach, man habe „Frieden für unsere Zeit“ geschaffen. Wenige Monate später war die Tschechoslowakei vollständig zerschlagen.

    Dann folgte Polen. Und wieder kam das Zögern: „Warum sollen wir für Danzig sterben?“ Obwohl Frankreich und Großbritannien Polen militärisch garantierten, kam nach der Kriegserklärung im September 1939 keine ernsthafte militärische Unterstützung. Stattdessen: Monate der Untätigkeit, bekannt als „Phoney War“ oder „Sitzkrieg“. Der Krieg war erklärt – aber es war ein Krieg auf dem Papier. Keine Offensive, keine Entlastung. Eine symbolische Geste, kein entschlossenes Handeln. Als dann 1940 der deutsche Angriff auf den Westen kam, waren Frankreich und Großbritannien nicht vorbereitet. Die Wehrmacht marschierte durch, Paris fiel – und britische Soldaten flohen in letzter Minute aus Dünkirchen.

    Was folgte, war nicht nur militärische Niederlage, sondern auch moralischer Bankrott: Marschall Pétain und viele französische Kollaborateure waren nicht überzeugte Nazies, sondern glaubten daran, dass der eigentliche Fehler war, sich Hitler überhaupt entgegenzustellen. Man sprach von „unnötigem Krieg“, von „falschen Allianzen“. Eine Haltung, die auf Rückzug, Schuldverschiebung und Wunschdenken beruhte – und in die Katastrophe führte.

    Denn eines haben sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg klar gezeigt: Es gibt keinen universellen Weg, eine Katastrophe zu vermeiden.

    Zu viel Hybris führt in den Krieg. Doch auch das ständige Zurückweichen vor Aggressoren führt am Ende genau dorthin – nur später, schlechter vorbereitet und mit noch mehr Leid.

    Zwischen blindem Eskalieren und selbstzerstörerischer Beschwichtigung liegt nur ein schmaler, schwerer Weg.

    1. Ruhig Blut.
      800.000 Millionen sind doch schon vorgesehen, um Adolf Putin in den Arm zu fallen.
      Nur….warum eiern sie FEIGLING so rum?
      Fürchterlich, Menschen wie Sie. Was für Anal ogien Sie hier anstellen…

  10. Wenn das Trottoir vollgekackt ist, tritt man irgendwann in die Scheiße. Deshalb sollte man den Hunden des Krieges nicht erlauben, ihre fetten, stinkenden, braunen Geschäfte zu machen.

    1. Kleine Ergänzung: Ich erinnere mich an ein kleines Heftchen über verschiedene Verhütungsmethoden, das verteilt wurde als jung war, mit vielen farbigen Bildern. Und dann war da eine dunkel gehaltene Doppelseite in schwarz/weiß. Die „Verhütungsmethode“ von der da die Rede war, hieß: Aufpassen….

      Vielleicht sollte man ein ähnliches Heftchen zum Frieden unter die Leute bringen, mit vielen farbigen Bildern zu den Möglichkeiten, den Krieg zu verhüten: Vertrauensbildende Maßnahmen, kultureller Austausch, Städtepartnerschaften usw. usw. – und dann noch eine schwarz/weiße Doppelseite, die Kriegsverhütung durch Aufrüstung, nukleare „Schutzschirme“ etc. zum Thema hat.

  11. Auffallend ist zunächst, was in Münklers „kontrafaktischer historischer“ Aufzählung der negativen Folgekosten des „Zufallsfunkens“, der die angeblich gemütliche Welt von 1914 erschütterte, vornehm unterschlagen wird: Ja mein Gott, „wir“, also die europäischen Kolonialmächte, hätten die halbe Welt noch unter unserem Stiefel!
    China wäre noch „unter Kontrolle“, Indien wäre noch in britischer Hand, die Franzosen stünden noch in Hanoi und Namibia wäre „Deutsch-Süd-West“. Aber dieser Wunschtraum ist auch deutlich „antisemitisch“ gefärbt, denn es gäbe ja kein Israel.

    Zweitens ist erheiternd, wie bürgerliche Historiker und Konfliktforscher (!), die den Ersten Weltkrieg seit einiger Zeit als Zufallsprodukt von „Schlafwandlern“ darzustellen versuchen, selbst den guten alten Clausewitz nicht mehr kennen wollen. Das Clausewitzsche Axiom, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, scheint überall zu gelten, nur nicht in Bezug auf den 1. Weltkrieg. Ensel deutet, wohl mit Rücksicht auf die gegenwärtigen politische „Großwetterlage“, politisch-korrekt nur das Kriegsziel einer der damaligen Kriegsparteien an:
    „Das Zarenreich hatte seine Aspirationen auf den Balkan als Einflusszone und Tor zum Bosporus und den Dardanellen nicht aufgegeben“.
    Alle übrigen „sahen sich herausgefordert“ oder „ihnen war ein Rivale erwachsen“ oder sie hatten „den Mund ziemlich weit aufgerissen“. Ziele und miteinander in Konflikt stehende Interessen hatten sie anscheinend keine. Aber dann schlug der verdammte „Zufallsfunke“ ein.
    Diese Art von Analyseverweigerung ist auch deshalb erstaunlich, weil der erste Weltkrieg 21 Jahre später – mit gewissen Abwandlungen – eine Neuauflage erlebte und zwar ohne „Zufallsfunken“.

    Wir waren vor einem halben Jahrhundert, als von einigen noch polit-ökonomisch statt „geopolitisch“ analysiert wurde, deutlich weiter im Verständnis unserer Welt. Der Enselsche/Münklersche Text ist gemessen daran geradezu irrational.

    1. Im Rahmen der ihm gestellten Aufgabe, ist der Ensel sehr rational. Das Ausmaß von Oberflächlichkeit, Ablenkung und Verlogenheit, wie nachfolgend vorgestellt, bleibt allerdings unerreicht:

      Raissa Gorbatschowa: Die Welt ahnt nicht, was sie dieser Frau verdankt!
      Leo Ensel
      20. September 2024
      Vor 25 Jahren, am 20. September 1999, starb Raissa Gorbatschowa in Münster. Die Bedeutung der Philosophieprofessorin für die Ideen von Perestroika und Glasnost sowie für die Entwicklung des „Neuen Denkens“ wird immer noch unterschätzt. Von Leo Ensel.

      https://www.nachdenkseiten.de/?p=121581

      Die perfekte Verschmelzung von Melodram und Demagogie.

      1. Gut, dadurch wird einiges klarer.
        Was Herr Ensel in seiner Eloge leider nicht ansprach: Raissa G. stellte im Jahre 1996 ein weiteres Mal ihre erstaunliche Klugheit unter Beweis, als sie nach eigenem Bekunden versuchte, ihren Mann davon abzuhalten, bei den russischen Präsidentschaftswahlen anzutreten. Es gelang ihr nicht. Der unverstandene Michail G. fuhr 0,51% der abgegebenen Stimmen ein (Platz 7 von 10 im ersten Wahlgang).

  12. Europa hatte damals einen politisch leicht verführbaren „Youth Bulge“ (junge Männer als Kanonenfutter), heute jedoch einen, nach sozialer Sicherheit suchenden, „Senior Bulge“ – das ist der wesentliche Unterschied. Bei den finanziellen und geistigen Aristokraten war antibürgerliches, viriles Denken schick, der Plebs sehnte sich nach der Lösung der Sozialen Frage, oftmals auch in Konfrontationsstellung zum Bürgertum, die Gesellschaft musste aufgrund der Industrialisierung ihre Machtverhältnisse neu strukturieren usw.

    Der Artikel beginnt mit „Der Besuch war eine Provokation.“ Guter erster Satz, bei dem aus heutiger Sicht jedoch folgendes mitschwingt: Für wen und aus welchen Gründen war es denn eine Provokation? Wenn man sich provoziert fühlt, dann misst man einem Ereignis Bedeutung zu, ansonsten wäre man nicht provoziert. Mir fällt es aus heutiger Perspektive schwer, warum so viele Menschen zu jener Zeit Dingen wie Thronfolgern, Uniformen und sonstigem nationalen oder monarchischem Klimbim eine solche Bedeutung zumaßen. (Vielleicht braucht es so etwas aber auch für den nationalen Zusammenhalt?)

    Es gab auch die anderen Intellektuellen, welche die damalige Seifenoper durchschauten. Leider flüchteten die wiederum gerne in sozialistische Utopien, was aus heutiger Sicht, nach den gemachten historischen Erfahrungen, einem genauso schwer fällt, geistig nachzuvollziehen. Und wieviel Prozent der heutigen Bevölkerung durchschauen unsere aktuelle Seifenoper? Mehr Leute als damals, möchte ich meinen. Es wird einem mittlerweile auch wirklich leicht gemacht.

    Waren die Menschen damals, was die Einschätzung großer gesellschaftlicher Entwicklungen angeht, einfach nur unwissend und deshalb naiv? Und die Türme von Elektroschrott, aufgetürmt bis in den Starlink-Himmel, wären dann der saure Klimbim der Jetztzeit? Letzteres ist jedoch, im Gegensatz zu den edlen Damenhüten des Fin de Siècle, wirklich bedrohlich.

  13. **…da warteten, entlang der Route verteilt, unter den jubelnden Zuschauern am Straßenrand bereits sechs junge Männer des serbischen Geheimbunds „Schwarze Hand“…**

    Das ist nicht korrekt, weder Gavrilo Princip noch die anderen am Attentat beteiligten jungen Männer waren Mitglieder der ´Schwarzen Hand´, sie waren Mitglieder von ´Mlada Bosna´ (junges Bosnien), eine Bewegung von kroatischen, serbischen und muslimischen Bosniern, die für die Beendigung der österreich-ungarischen Herrschaft eintraten und den Zusammenschluss der Südslawen in einen Staat zum Ziel hatten. Später nannte sich dieser Staat Jugoslawien (Südslawien), der Rest der Geschichte ist bekannt.

    Auch mich erinnern momentane Vorgänge an Entwicklungen vor dem 1. Weltkrieg. Ich sehe allerdings weder damals noch heute ein Zusammenspiel von Schlafwandlern. Das Attentat in Sarajewo barg keine Automatik zur Auslösung eines europäischen Krieges seitens D|Ö-U, diese hätten auch alternative Strategien für die Bewältigung der Julikrise 1914 wählen können. Z.B. ein gemäßigteres Ultimatum an Serbien, das dessen staatliche Souveränität nicht untergräbt sowie eine Verlängerung der Antwortfrist auf das Ultimatum, das von Serbien in den meisten Punkten akzeptiert wurde, bis auf den Eingriff in die staatliche Souveränität… oder die Annahme des britischen Vermittlungsvorschlags für die Einberufung einer Botschafterkonferenz zur Lösung der Krise…oder das Hinwirken Deutschlands, die Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu begrenzen. Mehr Kompromissbereitschaft, Diplomatie, Zurückhaltung der aggressiven Reaktion und Verzicht auf überzogene Forderungen hätten sicherlich dazu beigetragen, WK I zu verhindern. Es war das omnipotente Gefühl der Überlegenheit seitens D|Ö-U, das maßgeblich zu den Entwicklungen beitrug, die in den verheerenden Krieg mündeten. Das Attentat kam ihnen nicht ungelegen, ihre Herrschaft auf dem europäischen Kontinent zu fundamentieren. Sie waren davon überzeugt, einen schnellen Sieg zu erringen.

    Diese Symptome kommen mir in der aktuellen Situation sehr bekannt vor.

  14. Ein lohnender Artikel, den man heute natürlich gerade den politisch Verantwortlichen empfehlen möchte.

    Herr Ensel vergleicht die Gegenwart – im Gegensatz zu vielen anderen – ganz zutreffend eben nicht mit 1938/39, sondern mit 1914.

    Im Gegensatz zur Situation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fehlt heute ein eindeutig eroberungslüsterner Aggressor, denn Putins Krieg gegen die Ukraine ist eben nicht mit Hitlers Vereinnahmung von Österreich, der Tschechoslowakei und der Eroberung Polens vergleichbar. Dass die gängigen Medien dieses Narrativ trotzdem zu spinnen suchen, sollte den kühlen Beobachter nicht irritieren.

    Ein weiterer Unterschied ist die vergleichsweise geringe Ausprägung von Systemunterschieden, denn Russland ist eben nicht mehr sozialistisch. Auch 1914 spielten Systemunterschiede praktisch keine Rolle.

    Eine Analogie zu 1914 liegt zudem im Existieren eines viele Staaten umfassenden Bündnissystems, dessen Logik zu gehorchen, für eine unantastbare Staatsräson gehalten wird.

    Eine weitere Analogie zu 1914 liegt im auch heute bestehenden Zusammenhang der sog. „Thukydides-Falle“, also in der Erkenntnis eines bisher überlegenen Staates, dass die Zeit gegen ihn läuft und dass aufstrebende Konkurrenten (heute China und Russland) immer stärker werden. Damals meinte Großbritannien, dass die Zeit gegen das Empire läuft.

    Etwas zu kurz gekommen ist im Artikel allerdings die Tatsache, dass die einzelnen europäischen Mächte um 1914 in unterschiedlich starkem Maße auf Krieg hinarbeiteten. Österreich-Ungarn zielte – bestärkt von Deutschland und jener unseligen „Blankovollmacht“ – zwar auf einen regionalen Krieg gegen Serbien, aber andere Mächte zielten hingegen direkt auf den großen Krieg.

    So sind die durchaus auf diesen großen Krieg drängenden Aktivitäten von Poincare, dem unversöhnlich deutsch-feindlichen französischen Präsidenten des Jahres 1914, von Herrn Ensel ebenso wenig erwähnt worden, wie die ähnlich offensive Einstellung der russischen Führung (vom Zaren abgesehen). Auch die britische Haltung war keineswegs friedlich.

    Eine modernere Studie über die französische Politik beleuchtet diesen bislang unterschätzten Aspekt:
    https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/ploneimport_derivate_00010764/schmidt_aussenpolitik.pdf

    Nützlich auch dies:
    https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article224450426/Raymond-Poincare-Sein-gefaehrliches-Spiel-fuehrte-in-den-1-Weltkrieg.html

    Ein Zitat aus der oben verlinkten Studie von Stefan Schmidt von 2009:
    „Denn war es einerseits [für Frankreich] in innen- und außenpolitischer Hinsicht erforderlich, das Deutsche Reich mit der Kriegsschuld zu belasten und ihm im Zuge eines kalkulierten Manövers die Initiative im Rekurs auf die militärischen Machtmittel zu überlassen, so galt es andererseits sicherzustellen, daß Rußland zu einem umgehenden und uneingeschränkten Angriff auf das Deutsche Reich schritt.“
    (Seite 361)

    Entsprechend früh erfolgte dann ja auch die russische Mobilmachung!

    Weiter:
    „… so wird man nicht der in der historischen Forschung vorherrschenden These zustimmen können, daß Frankreich in der Julikrise 1914 ein »minor player« gewesen sei. Vielmehr erscheint der »forgotten belligerant« als ein Akteur von herausgehobener Bedeutung, der mit seinem Tun oder Unterlassen an entscheidenden Stellen dieser internationalen Krise dem
    Gang der Dinge eine Wendung zu geben vermochte, die sie nicht in einen friedlichen Ausgleich, sondern in die »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts« einmünden ließ“
    (Seite 363)

    … und …
    „Durch eine militärische Doktrin, die das Signum der offensive à outrance trug, war Frankreich seit 1911 in eine strategische Gesamtsituation geraten, in der es kaum mehr Raum für Konzessionen gab und die Sicherheit des Landes selbst von Machtschwankungen affiziert werden konnte, die prima facie unbedeutend anmuteten.“
    (S. 365)

    „Die genannten militärischen Sachzwänge konnten aber nur deshalb so wirkungsmächtig für Frankreichs Außenpolitik werden, weil seine politischen Entscheidungsträger eine militärische Auseinandersetzung in zunehmendem Maße als unvermeidlich erachteten.“
    (Seite 367)

    Wie sehr die russische Regierung des Zaren vor 1914 ebenfalls auf die militärische Karte setzte, haben ausgerechnet die Bolschewiki mit einigen enthüllenden Veröffentlichungen über den Imperialismus der Vorgängerregierung bereits vor langer Zeit bekannt gemacht.

    Auch Belgien mobilisierte nicht erst, wie öffentlich behauptet, am 30. Juli 1914, sondern vorher. Schon am 24. Juli 1914 sandte das belgische Außenministerium nämlich ein Rundschreiben an die Offiziere der belgischen Armee, worin zu lesen war, dass Belgien vollständig mobilisiert habe, d.h., dass die Mobilisiuerung begonnen hatte.

    Gewiss war man auch in Berlin und Wien mit Vorbereitungen beschäftigt und dachte in militärischen Kategorien, war jedoch eher getrieben und reagierend. Die deutsche Führung war sich nämlich sehr wohl bewusst, dass sie in einem großen europäischen Krieg mehr zu verlieren als zu gewinnen hatte. Jeder große Krieg schloss wegen der Einkreisung und der relativen Schwäche des Hauptverbündeten Österreich-Ungarn die Möglichkeit der Niederlage mit ein und damit die Zerschlagung bzw. Aufteilung des 1871 begründeten Reiches! Vor diesem Hintergrund stellte die Kriegspartei, die es ja in allen wichtigen europäischen Hauptstädten gab, in Berlin nur eine Minderheit dar, und Kaiser Wilhelm machte Urlaub in norwegischen Gewässern.

    Die von F. Fischer angeführten Quellen sind ja nicht falsch – wie können korrekt zitierte Quellen auch falsch sein – aber er beschäftigte sich eben zu wenig mit den ganz ähnlichen Quellen in Paris,
    St. Petersburg und London … !
    So viel zu des zu Unrecht gelobten Herrn Fischers Bedeutung!

    1. Guten Morgen Herr Wirth,

      mal aus illustrativen Zwecken nur zu dieser Passage hier:

      Auch Belgien mobilisierte nicht erst, wie öffentlich behauptet, am 30. Juli 1914, sondern vorher. Schon am 24. Juli 1914 sandte das belgische Außenministerium nämlich ein Rundschreiben an die Offiziere der belgischen Armee, worin zu lesen war, dass Belgien vollständig mobilisiert habe, d.h., dass die Mobilisiuerung begonnen hatte.

      Das hat Schmidt entweder schludrig gearbeitet oder wirft bewusst Nebelkerzen. Ich tendiere stark zu letzterem. Hier zunächst das zugrunde liegende Quellendokument. Man lese die Depeschen am besten in Gänze, deswegen wird das jetzt länger, denn ich zitiere jeweils ihren gesamten Wortlaut:

      No. 2.

      M. Davignon, Belgian Minister for Foreign Affairs, to the Belgian Ministers at Paris, Berlin, London, Vienna, and St. Petersburg. Brussels, July 24, 1914.

      Sir,

      The Belgian Government have had under their consideration whether, in present circumstances, it would not be advisable to address to the Powers who guarantee Belgian independence and neutrality a communication assuring them of Belgium’s determination to fulfil the international obligations imposed upon her by treaty in the event of a war breaking out on her frontiers.

      The Government have come to the conclusion that such a communication would be premature at present, but that events might move rapidly and not leave sufficient time to forward suitable instructions at the desired moment to the Belgian representatives abroad.

      In these circumstances I have proposed to the King and to my colleagues in the Cabinet, who have concurred, to give you now exact instructions as to the steps to be taken by you if the prospect of a Franco-German war became more threatening.

      I enclose herewith a note, signed but not dated, which you should read to the Minister for Foreign Affairs and of which you should give him a copy, if circumstances render such a communication necessary.

      I will inform you by telegram when you are to act on these instructions.

      This telegram will be despatched when the order is given for the mobilisation of the Belgian army if, contrary to our earnest hope and to the apparent prospect of a peaceful settlement, our information leads us to take this extreme measure of precaution.

      Enclosure in No. 2.

      Sir,

      The international situation is serious, and the possibility of a war between several Powers naturally preoccupies the Belgian Government.

      Belgium has most scrupulously observed the duties of a neutral State imposed upon her by the treaties of April 19, 1839; and those duties she will strive unflinchingly to fulfil, whatever the circumstances may be.

      The friendly feelings of the Powers towards her have been so often reaffirmed that Belgium confidently expects that her territory will remain free from any attack, should hostilities break out upon her frontiers.

      All necessary steps to ensure respect of Belgian neutrality have {nevertheless been taken by the Government. The Belgian army has been mobilised and is taking up such strategic positions as have been chosen to secure the defence of the country and the respect of its neutrality. The forts of Antwerp and on the Meuse have been put in a state of defence.

      It is scarcely necessary to dwell upon the nature of these neasures. They are intended solely to enable Belgium to fulfil her international obligations; and it is obvious that they neither have been nor can have been undertaken with any intention of taking part in an armed struggle between the Powers or from any feeling of distrust of any of those Powers.

      In accordance with my instructions, I have the honour to communicate to your Excellency a copy of the declaration by the Belgian Government, and to request that you will be good enough to take note of it.

      A similar communication has been made to the other Powers guaranteeing Belgian neutrality.

      In Telegramm No.2 spricht der belgische Außenminister Davignon davon, dass dieser Depesche eine unterschriebene, aber nicht mit Datum versehene Anlage beigefügt sei, die im Bedarfsfalle den Außenministern der Gastländer (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Russland), in denen die angeschriebenen belgischen Botschafter residieren, überreicht werden soll („will be despatched when“). Er weist expressis verbis darauf hin, dass er sie (die Botschafter) nochmals informieren werde, wenn dieser Fall auch tatsächlich eingetreten sei, damit sie dann jene Anlage überbringen könnten. Zwar steht in dieser Anlage drin, dass die belgische Regierung mobilisiert habe und strategisch wichtige Stellungen einnehmen werde etc. Aber das ist eben bloß eine Art Vordruck und keine Sachbeschreibung. Der Fall ist noch nicht eingetreten, doch das Dokument ist eine Vorsorge für den Fall, dass man bei Voranschreiten der Krise rasch handeln muss und nicht erst auf Meldung und Stellungnahme „von zuhause“ warten kann. Etwas, das man im Giftschrank hat und das man überbringen kann, gerade wenn sonstige Kanäle vielleicht unterbrochen sind. Das unterstreicht eine ähnliche Depesche (No.3) an weitere Botschaften in Rom, Den Haag und Luxemburg vom Folgetag (25.07.1914), in denen Davignon deutlich macht, dass er die Order zum Überbringen jener Anlage telegraphisch durchgeben würde:

      The communications in question would only be made upon telegraphic instructions from me.

      Und so geschieht es dann am 31. Juli auch:

      No. 10. M. Davignon, Belgian Minister for Foreign Affairs to all Heads of Belgian Missions abroad. Brussels, July 31, 1914.
      (Telegram.)

      The Minister of War informs me that mobilisation has been ordered, and that Saturday, the 1st August, will be the first day.

      Damit sind die Botschafter informiert und können nun die Anlage aus No.2 den Außenministerien ihrer Gastländer überbringen. Wer dagegen diese Anlage als „Beweis“ ausgibt, die Belgier hätten am 24. Juli bereits mobilisiert gehabt, sollte entweder einen Grundkurs Quellenkritik belegen oder führt bewusst in die Irre – und sollte dann als Ideologe bezeichnet werden, der eine bestimmte Agenda verfolgt.

      Aber gut sagen Sie – vielleicht haben die ja trotzdem irgendwelche Maßnahmen ergriffen. Wäre das nicht möglich?

      Natürlich. Am 29. Juli beispielsweise schreibt Davignon:

      No. 8. M. Davignon, Belgian Minister for Foreign Affairs, to the Belgian Ministers at Berlin, Paris, London, Vienna, St. Petersburg, Rome, The Hague, and Luxemburg. Brussels, July 29, 1914.

      Sir,

      The Belgian Government have decided to place the army upon a strengthened peace footing. This step should in no way be confused with mobilisation.

      Owing to the small extent of her territory, all Belgium consists, in some degree, of a frontier zone. Her army on the ordinary peace footing consists of only one class of armed militia; on the strengthened peace footing, owing to the recall of three classes, her army divisions and her cavalry division comprise effeetive units of the same strength as those of the corps permanently maintained in the frontier zones of the neighbouring Powers.

      This information will enable you to reply to any questions which may he. addressed to you.

      Er legt wie man sieht großen Wert darauf, dass diese Maßnahmen nicht mit einer Generalmobilmachung verwechselt werden – gerade um den Anschein von aggressiven Handlungen zu vermeiden.

      Da sind offenkundig vorbereitende defensive Schritte am Laufen. Bei jeder Armee ist ja nur ein kleiner Teil wirklich ständig kampfbereite oder sonstige Truppe für Ausnahmesituationen (Kastrophen, Technik…). Hier scheint es in meinen Augen darum zu gehen, dass genau diese Kräfte, die ständig einsetzbar sind und jederzeit kämpfen können, aufgrund der allgemeinen Bedrohungslage in Bereitstellungsräume verlegt werden sollen (ergo: aus den Kasernen ausrücken), dass erste Reservisten einberufen werden und vielleicht zudem ein damaliges belgisches Äquivalent zum „DEFCON“ (Verteidigungsbereitschaftszustand) wie man es von den US-Amerikanern kennt, angehoben wird („put in a state of defence“). Solches Zeug. Da wird schlicht sichergestellt, dass man im Falle des Einmarsches einer auswärtigen Macht nicht wie ein begossener Pudel dasteht. (Die Militärs im Forum können mich ja gerne korrigieren.)

      Dieses Bild wird auch von der folgenden Passage unterstrichen:

      Hugh Gibson, Secretary of the American Legation in Brussels, described Belgian mobilization in 1914. With war threatening on July 28, Belgium called up the reserves, and closed the Bourse. On July 30 he wrote, „Brussels is beginning to look warlike,“ with troops and Boy Scouts in the streets, and railway stations occupied. The night of July 31, police delivered orders for mobilization, requiring men to leave for their regiments „within the hour.“ On August 1, the government began to requisition cars. On Sunday August 2, Brussels was under martial law, patrolled by grenadiers and lancers. Gibson wrote, „The money situation is bad,“ with small change disappearing, people fearing currency was worthless, and police keeping order at banks. Communication was difficult as the military had priority. The Paris newspapers did not arrive. The government seized stores of staples: bread, rice, beans, and began fixing prices. There were, however, happy crowds at the French legation.

      On Monday August 3, there was no mail. On August 4, with German forces in Belgium, the military had left for the front, and the Garde Civique patrolled Brussels.

      Quelle: hier

      Zum einen hat Schmidt auch noch obendrein den offiziellen Beginn der belgischen Generalmobilmachung entweder verwechselt oder bewusst irreführend um einen Tag vorverlegt. Zum anderen gingen der offiziellen Generalmobilmachung vom 31.07. – und somit der Einberufung aller Kräfte zu ihren Regimentern – in der Tat Maßnahmen voraus, aber sie sind defensiv und kleinräumig: Vorbereitungsmaßnahmen wie die Einberufung von Reservisten am 28.07. oder die Schließung der Börse. Obendrein legt die belgische Regierung Wert darauf, dass diese Maßnahmen richtig verstanden und nicht fehlinterpretiert werden, weswegen Davignon am Folgetag zur Sicherheit den Botschaftern noch ein paar Takte mitgibt damit diese Rückfragen der Gastländer beantworten konnten. Erst am Tag nach Verkündigung der Generalmobilmachung werden dann Autos beschlagnahmt (damals bekanntlich ein rares Gut), erfolgt die Verhängung des Kriegsrechts etc. Solche Details unterschlagen Schmidt und andere Reaktionäre aber geflissentlich, das könnte wohl die These von der pösen belgischen Soldateska, die schon wochenlang mordlustig auf den Kriegsbeginn wartete, untergraben.

      Dann gibt es noch diese Depesche, Nr. 11, vom 31.07.1914:

      The Minister of War informs me that mobilisation has been ordered, and that Saturday, the 1st August, will be the first day.

      No. 11. M. Davignon, Belgian Minister for Foreign Affairs, to the Belgian Ministers at Berlin, London, and Paris.
      Brussels, July 31, 1914.

      Sir,

      The British Minister asked to see me on urgent business, and made the following communication, which he had hoped for some days to be able to present to me: Owing to the possibility of a European war, Sir Edward Grey has asked the French and German Governments separately if they were each of them ready to respect Belgian neutrality providecl that no other Power violated it:–

      „In view of existing treaties, I am instructed to inform the Belgian Minister for Foreign Affairs of the above, and to say that Sir Edward Grey presumes that Belgium will do her utmost to maintain her neutrality, and that she desires and expects that the other Powers will respect and maintain it.“

      I hastened to thank Sir Francis Villiers for this communication, which the Belgian Government particularly appreciate, and I added that Great Britain and the other nations guaranteeing our independence could rest assured that we would neglect no effort to maintain our neutrality, and that we were convinced that the other Powers, in view of the excellent relations of friendship and confidence which had always existed between us, would respect and maintain that neutrality.

      I did not fail to state that our military forces, which had been considerably developed in consequence of our recent re-organisation, were sufficient to enable us to defend ourselves energetically in the event of the violation of our territory.

      In the course of the ensuing conversation, Sir Francis seemed to me somewhat surprised at the speed with which we had decided to mobilise our army. I pointed out to him that the Netherlands, had come to a similar decision before we had done so, and that, moreover, the recent date of our new military system, and the temporary nature of the measures upon which we then had to decide, made it necessary for us to take immediate and thorough precautions. Our neighbours and guarantors should see in this decision our strong desire to uphold our neutrality ourselves.

      Sir Francis seemed to be satisfied with my reply, and stated that his Government were awaiting this reply before continuing negotiations with France and Germany, the result of which would be communicated to me.

      Aus ihr kann man auch nichts herauslesen als das typische Gebaren eines sogenannten „wehrhaften Staates“, der in einer Phase von Säbelrasseln in der unmittelbaren Nachbarschaft alle notwendigen Maßnahmen ergreift um seine Rechte und Grenzen (und sei es nur der Form halber) zu wahren. Das ist salopp formuliert ein kleines neutrales Land, das auf jene Neutralität ziemlich stolz ist und in einer akuten Bedrohungslage seine Grenzen zu verteidigen sucht. Staatshandeln 101. Mehr nicht. Und somit alles andere als „aggressiv“ oder gar untypisch – Davignon verweist ja wortwörtlich darauf, dass die Niederländer, die dann den ganzen restlichen Krieg offiziell neutral blieben, auf ähnlichen Pfaden unterwegs waren. Und das hat gestimmt:

      Am 25. Juli 1914, als die Mobilisierung in Serbien begann, erhielt ein Offizier des niederländischen Generalstabs ein Telegramm eines ehemaligen niederländischen Offiziers aus Köln, in dem dieser vor einem unvermeidlichen Krieg warnte. Zu dieser Zeit der niederländische Generalstabschef, Generalleutnant Cornelis Jacobus Snyders war im Urlaub, aber nach Erhalt der Information sofort zurückgekehrt. Snyders war einer der Entwickler des niederländischen Mobilmachungsplans von 1910. Seiner Meinung nach hätten die Niederlande im Falle eines globalen Konflikts die ersten sein müssen, die die Mobilisierung vor den fortgeschrittenen Ländern ankündigen und beginnen müssten, was eine Garantie dafür wäre, im schlimmsten Fall Hilfe von ihnen zu erhalten. Snyders glaubte, dass eine deutsche Invasion Frankreichs durch niederländisches Territorium möglich sei, wenn auch das gefährlichste Kriegsszenario. In diesem Fall hätte die niederländische Armee den Deutschen keinen wirksamen Widerstand leisten können und musste sich nach Norden in die Provinz Brabant zurückziehen . Bereits am 26. Juli begann sie mit den Vorbereitungen für den Abriss von Brücken und die Überschwemmung von Gebieten. Dieser Prozess war komplex, zeitaufwändig und sehr kostspielig, konnte aber nicht in letzter Minute durchgeführt werden. Der Hochwasserprozess war ein wichtiger Bestandteil zum Schutz der Festungen „Holland“ und „Amsterdam“.

      (Link hängt – bei Interesse / Bedarf Text ggf. in eine Suchmaschine eingeben)

      Man sieht – auch die Niederlande begannen bereits Ende Juli („bereits am 26. Juli“) mit vorsorglichen Maßnahmen für den Fall, dass sie von Kriegshandlungen betroffen sein würden. In beiden Beneluxstaaten wird also schlicht ein Verteidigungsdispositiv abgespult. Und ebenso übrigens in der Schweiz:

      Zur Sicherung der Grenzen verfügte der Bundesrat schon am 31. Juli 1914 die Mobilmachung der Armee (Dok. 11). [Am selben Tag wie die Belgier!] Bemerkenswerterweise sah die militärische Führung im ersten Kriegsjahr im italienischen Irredentismus die grösste Gefahr für die territoriale Integrität der Schweiz (Dok. 30). Beim Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 empfand Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg die Situation sogar als gefährlicher als im August 1914 (Dok. 121). Je deutlicher sich das Patt an der Westfront abzeichnete, desto mehr rückten Befürchtungen ins Zentrum, die Kriegsparteien könnten auf der Suche nach einem entscheidenden Sieg neue Wege durch die Schweiz suchen (Dok. 168; Dok. 169 und Dok. 252).

      Auf Dodis finden sich allgemein jede Menge interessante Depeschen aus damaliger Zeit, etwa wie Bern im Mai 1914 mit Paris und Berlin über eine Sicherstellung der Getreideversorgung der Schweiz im Kriegsfalle verhandelte.

      Schmidt versucht dagegen, wie mir scheint, aus dem für damalige wie heutige Verhältnisse sehr typischen defensiven Vorgehen eines kleinen Staates irgendeinen Pferdefuß zu drehen, um zu beweisen, dass die „Alliierten zuerst mobilisierten“ und aggressiv auf Krieg aus waren. Und verwechselt dabei nicht nur Daten, sondern pickt sich heraus, was er braucht, ohne den Kontext zu beachten. Wirkt freilich weder überzeugend noch macht es ihn zu einem guten Historiker.

      Dann noch zu dieser Wertung von Ihnen:

      Entsprechend früh erfolgte dann ja auch die russische Mobilmachung!

      Welche meinen Sie denn genau? Da gibt es unterschiedliche Phasen zu scheiden! Jede hat ihre eigenen Vorbedingungen und Hintergründe. Gehen Sie da bitte nicht den Russenhassern auf den Leim, die bereits damals sehr virulent in Deutschland unterwegs waren und keine Ahnung von dem Land hatten.

      Allgemein empfehle ich zur Kontrastierung dringend Dominic Lievens Towards the Flame. Auszüge (zu finden auf den S. 328 – 334):

      The Russian period preparatory of war was modeled on its German equivalent. It was the product of the Bosnian crisis, owing something to warnings from the military attaché in Berlin, Colonel Mikhelson, that “the preparedness for mobilization of the German army is so great that we cannot count on knowing intime that mobilization is under way”, a point he illustrated with reference in the entirely undetected preliminary warnings that had gone out to commanders of German military districts during the recent Moroccan crisis. (…) The law’s preamble stated its core aim, which was to use a period of diplomatic crisis that put peace at serious risk in order to take all preliminary measures to ensure that any subsequent mobilization and concentration of military forces went smoothly. Above all that meant ensuring that personnel, equipment, and supplies were in place and adequate when the orders for mobilization arrived. A limited recall of reservists in the frontier districts was allowed, above all to provide a military screen near the border behind which the Russian armies could concentrate and deploy.

      In the context of the July 1914 crisis, too much significance should not be ascribed to the arrangements authorized for the period preparatory to war. (…) The period preparatory of war did not however, allow either the recall of reservists in the military districts of the interior or the movement of troops from these districts to the border (…) The only way in which this could be done was to paste up the red mobilization posters across the length and breadth of the Russian interior, including Petersburg and Moscow. No one has suggested that this was done during the period preparatory to war in July 1914. In fact, as late as 4 p.m. on July 29 the German General staff itself reported that no significant number of reservists had yet been recalled in the Vilna or Petersburg districts, a statement that further undermines the argument that the measures taken by Russia under the terms of the period preparatory to war played a major role in alarming Berlin or bringing on the conflict.

      Und ganz wichtig:

      Unlike in the German case, Austrian and Russian planning did not require that mobilization lead inexorably to war without any possibility of a pause.

      (…)

      All judgements about the actions of statesmen and soldiers in these days have to take into account the fact that they were operating under extreme pressure, with very imperfect information and often with minimal sleep. But to blame this climate of fear and confusion on the Russians make no sense. On the contrary, it was the inevitable result of an Austro-German strategy that called for immediate and rapid war against Serbia, partly deluded itself into believing that this was achievable without Russan and French intervention, and fobbed off all attempts by entente diplomacy to gain sufficient time negotiate and avoid catastrophe until it was too late.

      Auch hier wieder: vorbeugende Maßnahmen, übliches Staatshandeln. Nur im Deutschen Reich führte Mobilmachung direkt zum Krieg – und wurde und wird jeder Schritt zur Mobilmachung als Weg in einen Krieg gelesen. Andere Länder waren da weitaus flexibler – oder begannen eingedenk des Umstands, dass man nie wissen konnte wann und wie schnell die Deutschen vor der Tür standen, allenfalls gleichermaßen damit Vorsorgemaßnahmen und Frühwarnsysteme zu adaptieren (wie im Beispiel hier die Russen). Nur sollte man da eben Ursache und Wirkung nicht verwechseln.

      Auch zum Rest von Schmidts Werk ließe sich viel schreiben. Es ist leider (freundlich formuliert) ähnlich fehlerbehaftet. Doch da reichen mir jetzt weder Zeit noch Links dazu. Den Artikel Ensels selbst fand ich wenig überzeugend.

      Ihnen aber noch ein gutes Wochenende!

      Gruß
      Altlandrebell

      1. @Altlandrebell
        28. Juni 2025 um 2:41 Uhr

        Guten Tag, alter Rebell,

        Sie erwarten nun sicher nicht, dass ich das alles wirklich übersetze und lese … ?!?

        Nur so viel:
        Erstens. Ich habe diese Information nicht aus dem bewussten Buch von Stefan Schmidt, sondern von irgendwo anders her. Der gute Mann ist also nicht verantwortlich, dass ich das vielleicht etwas zu ungenau dargestellt habe.

        Zweitens. Es ging mir nur darum, darzulegen, dass die Belgier schon etwas früher mit militärischen Vorbereitungen begonnen hatten als man gemeinhin glaubt.
        Wie man diese Vorbereitungen nun genau nennt – ob „Teilmobilmachung“ oder bloß „Verteidigungszustand“- das ist eine andere Sache und hier nähern wir uns m.E. der Haarspalterei. Schließlich geben Sie ja auch zu, dass Belgien bereits eine Woche vor dem bewussten 1. August 1914 und sogar einen Tag vor der serbischen Antwort auf das österreichischen Ultimatum gewisse Anstrengungen zur Herstellung des Verteidigungszustandes unternommen hatte. Dass diese nur defensiv sein konnten, liegt in der Natur der Sache.

        Sie schreiben:

        „Da sind offenkundig vorbereitende defensive Schritte am Laufen. Bei jeder Armee ist ja nur ein kleiner Teil wirklich ständig kampfbereite oder sonstige Truppe für Ausnahmesituationen (Kastrophen, Technik…). Hier scheint es in meinen Augen darum zu gehen, dass genau diese Kräfte, die ständig einsetzbar sind und jederzeit kämpfen können, aufgrund der allgemeinen Bedrohungslage in Bereitstellungsräume verlegt werden sollen (ergo: aus den Kasernen ausrücken), dass erste Reservisten einberufen werden und vielleicht zudem ein damaliges belgisches Äquivalent zum „DEFCON“ (Verteidigungsbereitschaftszustand) wie man es von den US-Amerikanern kennt, angehoben wird („put in a state of defence“). Solches Zeug. Da wird schlicht sichergestellt, dass man im Falle des Einmarsches einer auswärtigen Macht nicht wie ein begossener Pudel dasteht.“

        Nun hatte zwar auch das Deutsche Reich schon vor dem 1. 8. gewisse Vorbereitungen unternommen, meines Wissens handelte es sich hier aber nur um das Bereithalten von Aufmarschplänen und die logistische Vorbereitung möglicher Truppentransporte mit der Bahn und dann – zweitens – erst am 31. Juli die Ausrufung des sog. „Kriegsgefahrzustandes“.
        Die eigentliche deutsche Mobilmachung erfolgte offenbar wirklich erst ab dem
        1. August – also keineswegs früh – dann allerdings auf die bekannte gut organisierte und schnelle Art und Weise.

        Auf Seiten der Entente war man indessen schon etwas weiter und war anscheinend bereits frühzeitig davon überzeugt (oder gar willens), dass der Krieg nicht auf einen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien beschränkt sein würde …
        Ein Umstand, der wenig bekannt ist und den man in den gängigen Geschichtsbüchern selten findet, da in diesen zumeist lediglich über die formellen Mobilmachungstage informiert wird.

        Wenn ich mich recht erinnere, begann Frankreich schon am 24. Juli seine afrikanischen Truppen ins Mutterland zurückzuholen, was man sehr wohl als Teil eines Mobilmachungsprozesses bezeichnen kann und was zum Plan XVII der Franzosen passte.

        Ebenfalls am 24. Juli erfolgte meiner Erinnerung nach die Order, die französische Atlantikflotte ins Mittelmeer zu verlagern; schließlich galt zu diesem Zeitpunkt Italien noch als Teil des Dreibundes.
        Offenbar ging Frankreich ganz selbstverständlich davon aus, dass Großbritannien die französische Atlantikküste schon ausreichend schützen würde.

        Großbritannien setzte denn auch am 28. Juli seine Flotte in den Alarmzustand und alle Kapitäne erreichte der offizielle Befehl, dass ihre Schiffe in Bereitschaft sein sollten und ihren jeweiligen Hafen nicht mehr verlassen dürfen.
        Die Seeblockade konnte dann ganz pünktlich beginnen.

        Auch in Russland erfolgten schon eine Woche vorher durch den Kronrat Planungen zur Mobilisierung von 1.100.000 Mann. Generalstabschef Januschkewitsch gab dem zuständigen General Dobrolski den Befehl, die Mobilisierung in Gang zu setzen. Diese verdeckten Maßnahmen fanden sogar noch vor der ohnehin schon frühzeitigen formellen russischen Teilmobilmachung (am 29. 7.) statt.
        Bekanntlich sahen die französisch-russischen Verträge/Absprachen nun einmal eine sehr rasche russische Mobilisierung vor.

        Ist doch alles irgendwie seltsam …

        Gruß

        1. Guten Tag Herr Wirth und Altlandrebell,
          ich musste doch laut lachen, als ich diesen Dialog hier las. Denn als ich gestern Nacht das Ausgangsposting von Ihnen Herr Wirth gelesen hatte, hätte ich sonstwas darauf verwettet, dass Sie Herr Altlandrebell sich darauf stürzen würden wie der Falke auf die Feldmaus, so Sie denn nur irgendwie Kenntnis von diesem Post bekommen würden. Nun, und das haben Sie dann ja auch in ihrer üblichen, überausführlichen Art getan.
          Bei dem Thema Herr Wirth, muss man sich dann doch ordentlich wappnen, wenn unser Kollege im Orbit ist.

          Jetzt bin ich leider nicht so tief im Thema drin, dass ich hier wirklich entscheiden kann wessen Einschätzung hier näher an der Wahrheit liegt. Es sind wohl von beiden Seiten Aspekte angesprochen worden, die beachtenswert sind – wobei die Quellenlage bei Belgien dann doch ziemlich eindeutig ist. Ist ja aber auch nur ein Nebenthema, da man bei Belgien nun wirklich nur schwerlich offensive Motive vermuten kann.

          Auch in Russland erfolgten schon eine Woche vorher durch den Kronrat Planungen zur Mobilisierung von 1.100.000 Mann. Generalstabschef Januschkewitsch gab dem zuständigen General Dobrolski den Befehl, die Mobilisierung in Gang zu setzen. Diese verdeckten Maßnahmen fanden sogar noch vor der ohnehin schon frühzeitigen formellen russischen Teilmobilmachung (am 29. 7.) statt.
          Bekanntlich sahen die französisch-russischen Verträge/Absprachen nun einmal eine sehr rasche russische Mobilisierung vor.

          Dazu denke ich dann aber, dass Russland, was Mobilisierung angeht, auch ein sehr spezieller Fall war, aufgrund der Größe und der Weite des Landes, des weniger dichten Eisenbahnnetzes usw. Deswegen musste Russland nach Möglichkeit die deutsche Mobilisierung schon antizipieren um nicht zu viel Zeit zu verlieren. Diese Angst Zeit zu verlieren war aber natürlich auch ein Aspekt, der die Regierungen aller Beteiligten unter besonderen Druck stehen ließ und entsprechend nervös machte.

          Was den deutschen Aufmarsch gegen Belgien angeht, so war ich übrigens vor zwei Wochen mit dem Fahrrad noch zufällig auf Wegen unterwegs, die man auf den längst abgebauten Bahnstrecken zur belgischen Grenze neu anlegt hat. Drei Teilstrecken, die in Eifel und Ardennen bis genau an die alte belgische Grenze (Eupen-Malmedy) gingen, aber nicht weiter. In dieser damals wie heute fast menschenleeren Gegend (Fast) einzig und alleine für den Zweck gebaut die Truppen so schnell wie möglich an die Grenze zu bekommen. Für eine reine Defensive waren diese Strecken sicher nicht gebaut worden, nicht so.
          Das muss ne Menge Geld gekostet haben und konnte nicht allzu viel einbringen, aber vielleicht hatten die damals ja auch ein paar Sondervermögen für Infrastruktur 😉

          1. @Two Moon

            Hallo!
            Ja, das hat mich auch nicht groß gewundert, dass unser fleißiger Rebell sich hier rasch zu Wort melden würde …
            Und dann auch noch so umfangreich. Mag sein, dass er dieses Thema im Studium als Schwerpunkt hatte. So ganz schwach auf der Brust bin ich hier allerdings auch nicht.

            Auffällig ist, wie sehr Altlandrebell nach wie vor Fritz Fischer vertritt und wie vehement er modernere angelsächsische Autoren, insbesondere Clark, ablehnt, weil sie Fischers Narrativ beschädigen.
            Fischer war in der NS-Zeit übrigens Parteimitglied und es gehört nicht viel Fantasie dazu anzunehmen, dass er nach 1945 versuchte, sich durch eine besonders politisch-korrekte Geschichtssicht wieder lieb Kind zu machen.
            Übrigens ist Clark nicht der einzige angelsächsische Historiker, der die bisherige Sicht in Teilen relativiert.
            Weiterführend etwa auch dieser Artikel aus der WELT zum hundertsten Jahrestag:
            https://www.welt.de/print-welt/article569669/Der-falsche-Krieg.html

            Klar, im Kaiserreich haben sie auch Bahnstrecken zur Grenze gebaut. Ebenso wie die Russen, die das mit französischem Geld taten.
            Das Thema ist ja nun schon seit 100 Jahren immer wieder und immer noch genauer durchleuchtet und erforscht worden, sodass man meint, es müsste nun genug sein, aber das ist es offenbar nicht. Zu sehr ist nämlich die nachfolgende Geschichte, der ganze Rattenschwanz ab 1917 mit diesem entsetzlichen Krieg verbunden.

            ALLE waren sie schuld an dieser Urkatastrophe des
            20. Jahrhunderts.
            Die offiziellen Geschichtsbücher schreiben aber nun einmal die Sieger – und nicht die Verlierer.

            Was ich nicht leiden kann, das ist dieser unnatürliche Schuldstolz, mit dem manche Leute nun auch noch für 1914/18 Deutschland als Hauptschuldigen bemühen wollen. Die das tun, die WOLLEN ganz einfach ihr eigenes Land verachten. Das ist dann schon ein bisschen seltsam …

            Gruß

            1. @ Wolfgang Wirth

              Was ich nicht leiden kann, das ist dieser unnatürliche Schuldstolz, mit dem manche Leute nun auch noch für 1914/18 Deutschland als Hauptschuldigen bemühen wollen. Die das tun, die WOLLEN ganz einfach ihr eigenes Land verachten. Das ist dann schon ein bisschen seltsam …

              „Schuldstolz“ ist vielleicht nicht ganz das passende Wort, aber so etwas Ähnliches gibt es in der Tat. Ich erinnere mich noch gut, dass, nachdem ich Clarkes Werk gelesen hatte und es erst einmal ziemlich plausibel fand, ich in Diskussionen mit Freunden dann doch schnell heftigen Gegenwind bekommen habe. Da war ich dann ziemlich verwundert mit welcher Selbstsicherheit die Anderen ihre Meinung vertraten, obwohl sie nicht im Mindesten die Kenntnisse besaßen wie unser Kollege Altlandrebell.
              Sie bestanden einfach darauf, dass die alte Sicht noch gelten müsse in der den Deutschen ein Großteil der Schuld zugewiesen wurde.
              Aber wenn man einmal gewohnt ist die Historie aus einem bestimmten Blickwinkel zu sehen und sein Ego in Kombination mit nationaler Identität da irgendwie einsortiert hat, dass es für einen passt und halbwegs angenehm ist, dann wehren sich die Meisten doch vehement, wenn diese Sicht angezweifelt wird.

              ALLE waren sie schuld an dieser Urkatastrophe des
              20. Jahrhunderts.
              Die offiziellen Geschichtsbücher schreiben aber nun einmal die Sieger – und nicht die Verlierer.

              Nun im Falle von WK1 finde ich nicht, dass man da noch von Sieger-Geschichtsbüchern reden kann. Die gab und gibt es auch, aber eben nicht nur.
              Dass ALLE schuld waren, daran gibt es wohl kaum Zweifel. Der Streit geht doch in erste Linie darum ob es einen oder einige Hauptschuldige gab.
              Das aber wirklich zu entscheiden halte ich bei der Komplexität der Sache für ziemlich schwierig, denn zu viele Texte dazu sind ja auch von einem gewissen Vorurteil in die ein oder andere Richtung geleitet.
              Also möchte ich auch nicht allzu viel Gewicht auf die Sache legen.

              Interessant ist, was rauskommt, wenn man eine KI nach der Schuldfrage fragt. Hier gibt es in der Tat ein leichtes Schuld-Übergewicht für D/Ö, aber eben nur ein leichtes:

              1. Versailler Vertrag und Alleinschuld-These Im Versailler Vertrag von 1919 wurde in Artikel 231 die „Alleinschuld“ Deutschlands und seiner Verbündeten an Ausbruch und Folgen des Krieges verankert. Damit übertrug man den besiegten Mittelmächten die Hauptverantwortung für das gesamte Desaster – eine Sicht, die in den folgenden Jahrzehnten politisch und historisch stark umstritten blieb.

              2. Moderne Forschung: geteilte Verantwortung Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich unter internationalen Historikern die Auffassung etabliert, dass alle Großmächte von 1914 eine Teilschuld tragen – von London und Paris über Wien und Berlin bis nach St. Petersburg. Jede Regierung hätte durch entschlosseneres De-Escalieren oder bewusstes Blockieren der Militärallianzen den Kriegsausbruch verhindern können.

              3. Deutschlands und Österreich-Ungarns besonders schwerer Anteil Dennoch rücken viele Forscher Deutschland und Österreich-Ungarn wegen des „Blankoschecks“ von Kaiser Wilhelm II. an Wien, der schon im Juli 1914 bedingungslose Rückendeckung zusicherte, sowie wegen der deutschen Marschroute über Belgien besonders in den Fokus. Dieses entschiedene Eskalations- und Mobilisierungsvorgehen machte den Krieg fast unvermeidlich.

              Fazit Ein Staat allein trägt nicht „die“ Schuld – doch Deutschland und sein engster Verbündeter Österreich-Ungarn trugen durch ihre politischen und militärischen Entscheidungen im Sommer 1914 den größten Anteil an der Eskalation. Letztlich war es das Versagen ALLER großen Mächte, rechtzeitig auf Deeskalation zu setzen und die Domino-Kette aus Bündnisverpflichtungen, Mobilmachungen und Ultimaten zu stoppen.

              Zweifel an Clarkes Werk sind aber natürlich auch angebracht, solche z.B. wie sie Altlandrebell weiter unten zu Clarkes Sicht auf Serbien beschreibt. Und es mag auch noch viele andere Stellen geben, die mehr als angreifbar sind.

              Deutschland hatte durchaus _Gründe_ für diesen Krieg. Der preußische Militarismus war ja eine Art Selbstläufer. Auch wenn in dem von Ihnen verlinkten Welt-Artikel steht, dass der Anteil der Rüstungsausgaben im Deutschen Reich geringer war als in Frankreich und Russland, so war der Militarismus in Deutschland doch extremer und nach all den gewonnen Kriegen, auch wenn sie schon mehr als 40 Jahre zurücklagen, war auch das Selbstbewusstsein der deutschen Militärs extrem, ganz im Gegensatz zu Russen und Franzosen.

              Das Thema ist ja nun schon seit 100 Jahren immer wieder und immer noch genauer durchleuchtet und erforscht worden, sodass man meint, es müsste nun genug sein, aber das ist es offenbar nicht. Zu sehr ist nämlich die nachfolgende Geschichte, der ganze Rattenschwanz ab 1917 mit diesem entsetzlichen Krieg verbunden.

              Ich glaube das Thema ist erst zuende, wenn Menschen der beteiligten Nationen ihr ICH nicht mehr so sehr mit ihrer Nation indentifizieren müssen. Wenn man ständig mit-siegt oder mit-schuldig ist, nur wenn die eigene Nation etwas tut, dann ist es nur besonderen Charakteren möglich nicht der Versuchung zu erliegen eine schiefe Sicht auf die Dingen zu bevorzugen.

              1. @Two Moon
                28. Juni 2025 um 22:01 Uhr

                Guten Morgen,
                da meine Frau noch schläft, vor dem Frühstück ein paar Zeilen.

                Wir sehen die Dinge ja eigentlich relativ ähnlich.
                Nur am Rande: Die Kritik an Clark ist für mich nicht glaubwürdig.

                Zum Kriegsausbruch:
                JEDE beteiligte Macht hatte Gründe für diesen Krieg.

                Alle beteiligten Mächte taten schlafwandelnd und stur seit Jahren fast nichts, um Spannungen abzubauen.

                Und was das Entscheidende ist: Alle beteiligten Mächte waren im Grunde fest davon überzeugt, dass der Große Krieg unvermeidbar sei.

                In einer solchen Situation, in der extrem viel Spannung und Gegensatz aufgebaut worden war und bestand, ist es letztlich nicht entscheidend, durch welchen Katalysator es zur Entladung der aufgestauten Energie kommt.
                Meine Sicht mag naturwissenschaftlich scheinen und sie ist es auch.
                Weshalb auch nicht?? Der Mensch und seine Schöpfungen sind doch auch Teil der Natur!

                Ihr letzter Absatz ist am interessantesten. Sie schreiben:

                „Ich glaube das Thema ist erst zuende, wenn Menschen der beteiligten Nationen ihr ICH nicht mehr so sehr mit ihrer Nation indentifizieren müssen. Wenn man ständig mit-siegt oder mit-schuldig ist, nur wenn die eigene Nation etwas tut, dann ist es nur besonderen Charakteren möglich nicht der Versuchung zu erliegen eine schiefe Sicht auf die Dingen zu bevorzugen.“

                Das Bemerkenswerte ist ja nun, dass gerade jene Leute wie @Altlandrebell, die sich NICHT mit der eigenen Nation identifizieren, in besonderem Maße weiterhin verbissen an der Verteidigung ihres Narrativs hängen und meilenweit von einem entspannteren Blick mit mehr Abstand und Gelassenheit entfernt sind. Das gibt zu denken. Eine Art von umgekehrter Nationalfixierung.
                Aber ich muss schließen, mein Weib ist aufgestanden …

                1. @Wolfgang Wirth:

                  Ihr Post hat den Zeitstempel „28. Juni 2025 um 22:01 Uhr“. Aber Sie schreiben ihn frühmorgens.
                  Naja, die Forenmaske spinnt mal wieder.

                  Nur am Rande: Die Kritik an Clark ist für mich nicht glaubwürdig.

                  Da würde mich aber sehr interessieren warum genau Sie die nicht glaubwürdig finden? Wenn es Ihnen zu viel Schreiberei ist, vielleicht haben sie ja einen Link zu einem Artikel eines Kritikers über die Kritiker.

                  In einer solchen Situation, in der extrem viel Spannung und Gegensatz aufgebaut worden war und bestand, ist es letztlich nicht entscheidend, durch welchen Katalysator es zur Entladung der aufgestauten Energie kommt.
                  Meine Sicht mag naturwissenschaftlich scheinen und sie ist es auch.
                  Weshalb auch nicht?? Der Mensch und seine Schöpfungen sind doch auch Teil der Natur!

                  Dieser „naturwissenschaftlichen“ Sicht kann ich einiges abgewinnen. 43 Jahre Frieden in Zentraleuropa, große wirtschaftliche Konkurrenzsituation, enormes Bevölkerungswachstum in der Zeit, alle hochgerüstet und noch fast nirgendwo relevante Mengen an Pazifisten oder Menschen, die den Krieg nicht für normal oder sogar für nötig halten.
                  Dass aus diesem Gemisch, welches sicher noch einige andere fördernde Zutaten hatte, starke unterbewusste Zugkräfte bei allen beteiligten Entscheidern entstehen, ist ja mehr als wahrscheinlich. DAS wird sicher eine große Zutat gewesen sein.
                  Aber das schließt ja nicht aus, dass einige Akteure auch mit bewussten, „niederen Absichten“ die Kriegsgefahr geschürt und gefördert haben – mehr als Andere.
                  Aber ein bemerkenswerter Satz stand, wie ich finde, in dem KI-Text: „Jede Regierung hätte durch entschlosseneres De-Escalieren oder bewusstes Blockieren der Militärallianzen den Kriegsausbruch verhindern können.“

                  Das Bemerkenswerte ist ja nun, dass gerade jene Leute wie @Altlandrebell, die sich NICHT mit der eigenen Nation identifizieren, in besonderem Maße weiterhin verbissen an der Verteidigung ihres Narrativs hängen und meilenweit von einem entspannteren Blick mit mehr Abstand und Gelassenheit entfernt sind. Das gibt zu denken. Eine Art von umgekehrter Nationalfixierung.

                  Ja, so eine umgekehrte Nationalfixierung habe ich auch schon öfter erlebt. Ob das auch auf @Altlandrebell zutrifft? Um das zu beurteilen kenne ich ihn zuwenig. Offensichtlich ist, dass ihm das Thema sehr wichtig ist und dass er bei dem Thema auch sehr ärgerlich werden kann, was manchmal selbst durch seine sonst sehr höfliche Schreibweise hindurch scheint.
                  Aber wäre ich z.B. Israeli und ständig mit Landsmännern konfrontiert, die Israel von jeder besonderen Verantwortung für den 7 Oktober und Gaza reinwaschen wollen, würde es mir wohl ähnlich ergehen, ganz ohne irgendwelche Nationalfixierung.

                  Hier wird es langsam sehr heiß. Das wird keine angenehme Woche. Aber vielleicht haben sie ja ein kühleres Eckchen.
                  Gruss

                  1. @Two Moon
                    29. Juni 2025 um 16:49 Uhr

                    Hallo Two Moon,
                    auch hier ist es warm. … Daher eher kurz.

                    Zu Ihrer Frage hinsichtlich Clark:
                    Ehrlich gesagt ist mir nicht bewusst, dass Christopher Clark überhaupt(!) ernsthaft kritisiert wird. Ich weiß nur von jenem allgemeinen dumpfen Rummosern und sich ärgern darüber, dass er eben meint, dass alle Großmächte ihren Anteil an der Katastrophe gehabt hätten und nicht bloß die Mittelmächte..

                    Ernsthafte Sachargumente gegen sein Werk kenne ich nicht.
                    Oder sagen wir mal so:
                    Ich bewege mich eben nicht auf Seiten, wo das zu lesen sein könnte.

                    Unser Altlandrebell kann den guten Clark ja nun überhaupt nicht leiden, doch habe ich auch bei ihm wenig Substanzielles gefunden.
                    Ich habe mir wirklich die Mühe gemacht, die vier langen Texte von ihm unten noch einmal querzulesen.

                    Über Clark finde ich dort nur so viel, dass er sich darüber ärgert, dass Clark gegenüber Serbien eine – seiner(!) Meinung nach – zu kritische/ungerechte Haltung hätte. Mehr finde ich nicht. Und auch das ist bloß Meinung und kein Bezweifeln von Fakten!

                    Diese negative Bewertung Serbiens ist nun aber bezogen auf das ganze Buch von Clark mitnichten eine zentrale Passage, sondern eher eine Randnotiz, die am Beginn des Buches die angespannte Situiation auf dem Balkan beleuchten will und eben nicht eine sonderlich wichige Stelle.

                    Wichtig sind die Passagen über die französische und russischen Absprachen, die Politik von Poincare und auch die Umorientierung der britischen Politik unter König Edward VII.
                    (Ich denke doch, dass Clark auch über diesen Monarchen schreibt.)

                    Ich habe das Buch im Bücherregal und ich kann nicht sagen, dass mir damals – 1915 – bei der Lektüre darin etwas zu einseitig oder gar falsch erschienen wäre.

                    Wissen Sie, unser guter Altlandrebell gleicht bei diesem Thema einem befangenen Staatsanwalt, der auch nur ausschließlich nach belastendem Material sucht und gar nicht das Ziel hat, eine ausgewogene Gesamtschau zu erreichen …

                    Was Altlandrebell auch zu wenig berücksichtigt, dass ist das Ziel der Ententemächte, nicht mit dem Makel des Angreifers in die Geschichte einzugehen!
                    Das widerholte sich dann 2022, als die USA unter Biden über den russischen Angriff vermutlich überhaupt nicht sooo erstaunt gewesen waren …
                    Ganz ähnliche Vorgehensweise!

                    Die Frage, wie ernst gewisse Vermittlungsangebote der Entente 1914 überhaupt gemeint waren, müsste viel gründlicher geprüft werden. Die Deutschen sind in dieser Hinsicht vermutlich seit jeher weniger gerissen und weniger intrigant. Da haben uns die Briten und Franzosen etwas voraus.

                    Dafür waren wir eben immer die besseren Techniker und Organisatoren.

                    Gruß

      2. Ich habe Ihren Austausch @ Wolfgang Wirth + @ Two Moon am Wochenende nicht verfolgt und gehe jetzt auch nur auf einzelne Aspekte ein. Da Sie mein Interesse an dem Thema umtrieb – mich interessieren sehr viele Themen und ich äußere mich ausführlich zu Artikeln, die Quark verkaufen. Nicht allen, dazu reicht meine Zeit nicht, aber die von Ensel oder heute Frau Burger sind immer recht Quark- und Druidentee-haltig. Genderismus wie Nationalchauvinismus (deutsche Julikrise-Literatur) sind mir obendrein an der Universität begegnet und dass ich mich in Anfangseingaben / -kommentaren umfänglicher äußere ist auch bekannt. In einem Debattenforum schreibe ich sicher auch mal kürzer, sehe hier Tweets aber fehl am Platz, für die gibt es X und wie sie alle heißen. @ Two Moon kann es natürlich auch einfach auf mein Steinbock-Stellium in Verbindung mit meinem Aszendenten zurückführen. 😎 Womit ich gleichwohl wenig anfangen kann @ all, sind irgendwelche Ableitungen und Mutmaßungen zu mir aufgrund meines Alters, meines Geschlechts, meiner politischer Sozialisation, Herkunft et cetera. Die braucht es nicht und da kann ich auch sehr grantig werden und zukünftig reziprok antworten.

        So, nun versuche ich der Reihe nach einige Punkte Herrn Wirths aufzugreifen:

        Ich habe diese Information nicht aus dem bewussten Buch von Stefan Schmidt, sondern von irgendwo anders her.

        Verzeihen Sie die Verwirrung, es klang für mich einfach so, dass Sie die Angabe ebenfalls Schmidt entliehen hätten, da Sie zuvor mehrere Passagen aus seinem Werk zitiert hatten. Da ging ich einfach davon aus, dass auch Ihre letzten beiden Absätze weitere Paraphrasierungen jener Abhandlung darstellten.

        Im Netz findet sich diese Information freilich verschiedentlich. Wenn nicht bei Stefan Schmidt, so zumindest bei seinem Namensvetter Stefan Scheil und zwar in dessen „Studie“ Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. In der Sezession „analysierte“ jener 2014 hier „einen einzigen, bedeutenden Tag der finalen Vorkriegsphase; der folgende Beitrag gibt einen Vorgeschmack auf sein neues Werk“. Und da findet sich die entsprechende Passage:

        Am 24. Juli 1914 gab das belgische Außenministerium ein Rundschreiben an die Offiziere der belgischen Armee heraus. Darin stand zu lesen, Belgien habe vollständig mobilisiert. Lediglich zur Tarnung folgte die offizielle Mitteilung der belgischen Mobilmachung erst am 30. Juli 1914.

        Somit ist es Scheil, der entweder nicht fähig ist, Quellen richtig zu lesen, weil er sonst wüsste a) wozu die Anlage von Depesche Nr. 2 gedient hat und b) dass Belgien erst am 31. Juli mit der Generalmobilmachung begann. (Das hätte dann Krumeich’sche Qualitäten!) Oder der bewusst eine Mär in Umlauf bringen will. Aufgrund des Aufbaus und der Präsentation des Artikels, insbesondere aber wegen des letzten Satzes („Lediglich zur Tarnung“), gehe ich stark von letzterem aus. Da ist nämlich nichts „zur Tarnung“ geschehen. So wie Frau Burger und ihre Stichwortgeberin normen wollen, dass Männer „ein deutlich höheres Gewaltpotenzial“ hätten, will dieser Typ normen, dass das arme Deutschland „mitten im Frieden vom Feind überfallen“ worden sei – so ja auch der Titel seines Buches und so hat es ja auch sein geliebter Kaiser geschwätzt. Überzeugt mich beides nicht, riecht beides Mal nach identitären Fanatikern.

        Apropos Kaiser, zudem gab es bei Scheil noch weitere völlig in die Irre führende Passagen wie diese weiter unten:

        Am 24. Juli 1914 schipperte andererseits Kaiser Wilhelm II., den die alliierte Propaganda als das Monster gezeichnet hat, das die Hunde des Krieges von der Kette gelassen habe, noch völlig ruhig auf seiner Sommerreise durch norwegische Gewässer, noch völlig im unklaren darüber, daß sein vollkommener Ruin im Anzug war.

        Hinweise zu Bedeutung, Ausgestaltung und Sinn der Nordlandreise des vorgeblich friedlich schippernden Willys – ein Sujet, das auch Ensel nur en passant streift – habe ich in Teil III meines eigenen Kommentars zu Ensels Beitrag geteilt. Scheil und die Deutschnationalen können und wollen so etwas natürlich nicht sehen.

        Scheils Vorgehen und Quellenumgang ist letztlich schlicht unredlich. Wenn so bereits der erste Happen seines Werkes mundet, kann man sich ja denken wie der Rest schmeckt.

        Es ging mir nur darum, darzulegen, dass die Belgier schon etwas früher mit militärischen Vorbereitungen begonnen hatten als man gemeinhin glaubt.

        Mir ging es darum aufzuzeigen, dass erhebliche qualitative Unterschiede zwischen einer Teil- und einer Gesamtmobilmachung bestehen und dann vor allem nochmals zu präventiven und vorbereitenden Defensivmaßnahmen. Man kann schlicht nicht Bewegungen und Tun, die auch in Friedens- und Krisenzeiten zum Standardrepertoire gehören, mit einer Generalmobilmachung in den Topf schmeißen und irgendetwas daraus abzuleiten versuchen.

        Schließlich geben Sie ja auch zu, dass Belgien bereits eine Woche vor dem bewussten 1. August 1914 und sogar einen Tag vor der serbischen Antwort auf das österreichischen Ultimatum gewisse Anstrengungen zur Herstellung des Verteidigungszustandes unternommen hatte.

        Nein, da habe ich nichts „zugegeben“. Da müssen Sie schon genau lesen, Herr Wirth.

        Ich habe anhand der Primärquelle (Telegramm-Sammlung) den Unsinn auseinandergenommen, wonach Belgien bereits am 24. Juli vollständig mobilisiert gewesen sei, denn genau das wird in der nun nicht von Schmidt, sondern von Scheil stammenden Passage behauptet („Darin stand zu lesen, Belgien habe vollständig mobilisiert“). Jeder, der das liest, denkt, dass schon über eine Woche vor dem deutschen Überfall eine vollauf einsatzbereite belgische Armee in ihren Stellungen gestanden hätte und nur darauf gewartet habe, dass auch die armen, friedlichen Deutschen mobilisierten, um endlich über diese herfallen zu können. Nur war dem eben nicht so.

        Belgien hat am 24. Juli (= einen Tag vor der serbischen Antwort) nichts Militärisches unternommen, auch nicht klandestin. Sein Außenminister Davignon – übrigens Großvater des mutmaßlich in die Ermordung Lumumbas verwickelten Diplomaten und Bilderberg-Ehrenvorsitzenden Étienne Davignon – hat lediglich einem Schreiben an verschiedene belgische Botschaften im europäischen Ausland eine Anlage für den Bedarfsfall beigefügt. Dieses für den Giftschrank vorbereitete Dokument ist nicht mit der Tatsachenschilderung eines Ist-Zustands zu verwechseln wie ich in meiner ersten Antwort bereits erläuterte. Lesen Sie die entsprechenden Passagen in meinem zugehörigen Kommentar bitte nochmals.

        Ansonsten wies ich darauf hin, dass die Belgier – wie auch andere kleine Neutrale wie die Schweiz und die Niederlande – unterhalb der Schwelle einer Teil- oder Gesamtmobilmachung laufende Schritte ergriffen. Jene erwähnten 08/15-Maßnahmen, in die nur Leute, die vom militär-politischen Prozedere keinen Schimmer haben, etwas hineindeuteln können – oder Ideologen, die dem Angegriffenen (Belgien) einen Strick drehen und das Opfer zum Täter machen wollen. Das waren Maßnahmen, wie sie vermutlich auch bei anderen Großkrisen in den Jahren zuvor getroffen worden waren. Dazu zählten die erwähnte Einberufung bestimmter Reservisten, das Schließung der Börse, militärische Präsenz an Bahnhöfen (BEL) oder die Vorbereitung zum Abriss von Brücken oder der Sprengung von Deichen (NDL). Das sind qualitativ schlichtweg andere Maßnahmen als eine Gesamtmobilmachung, welche die vollständige Aktivierung des Heeres, die Einberufung aller wehrpflichtigen Reserven und die Umstellung der gesamten Infrastruktur und Ökonomie auf Kriegsbetrieb umfasst hätte. Und es unterscheidet sich auch von den Maßnahmen einer Teilmobilmachung, wie sie Lieven in seinem Buch anhand des russischen Fallbeispiels aufzeigt. Für die Generalmobilmachung hätte es überall der roten (und sonst wie farbigen) Anschläge gebraucht. Die hingen aber weder in Belgien noch in Russland am 24. Juli 1914 aus.

        Wer das vermengt und unterschiedliche Maßnahmen einfach unter dem Sammelbegriff „Mobilmachung“ zusammenzufasst, arbeitet bestenfalls unsauber. Die von mir zitierte Schilderung von Hugh Gibson illustriert doch klar, dass Belgien vor dem 31. Juli 1914 keine General- oder Teilmobilmachung durchgeführt hat (wie von Scheil insinuiert), sondern rein defensive, begrenzte 08/15-Schritte ergriff. Das war proaktives Staatshandeln, nicht die Vorbereitung eines totalen Krieges.

        Nun hatte zwar auch das Deutsche Reich schon vor dem 1. 8. gewisse Vorbereitungen unternommen.

        Da finden sich in der Literatur aber diverse Passagen, dass diese „gewisse[n] Vorbereitungen“ erheblich waren:

        Es kann keine Rede sein von einem „Fatalismus“ des deutschen Reichtskanzlers. Bethmann Hollweg unterbrach seinen „Urlaub“ auf seinem Gut in Hochfinnow, den er am Nachmittag des 4. Juli begonnen hatte, nicht am 5. und 6. Juli für den österreichischen Sondergesandten Graf Hoyos, sondern auch an drei weiteren Tagen, nämlich am 10., 15. und 18. Juli, für Besuche in Berlin. Dort konferierte er mit den Chefs der Reichsämter, der preußischen Ministerien und der Militärbehörden, auch der Reichsbank, um im einzelnen – denn Krieg wurde nun als sicher betrachtet – die Fragen der Mobilmachung, der Versorgung und der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen den zivilen und den militärischen Behörden zu erörtern. Alles dieses ist aktenkundlich aufgezeichnet. Der Kanzler war in Wahrheit ein Bündel von Energie und Aktivität.

        Quelle: Fischer, S. 46

        Man merke I: Aktenkundlich, also nachlesbar. Ich habe jetzt die Akten und Quellen, die der Verfasser im Anhang nennt, nicht bei mir, die müsste man sich wohl im Bedarfsfall liefern lassen, denn meine sechs Bücherschränke sind nicht das Zentralarchiv.

        Man merke II: Am 18.07.1914 spätestens (von einem Ultimatum hat außerhalb von Berlin und Wien noch keiner was gehört, selbst der eigene Dreibundpartner Rom kennt allenfalls Gerüchte und Ausgeplaudertes) wurde Krieg deutscherseits „nun als sicher betrachtet“. Zimmermann sagte Hoyos ja sogar schon am 05.07.1914 (wie ich in meinem Kommentar darlegte), dass das „Risiko“ zu „90 % Krieg mit Russland“ betrage.

        Dann, weil Ihnen Fischer ja nicht passt und „wir“ auf das Anliefern der Akten nicht warten wollen:

        Schon kurz nach dem berühmten Blankoscheck, den Kaiser und Kanzler den Österreichern zum Vorgehen gegen Serbien am 5. / 6. Juli ausgestellt hatten, wurde von deutscher Seite die „unauffällige Vorbereitung der Armee und der Flotte“* eingeleitet. „Es wurde beschlossen, auf alle Fälle vorbereitende Maßnahmen für einen Krieg zu treffen. Entsprechende Befehle sind darauf ergangen.“** Außerdem hatten Kriegsminister Falkenhayn und der Oberquartiermeister des Großen Generalstabes, Generalmajor Waldersee, dem Kaiser versichert, „das Heer [sei] für alle Fälle bereit.“

        Sternchen* 1: Die Quelle für dieses Zitat findet sich in Röhl, John C. G. (2008): Der Weg in den Abgrund, S. 1087.

        Sternchen** 2: ebd., zzgl. diese hier, die Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs des Auswärtigen, Freiherr v. d. Bussche, der die Quelle zudem als „durchaus zuverlässig“ einstuft

        Das sind übrigens keine bloßen „Meinungen“ – auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein – sondern handfeste Dokumente und quellengestützte Argumente.

        Das „mitten im Frieden überfallene“ arme Deutsche Reich trifft also Anfang Juli 1914 vorbereitende Maßnahmen für einen Krieg. Wo und wann wurde das eigentlich beschlossen? Mein Tipp (Zusammenfassung von Westipedia):

        After receiving the documents from Hoyos, the German monarch summoned not only the Reich’s acting military leaders, but also his ministers, who were in Berlin at the time. Wilhelm II’s first consultation brought together Erich von Falkenhayn, the Prussian War Minister, Hans von Plessen, aide-de-camp to the German Emperor, and Moritz von Lyncker, head of the military cabinet, while the second meeting chaired by the Emperor brought together the Reich’s political leaders, Chancellor Theobald von Bethmann-Hollweg, his Under-Secretary of State Arthur Zimmermann and Minister Erich von Falkenhayn. No records were kept of these meetings.

        Für was so ein großer Kriegsrat, wenn man seinem Verbündeten nur den Rücken stärken oder eigentlich nur friedliche Absichten hat und in Urlaubsstimmung ist? Jammerschade auf jeden Fall, dass es da abgesehen von Stichworten wie den von Bussche zufällig keine Unterlagen zu jenen Besprechungen (mehr) gibt.

        Weiter aber mit Gietinger & Wolf:

        Am 14. Juli 1914, zwei Tage nach Poincarés Abreise nach St. Petersburg, traf ein aus Warschau abgeschicktes Schreiben eines Informanten, eines gewissen J. Dombinski, im französischen Präsidentenpalast ein: „Soeben ist einer meiner Vettern aus Preußen hier angekommen. Er konnte feststellen, dass man sowohl in Berlin wie in Posen und Danzig mit fieberhafter Aktivität zum Krieg gegen Russland und Frankreich rüstet.“ Und weiter schildert der Briefeschreiber die eingeleiteten Maßnahmen: „Tag- und Nachtarbeit in den Arsenalen, Aufhäufung von Munition, Einstellung weiblichen Personals in den öffentlichen Betrieben, Anspeicherung von Lebensmittel-Magazinen, Lieferung von Feldküchen an die Truppen, Einstellung von Zivilpersonen in den Hilfszweigen der Armee, Bestellung von gefütterten Kleidern für den Winterfeldzug usw.“

        Quelle: Gietinger & Wolf, S. 195

        Die Autoren schreiben, dass man dem Briefeschreiber in Paris nicht geglaubt habe, ihn aber nach „Kriegsausbruch“ vergeblich versuchte ausfindig zu machen. Den Brief zitieren sie nach einem Buch von Helmut Donat, noch ein Friedensforscher. Die Schilderungen passen auf jeden Fall auffällig gut zur 90-%-Aussage Zimmermanns, zu den von Bussche erwähnten „vorbereitende Maßnahmen“ sowie zum Sager Bethmanns, Wilhelm solle am 07. Juli auf seine übliche Nordlandfahrt gehen, weil sonst ganz Europa merken würde, dass sich hier etwas anbahne (in meinem Kommentar in Teil III unten zitiert).

        Da ist dann einfach Röhl zuzustimmen:

        SPIEGEL: Aber führende Militärs gingen ebenfalls in die Ferien. Das macht man doch nicht, wenn ein Krieg bevorsteht.

        Röhl: Auch dies sollte den Schein der Friedfertigkeit erwecken. Außerdem hielten sie ihre Vorbereitungen für abgeschlossen. Es gab keinen Grund, in Berlin zu verweilen.

        Oder Mombauer:

        Generalstabchef Helmuth von Moltke weilte seit dem 28. Juni zur Kur in Karlsbad und wurde von seinen Kollegen über die Entscheidungen auf dem Laufenden gehalten. Diese absichtliche Täuschung konnte unbesorgt inszeniert werden, denn wie General von Waldersee dem Staatssekretär Jagow „streng vertraulich“ in einem Brief vom 17. Juli versicherte, „im Generalstab [ist man] fertig, einstweilen ist von uns nichts zu veranlassen. Moltke plante seine Rückkehr nach Berlin für den 25. Juli, und bis dahin war Waldersee, wenn nötig, „zum Sprung bereit“.

        Quelle: Mombauer, Annika (2014): Die Julikrise, S. 49

        Den ganzen restlichen Monat nach dem obigen Kriegsrat verbrachten die maßgebenden Herren damit an Täuschungen und Begründungen zu feilen. Denn Krieg stand fest und wurde vorbereitet. Und diese „gewissen Vorbereitungen“ des Reiches waren zum 17. Juli schon abgeschlossen. Es ging jetzt nur noch um das „Shaping“, das Design, des Ganzen: Großbritannien nach Möglichkeit rauszuhalten, das Ultimatum auszufeilen, die Sozialdemokratie zu gewinnen, sich als den Angegriffenen und / oder als Opfer der Umstände zu präsentieren etc. Nochmals mit Mombauer:

        Aber dennoch bleibt die Tatsache, dass Wiens Staatsmänner willkürlich einen Krieg gegen Serbien planten, dessen voraussichtliche Eskalation sie klar erkannten und bewusst mit einkalkulierten. Vielleicht waren tatsächlich unter Entscheidungszwang. (…) Das erklärt die Entscheidungen, die sie trafen, aber es entschuldigt sie nicht.

        Wichtig war nun in Wien als auch in Berlin, die Geheimhaltung des gefassten Plans, nicht zuletzt weil man das Ultimatum nicht sofort abgeben konnte. Erstens war es die Zeit des jährlichen Ernteurlaubs der Reservisten der Doppelmonarchie (…) Zweitens wäre mit Übergabe eines Ultimatums auch das Ausland alarmiert, dass man in Wien auf eine militärische Aktion zusteuerte. Des Weiteren stellte sich das Problem eines seit Frühjahr geplanten französischen Staatsbesuchs in Russland. (…) Während der Zeit in Petersburg wäre es so den Verbündeten Frankreich und Russland möglich gewesen, gemeinsam auf eine österreichische Provokation zu reagieren und (…) sehr viel schneller miteinander zu koordinieren.

        (…)

        Die Julikrise war in den ersten Juliwochen ein österreichisch-ungarisches und deutsches Unternehmen – bewusst geheim gehalten, um es den anderen Großmächten nicht zu ermöglichen, durch eventuelle Mediationsversuche einen Krieg gegen Serbien doch noch zu verhindern. (…) nur der deutsche Verbündete wurde von Wien ins Vertrauen gezogen.

        Quelle: dies., S. 46 f.

        Das sind die Tatsachen. Das ist belegbar. Und mir kommt man jetzt mit „französisch-russischen“ Absprachen und Intrigen. Frage: Gab’s die denn auch schon Anfang Juli? Haben die auch konspiriert? Oder hat man in St. Petersburg und Paris gar daran gearbeitet Wien und Berlin zum Blankoschecken und Kriegplanen zu verlocken?

        Die Deutschen waren Anfang / Mitte Juli 1914 schlicht kampfbereit oder dabei alle relevanten Maßnahmen zur Kriegsbereitschaft einzuleiten. Und konnten dann ihre Militärmaschinerie praktisch jederzeit auf Knopfdruck auslösen. Was fehlte war wie geschrieben die richtige Verpackung, denn schon damals konnte man nicht einfach über die Grenze der anderen ziehen und losholzen. Nicht diskutiert wird all das freilich bei Autoren wie Scheil, denn sonst könnte man ja nicht die These aufrechterhalten man sei „mitten im Frieden überfallen worden“. Stattdessen macht sich deren Fan-Clique lieber über Leute her, die ihnen etwas entgegnen. Unter einer Neuauflage von Mombauers anderem Werk goebbelt einer auf Amazon beispielsweise:

        Bei diesem Unterfangen scheitert sie leider erheblich, die Vielzahl von Veröffentlichungen von namhaften Historikern wie Konrad Canis, Christopher Clark, Rainer F. Schmidt, Sean McMeekin, Hans Fenske, etc etc. können mit einem deratig dünnen Bändchen nicht relativiert werden.

        Das „dünne Bändchen“ ist übrigens 400 Seiten lag – aber „wir“ haben eben alle unsere eigene Vorstellung was ein dünnes Buch oder ein langer Text ist. Und wie „namhaft“ ein tendenziöser von der Bundesregierung hofierter Schreiberling wie Clark oder ein Russenfresser wie McMeekin ist, der behauptet Stalin sei schlimmer als Hitler gewesen, sei auch dahingestellt. (Wie üblich nennt der Troll auch keine Argumente, warum sie „gescheitert“ sein soll, außer ad hominem und Mimimi).

        Auf Seiten der Entente war man indessen schon etwas weiter und war anscheinend bereits frühzeitig davon überzeugt (oder gar willens), dass der Krieg nicht auf einen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien beschränkt sein würde …

        Und wann war dieses ominöse „frühzeitig“? Vor dem Blankoscheck? Vor dem 17. Juli? Das ist doch alles arg zu bezweifeln und das ist das Problem der Germanophilen. Die maßgebenden klein- und großdeutschen Entscheider wussten nämlich wie geschrieben bereits am 05. Juli, dass das „Risiko“ zu „90 % Krieg mit Russland“ betrage (Zimmermann) oder waren eben wie Waldersee „zum Sprung bereit“. (Kierkegaard kommt in den Sinn!) Und Krieg mit Russland bedeutete in der Tat in diesem spezifisch-deutschen Falle quasi automatisch Krieg mit Frankreich. Denn die unflexible Berliner Kriegsplanung hat ja den „Großen Ostaufmarsch-Plan“ 1913 endgültig eingestellt gehabt. Hierzu das hier in puncto Julikrise ansonsten weitestgehend unbrauchbare Westipedia:

        Dieser Plan sah vor, dass für den Fall eines russischen Einmarsches auf dem Balkan die deutschen Streitkräfte gleichmäßig auf die Ost- und die Westfront verteilt werden sollten; im Westen wäre ein rein defensives Verhalten befohlen worden, wobei von Frankreich eine Neutralitätserklärung gefordert worden wäre. Im Osten hätte man dann versucht, das Zarenreich militärisch zu besiegen.

        Im April 1913 wurde der Ostaufmarsch-Plan vom Generalstab unter seinem Chef Helmuth Moltke „dem Jüngeren“ zugunsten des auf Präventivkrieg ausgerichteten Schlieffen-Plans außer Kraft gesetzt, der als erstes und vor>/I> einer gegnerischen Operation einen Angriff auf Frankreich vorsah.

        War das Frankreichs Versagen? Frankreichs Schuld? Wer zwang die Deutschen denn überhaupt in Frankreich einzumarschieren? Ensels „gespenstische Hand“? Wilhelm II. wollte ja sogar zwischendurch alles gen Osten werfen, zur Panik und zum Entsetzen seiner Militärs. Nein, es war klar: Kommt es zum Konflikt mit Russland, rollt der erste Angriff gegen Frankreich:

        Deutschland war wie keine andere Großmacht von den Planungen des Militärs abhängig. Der von den Militärs oktroyierte Schlieffenplan ist eine der Ursachen für den Weltkrieg. Dies sieht auch Münkler (ja selbst der konservative Historiker Ritter) so und dies ist einer der wenigen Punkte, in dem man ihm zustimmen kann. Clark aber vergisst dies vollkommen bzw. er vernebelt es.

        Übrigens zeigte das demokratische Frankreich in einem ganz entscheidenden Fall, wer dort das Sagen hatte. Als Generalstabschef Joffre plante, der deutschen Armee 1914 zuvorzukommen und Deutschland über Belgien anzugreifen und damit die (international garantierte) belgische Neutralität zu verletzten, verbot ihm dies der von Clark als kriegstreiberisch geschilderte Poincaré (Schlafwandler: S. 387 ff.). Bethmann Hollweg war im umgekehrten Fall nicht mal auf die Idee gekommen, Belgien zu verschonen. Das war trotz der ganzen Clark’schen Sophistik der entscheidende Unterschied der den einen Staat zum Aggressor und den anderen zum Opfer macht.

        Quelle: Gietinger & Wolf, S. 160

        Und Frankreich wusste zwar seit Jahren von der deutschen Planung, hatte aber mit dem vorgeblichen Kriegsanlass („pöse Serben in Sarajewo“) freilich gar nichts zu tun – und das ist eben das entscheidende. (Im Unterschied übrigens zu Russland, das damals wie heute eine sehr spezifische Art von Schutzmacht Belgrads war.) Genauso wenig hatten auch die Belgier und Luxemburger etwas mit dem Balkan zu tun (ursprünglich hatte Schlieffen bei seinen Planungen auch die Vergewaltigung der Niederlande angedacht. Der Marsch durch den Maastricht-Korridor was später dann verworfen worden, man brauchte ja noch eine Milchkuh. Den Haag scheint es freilich nicht gewusst zu haben und hat dann die genannten Vorbereitungsmaßnahmen zum Deichsprengen etc. vorsorglich getroffen.).

        Und weil hier immer Schmidt kommt – Frankreich mag Ende Juli dann auch nicht (mehr) Wert darauf gelegt haben, einen Waffengang zu vermeiden. Mag sein. Interessant ist aber eben auch, was für den 26. Juli dokumentiert ist. Zitat aus Mombauer:

        Bereits am 26. Juli waren sich in Paris Kriegsminister Messimy und Generalstabschef Joffre einig, „dass wir nicht die Ersten sein werden, die irgendeine Initiative treffen, aber dass wir ohne jede Verzögerung alle Vorsichtsmaßnahmen treffen werden, die denen unserer Feinde entsprechen“. In der Regierung beschloss man die Mobilmachung zu verzögern und nur die geringsten militärischen Vorbereitungen zu treffen. Französische Truppen soltlen zehn Kilometer hinter der Grenze zurückgehalten werden, um sicherzustellen, dass man nicht für eventuelle Grenzübergriffe verantwortlich gemacht werden konnte.

        (…)

        Der belgische Gesandte in Paris, Jules Guillaume, wusste zu berichten, dass der französische Generalstab „den Krieg will, weil er den Moment für günstig hält und weil man nun endlich der Sache ein Ende bereiten sollte“. Aber man wollte nur mobil machen, wenn man mit „dem Unvermeidlichen“ konfrontiert sei. Es gab allerdings in Paris Stimmen, die noch an einen Ausgleich glaubten. So hoffte vor allem Ministerpräsident und Außenminister René Viviani (…)

        Quelle. Mombauer, S. 90 f.

        Das böse Frankreich, das gegen das seit Wochen unvorbereitet-vorbereitete Deutschland konspiriert und über es herfallen möchte, beschließt die Mobilmachung sogar zu verzögern und nur Krieg zu führen, wenn man mit „dem Unvermeidlichen“ konfrontiert würde. Selbstverständlich ist das Kalkül. Und selbstverständlich ist der französische Staat kein Friedensengel, auch wenn es in ihm mehr Friedenstauben gegeben haben mag als in Deutschland. Aber extrem aufschlussreich sind diese Passagen. In Deutschland war man ja schon seit drei Wochen zum Krieg entschlossen…

        Frankreich galt als der schwächere der beiden Hauptgegner, deswegen sollte es in sechs Wochen aus dem Feld geschlagen werden, um die Front zu bereinigen und deswegen musste man diese drei unbeteiligten Länder angreifen. Es ist aber nicht das Problem oder die Schuld von Paris, Brüssel und Luxemburg, dass Berlins Planung so unflexibel war wie sie es nun einmal gewesen ist. Die Deutschen hätten auch ihr schönes Geld in einen Festungsgürtel (wie wäre es mit: „Westwall“) gegen mögliche französische Angriffe oder auch in Argumente statt in unbrauchbare Schaluppen investieren können. Dann wären Franzosen blöd dagestanden und all ihr Kalkül den Rhein runtergegangen.

        Zurück zur Überzeugung, dass sich der Krieg nicht auf Serbien lokalisieren lasse. Das 90-Prozent-Risiko, dass ein (ungerechtfertigter oder aggressiv designter!) Waffengang gegen Serbien, auch Krieg mit Russland (und Frankreich) darstellen würde – und auch die Probleme, die daraus aufgrund des Überfalls auf Westeuropa in Gestalt Londons erwachsen konnten – war Bethmann, Zimmermann und Co. übrigens vollkommen klar. Weswegen sie, wie Lieven informiert:

        The crucial decision would, however, be made in Berlin. In July 1913, the Austrians had proposed and the Germans had vetoed military action against Serbia. True to this policy, the German ambassador in Vienna initially preached restraint to the Austrians after the assassination in June 1914, only to be roundly denounced by the kaiser. As a result, Heinrich von Tschirschky became an advocate of aggression (…)

        Germany’s agreement on July 5 and 6 to Austrian action against Serbia was the single most decisive moment in Europe’s descent into war. Vienna was asusured that if Russia did intervene, then Germany would go to war in support of Austria’s plan to destroy Serbian independence.

        Lieven, S. 316 f.

        Die Deutschen hätten anders entscheiden und das alles anders aufziehen können. Sie haben es nicht. Sie wollten es nicht.

        Durch Indiskretionen und Geheimdienste war den Alliierten freilich ab Mitte Juli bekannt, dass bei den Mittelmächten irgendwas im Busch war:

        The first indication received by Petersburg that on this occasion Berlin might well not restrain Vienna came from the British foreign secretary, Sir Edward Grey, through Alexander Benckendorff, in a letter dated July 9. In line with his overall approach in 1914, the foreign secretary’s view was that everything possible should be done to reassure Berlin and avoid stirring up its fears and nerves. [Anm. CR: Aber Grey und die Briten waren ja Kriegstreiber und ihre Vermittlungsangebote nicht ernst zu nehmen!!1!]

        Red alarm began to develop in Petersburg on July 16 when warnings arrived from two sources that a strong Austrian move in Belgrade was imminent.

        Wo die doch alle so unvorbereitet waren in Wien und Berlin!

        So konnte der italienische Außenminister Antonio di San Giuliano am 16. Juli an italienische Botschafter ins Ausland telegraphieren, er habe vo[m deutschen Botschafter in Rom] Flotow erfahren, „dass Österreich Serbien auffordern werde, ernste Maßnahmen gegen die Pan-Serbische Propaganda zu unternehmen und dass, sollte sich Serbien widersetzen, Österreich Gewalt benutzen wird“. (…)

        Auch in London kursierten Gerüchte. (…)

        Aber auch dem französischen Militärgeheimdienst war es gelungen, Einzelheiten über die geplante Aktion in Erfahrung zu bringen – er beschrieb die Situation am 17. Juli als ebenso ernst wie die „von 1908-1909 und die von 1912-1913“. Damit war er der Wahrheit erstaunlich präzise auf die Spur gekommen; leider leitete der Generalstab die Meldungen aber erst am 22. Juli an das französische Auswärtige Amt (…) weiter

        Tja, aber das war eben Wochen (!) nachdem man in Berlin damit rechnete, dass es zum europäischen Großkrieg kommen musste und seine „Vorbereitungen“ eingeleitet hatte. Und sehr überrascht war man in London und St. Petersburg über den Wortlaut – des bewusst unannehmbar designten – habsburgischen Ultimatums:

        [Sazonov] was exspecting a stern Austrian note, but even so the terms and tone of the ultimatum surprised him as much as they did Sir Edward Grey. The Austrian demands were phrased in categorical and humiliating terms (…)

        Quelle: Lieven, S. 318 f.

        In Wien wollte man eben Krieg mit Serbien und nahm den Krieg mit Russland in Kauf. In Berlin wollte man die Sprengung der Triple Entente und Krieg mit Frankreich und Russland und nahm den Krieg mit dem Vereinigten Königreich in Kauf. Was man in Berlin nicht wollte war der Weltkrieg aus für das Reich ungünstiger Position, weswegen sie London fürs Erste rauszudrängen suchten. Das hat aber nicht geklappt, da hat man sich verbrannt und das wussten die Entscheidungsträger auch genau. Aber groß gekümmert hat es sie dann auch nicht. Zitat Falkenhayn (31.07.1914):

        Selbst wenn wir darüber zugrunde gehen, schön war’s doch!

        Ja, richtig schön. Außer für die 13 Millionen Menschen, die darüber verreckt sind. Interessant ist eigentlich nur, dass Wien nicht mehr Zeit darauf verwendete, die Hintergründe des Attentats von Sarajewo auszuleuchten. 🤷‍♂️

        Ein Umstand, der wenig bekannt ist und den man in den gängigen Geschichtsbüchern selten findet, da in diesen zumeist lediglich über die formellen Mobilmachungstage informiert wird.

        Der ist ziemlich bekannt. Vielleicht nicht @ Two Moons Bekannten oder deutschen „Forschern“, aber in der internationalen Geschichtswissenschaft und interessierten Szene. Weswegen ich Ihnen beispielsweise bewusst unter anderem das Werk Lievens verlinkt habe, der genau solche Fragen behandelt. Ein Werk, das übrigens bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden ist – welch Wunder, denn es könnte ja die deutsche „Der Russe war Schuld, ist Schuld und wird immer Schuld sein und wir müssen jetzt alle aufrüsten“-Norm unterminieren…

      3. Teil II:

        Auffällig ist, wie sehr Altlandrebell nach wie vor Fritz Fischer vertritt und wie vehement er modernere angelsächsische Autoren, insbesondere Clark, ablehnt, weil sie Fischers Narrativ beschädigen.

        Ich vertrete Fischer nicht, ich habe ihn zitiert. Außerdem hat er kein „Narrativ“ (übrigens: das ist woker Sprech) etabliert, das kann man auch gar nicht alleine, außer man verfügt über eine erhebliche Macht und andere Ressourcen, die bei einem gewöhnlichen Hochschullehrer wie ihm nicht vorhanden war. Er und einige andere haben lediglich eine andere Forschungsposition eingebracht – und das nicht ohne Widerspruch, sonst wäre ja wohl keine „Fischer-Kontroverse“ und das bis heute anhaltende Bedürfnis ihn zu kasteien entstanden – genau wie die sogenannten „Neuen Historiker“ in Israel, welche die Geschichte jenes Landes und des Zionismus ab den 1980ern einer Revision unterzogen. Revisionismus im allerbesten Sinne! Fakt ist, dass die Rechte ihn von Anfang verfemte und bekämpften. Warum? Wohl schlicht, weil einiger seiner Argumente trafen und schmerzten. Wären sie einfach falsch gewesen, hätte man das ruhig wegmoderieren oder ihn ignorieren können. Da hier aber ein wunder Punkt getroffen wurde, kläfften die Teckel eben sofort.

        Davon abgesehen: Wieso sollte man ihn eigentlich auch nicht zitieren? Eine solche Anti-Zitier-Position klingt wirklich sehr woke und nach Kontaktschuldvorwurf. Erinnert an den Umgang mit Professoren wie Mearsheimer, Iohannidis und anderen, die „unbequem“ wurden. Weil Fischer NSDAP-Mitglied war, ist er wohl vollumfänglich und für immer belastet oder wie? Interessante Position, sonst haben die Rechten auch kein Problem dergestaltige Aspekte zu nivellieren. Ode soll seine Position nicht direkt aber doch letztlich irgendwie mehr oder weniger wertlos sein, weil Sie mutmaßen, dass er sich irgendwo „lieb Kind machen wollte“? Es gab eine ganze Menge anderer Wissenschaftler, Forscher, Schriftsteller und sonstiger Personen, bei denen man denselben Maßstab anlegen könnte – angefangen beim germanophilen Clark oder seinem nicht weniger von den Regierenden herumgereichten Spezi Münkler. Man könnte auch argumentieren, dass Kritiker Fischers wie Strauß ihren einmal eingeschlagenen NS-Pfad nie verlassen haben. Doch ist solcherlei Tun ob bei jenen oder bei Fischer bloß eine ungenügende ad-hominem-Vorgehensweise, die wenig zur Bewertung von Argument und Quelle beiträgt.

        Das erinnert mich alles bloß an die Leute, die behaupten eine politische Position XY könne nicht stimmen oder dürfe nicht vertreten werden, weil die AfD oder das BSW dafür sind. Denn die sind ja gefährlich und populistisch und wollen sich bloß bei bestimmten Segmenten der Gesellschaft anheischig machen.

        Ensel hat hier unkritisch Münkler ausgewälzt und ich habe diese Positionen verschiedentlich kritisch kontrastiert. Wenn Sie Fischer unterstellen, er habe sich „lieb Kind machen wollen“ (bei wem eigentlich anno 1960 – bei der Adenauer-Regierung?!), dann könnten Sie das wie gesagt 1:1 und noch viel treffender auf Münkler, Baberowski, Clark, Leonhard, Neitzel und Co. anwenden. Die werden von der Bundesregierung hofiert, gefördert, promotet, herumgereicht und deren Narrative werden gezielt normiert. Die Hintergründe habe ich unten auch zitiert, aber hier der Einfachheit halber nochmals:

        Eine deutsche besondere Verantwortung für den Ersten Weltkrieg darf es nicht geben, auch weil damit eine kritische Sicht auf die aktuelle Rolle der deutschen Regierung und der sie stützenden Konzerne und Banken in der EU- und Euro-Krise und in dem neuen gegen Russland gerichteten Aufrüsten beleuchtet werden würde.

        Es ist die offizielle deutsche Politik, die sich in dieser Debatte einschaltet und dem großen Seelentröster nicht nur moralischen Beistand gewährt. Warum wurde am 17. März 2014 in Paris die französische Übersetzung des Buchs eines Australiers über den Zweiten Weltkrieg in der Deutschen Botschaft vorgestellt? Warum fand das Event nicht in der Botschaft Australiens (…) oder Großbritanniens statt?

        Warum gab es am 29. Februar 2016 in Kopenhagen eine Veranstaltung mit Christopher Clark, die „vom Institut für Auslandsbeziehungen und von der Deutschen Botschaft in Kopenhagen unterstützt“ wurde? Wäre es nicht Sache des Verlags oder die Angelegenheit von Mr. Clark selbst, sich eine derartig peinlich-parteiische Unterstützung zu verbieten? Warum lud der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 27. Juli 2014 mit Christopher Clark, Herfried Münkler und Jörn Leonhard drei Historiker und eine Trio Infernale zu sich ins Schloss Bellevue in Berlin ein, die, wie Otto Köhler zu Recht schrieb, „als Chefärzte in der Geschichtsklinik zur Wiederherstellung der deutschen Unschuld an nahezu jedem Krieg“ wirken?

        Die Antwort auf die letzte Frage gab der damalige oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland selbst, als er zum gleichen Zeitpunkt feststellte, Deutschland sei inzwischen „solide und verlässlich“. Eine „Zurückhaltung“ wie in früheren Zeiten sei überholt. Deutschland müsse „im Kampf um die Menschenrechte“ gegebenenfalls „zu den Waffen greifen“.

        Ansonsten zitiere ich Autoren, wenn ich ihre Argumentation interessant, diskussionswürdig, oder zum Beitrag passend finde – egal, wo die mal Mitglied waren. Ich prüfe auch nicht ob dieser oder jener vorher gefördert wurde oder was er in seiner Freizeit tut. Ich wurde auch von einem staatlichen Hochbegabtenforschungswerk gefördert, habe trotzdem nichts mehr mit denen gemein. Es gibt auch jede Menge Punkte bei Fischer, die ich nicht teile. Bei den zitierten Positionen neige ich ihm freilich zu, zumindest deutlich mehr als Ensel und Münkler.

        Davon abgesehen habe ich mit Lieven, Gietinger & Wolf, Wette, Otte sowie Mombauer allesamt Autoren zitiert, deren Monographien in den letzten Jahren erschienen oder aktualisiert worden sind, zum Teil in Antwort auf Clark und Münkler oder unabhängig davon. Sind die also nicht „modern“? Wer definiert überhaupt was „modern“ ist?

        Es sollte auch bedacht werden, dass die Forschung außerhalb der sehr rückständigen deutschen Historikerzunft wenig mit McMeekin, Clark und Münkler anfangen konnte. Das zeigt sich auch darin, dass diese wiederholt en passant deren zweifelhafte Methodik und Quellenbetrachtung thematisierten. Lieven bügelt McMeekin beispielsweise in einer Fußnote weg – was ich durchaus verständlich finde, denn man muss sich mit der „Forschung“ dieses russenhassenden US-Amerikaners wirklich nicht ausschweifend beschäftigen und ihn dadurch auch noch zusätzlich aufwerten. (McMeekins letztes Buch erschien übrigens in der Verlagsgesellschaft Berg – das sollte alles sagen.)

        Übrigens ist Clark nicht der einzige angelsächsische Historiker, der die bisherige Sicht in Teilen relativiert.

        Und Lieven (in den Gazetten immer als der Doyen der britischen Forschung zur russischen Geschichte dargestellt und somit doch sicher „vom Fach“ und „namhaft“) und Mombauer sind nicht die einzigen, die diese Relativierung einordnen und kritisch hinterfragen. Ich kann ja nicht alle hier auflisten und zitieren, dann beschweren sich noch mehr Leute wegen der Länge.

        An Clark, Münkler und Co. ist darüber hinaus eigentlich auch nichts sonderlich „modern“ und die „Quellen“, die sie neu aufgetan haben wollen, sind meistens der Zunft bereits bekannt gewesen. Das sind schlicht Neu- oder Uminterpretationen. Da wird sich echauffiert Fischer „sei Stand der 1960er“ – naja Clark und Münkler sind Stand der „1920er“. Bei den grundsätzlichen und maßgeblichen Punkten kochen sie nämlich lediglich die deutschen Argumente jener Zeit auf – und verkaufen somit Druidentee. Übrigens hat man sich auch damals gerne von deutscher Seite auf britische, französische, russische oder US-amerikanische Stichwortgeber berufen, um das Narrativ vom armen, überfallenen, wilhelminischen Friedensreich zu untermauern.

        ALLE waren sie schuld an dieser Urkatastrophe des
        20. Jahrhunderts.

        Genau das ist die Norm, die gesetzt werden soll. Darauf habe ich bereits bei Ensels unsäglicher Gleichsetzung des deutschen Blankoschecks mit trivialen russisch-französischen Absprachen während des Poincaré-Besuchs verwiesen.

        Wenn alle schuldig waren sind wir zum einen im Moralisch-Rechtlichen, zum anderen super nivelliert und dann braucht man über Verantwortung nicht mehr reden und schon gar nicht über besondere Verantwortungen. Die maßgebende deutsche Hauptverantwortung wird dadurch eingeebnet, weggewischt – das tun übrigens Reaktionäre wie orthodoxe Marxisten gleichermaßen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Zielen und Hintergründen. Reaktionäre neigen dazu, die deutsche Hauptverantwortung herunterzuspielen oder abzuleugnen, weil sonst wie geschrieben ihre identitären Narrative in Gefahr gerieten. Sie müssen die Schuld bei anderen suchen oder auf alle gleichermaßen häufen, weil da letztlich ihr Selbstverständnis dranhängt. Deutschland kann nur gut sein, wenn seine Weste möglichst blütenweiß ist und lediglich von „den 12 Jahren da“ befleckt wurde, aus denen man aber so viel gelernt habe und an denen ohnehin „nur der Hitler und seine Leute“ schuld gewesen sind. Wenn dann noch mehr historische Ereignisse auftauchten, die zeigten, wo die Deutschen überall gesündigt und gemordet haben – tja, dann geriete das schöne Trugbild ins Wanken. Und für orthodoxe marxistische Analysen kann der Krieg natürlich nur primär die Folge kapitalistischer oder imperialistischer Strukturen gewesen sein, womit sie galant individuelle Entscheidungen und nationale Politiken oder individuelle Staatsausprägungen wegblenden. Alle Staaten sind kapitalistisch, alle rangeln miteinander – ist doch letztlich egal, wer angefangen hat. Beide Perspektiven verzerren die konkreten historischen Abläufe zutiefst und da mache ich nicht mit. Dementsprechend kriege ich von beiden Flak ab.

        Freilich ging es mir – im Gegensatz zu Clark und Münkler, die nie über Schuld (wie gesagt ein zutiefst moralisch-rechtlich aufgeladener und zu hinterfragender Begriff) sprechen wollen, es aber beständig tun und dann gerne am Ende immer den Tschuschen und Russen den rauchenden Colt zuschieben (natürlich bloß zufällig zwei Länder, die heute nicht zum Garten gehören und Ziel heutiger deutscher Interessen und heutiger deutscher Aggression sind) – nicht um Schuld sondern eben die Herausarbeitung von Hauptverantwortung. Das ist ein gewichtiger Unterschied.

        In meinen Augen tragen vier Herren in Berlin jene Hauptverantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkriegs: Bethmann, Zimmermann, Jagow und Stumm. Deren Entscheidungen waren maßgebend. Ohne ihre Bereitschaft, die Krise zu eskalieren, wäre es nie zu einem Krieg, geschweige denn zu einem Weltkrieg gekommen. Ihre Absicht, bereits Anfang Juli 1914 kundgetan, die Krise bewusst als geopolitische Chance für das Reich zu nutzen, anstatt sie vernünftig (beispielsweise mit einer Konferenz oder einem Schiedsgericht) zu lösen oder schlicht zu deeskalieren, ist die Krux. Ihre strategischen Fehlkalkulationen und ihr Wille loszuschlagen beziehungsweise den Moment zu nutzen, solange die (militärisch-sozio-ökonomischen) Sterne noch günstig standen, waren entscheidend.

        Dann:

        Alle beteiligten Mächte taten schlafwandelnd und stur seit Jahren fast
        nichts, um Spannungen abzubauen.

        Und das ist eben nicht zutreffend. Die Behauptung ist uralt und diesen uralten Wein setzten Clark, Münkler und Co. ab den 2000er Jahren in neue Schläuche verpackt dem geschichtsblinden Publikum vor. Unterstützt von Leidmedien und Regierungen:

        [In Clarks Werk] geht es, ohne dass es direkt ausgesprochen würde, um eine groß angelegte Entlastung der Deutschen. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ gab die Rezeptionsrichtung vor, indem es das Clark-Buch unter der Überschrift präsentierte: „Schlafwandelnd in die Schlacht: Die Deutschen trugen Schuld am Ersten Weltkrieg – aber nicht mehr als andere“. Hernach wurde das Werk in den Feuilletons fast aller großen Tages- und Wochenzeitungen positiv besprochen, mitunter sogar euphorisch gelobt. Die Wirkung sollte nicht ausbleiben: Wie eine Forsa-Umfrage im Januar 2014 ergab, teilten inzwischen 58 Prozent der Deutschen die Ansicht, dass Deutschland nicht mehr als andere Länder Schuld trage an der Auslösung des Ersten Weltkriegs. Nur noch 19 Prozent sahen eine „Hauptverantwortung“ bei der Reichsregierung. Die revisionistische Welle rollte an.

        Zum Meinungswandel mochte auch das Buch des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler beigetragen haben, der hinsichtlich der deutschen Kriegsschuld ähnliche Ansichten wie Clark vertritt. Er bestreitet demonstrativ „die deutsche Alleinschuld am Ersten Weltkrieg“, ohne zu bemerken, dass diese niemand behauptet hat, schon gar nicht (…) Fritz Fischer, der von den deutschen Konservativen stets bekämpft wurde. Diesem warf Münkler zudem die unwürdige, ja entehrende Bewertung nach, seine Methodik „würde heute in einem Proseminar mehr akzeptiert“.

        Quelle: Wette, Wolfram (2017): Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914, S. 145 f.

        „Unwürdig“ und „entehrend“ – so ist er eben der handelsübliche mehrheitsdeutsche Professor. Es fehlt vielleicht noch: von sich selbst eingenommen. Was er freilich nicht ist: überzeugend, argumentativ auf der Höhe oder ernst zu nehmen. Zumal man gerade Typen wie Münkler schon allein angesichts ihrer anderen Positionen und eben ihrer extremen staatlichen Verbandelung massiv hinterfragen sollte.

        Dass Fischers Methodik in einem heutigen Proseminar nicht mehr akzeptiert würde, stimmt allerdings – denn Fischer hat noch tatsächlich wissenschaftlich gearbeitet, heutige Seminare „arbeiten“ dagegen identitär und wenn deine Meinung von der des Dozenten abweicht, dann kriegst du eine 2,0 und das ist in Zeiten der Noteninflation bereits sehr schlecht.

        Dann: Jeder halbwegs kritische Geist sollte wissen, dass, wenn die Leidmedien etwas promoten und alle in die gleiche Richtung rennen – ob zu Russland, ob zur Pandemie, ob bei Migration oder eben einem geschichtlichen Thema wie diesem – dann etwas ganz faul im Staate Deutschmark ist. Der Umgang mit der Julikrise ist ein Beispiel für Meinungsmache par excellence, ein Fall für Albrecht Müllers „Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst“. Und hier – wie in der Pandemie oder Russland – haben „wir“ wieder regierungsamtliche „Experten“ (Clark, Münkler), die vorkauen, was gedacht werden soll. Die Leute machen das natürlich brav mit wie die Umfragen zeigen – selbstständiges Denken ist im Westen keine Tugend, geschweige denn eine Zier.

        Aber es ging ja ums „Schlafwandeln“. Weiter also mit Wette (S. 146 – 153):

        Warum aber widerfuhr Clark und Münkler diese immens positive Aufnahme? An neuen Erkenntnissen aufgrund neuer Quellenfunde konnte es nicht liegen. Denn Clark wie Münkler gestanden freimütig ein, dass sie keine wesentlichen, bislang unbekannten Archivalien gefunden und ausgewertet, sondern lediglich das längst veröffentliche Quellenmaterial neu interpretiert haben. Der geschichtspolitische Sprengstoff der beiden Bücher ergab sich vielmehr aus ihrer Botschaft. Offensichtlich hatten beide etwas ausgesprochen Deutschfreundliches anzubieten (…)

        Bei anderer Gelegenheit sagte Clark noch deutlicher, dass ihn die zentrale Frage des Ersten Weltkrieges, nämlich die Schuldfrage, eigentlich gar nicht interessiert: „Ich halte Schuld für den falschen Begriff. Denn das Verhalten, das zum Krieg führte, war 1914 allgegenwärtig. Es war Teil der europäischen Kultur. Deshalb geht es eher um Fehler und Verantwortung als um Schuld… Es haben viele Entscheidungsträger auf allen Seiten Fehler gemacht. Letztendlich haben die europäischen Eliten versagt.“ In der nivellierenden Aussage stecken Behauptungen, die nicht zutreffen. Der pauschale Hinweis auf das Versagen der „europäischen Eliten“ lenkt von der Tatsache ab, dass diese keineswegs alle gleich dachten und handelten, sonder dass sich etliche von ihnen durchaus für eine Kriegsverhütungspolitik stark machten. Ein dezidierter Wille zum Krieg, zum Angriffskrieg, war in der Julikrise 1914 bei den europäischen Großmächten keineswegs allgegenwärtig, wohl aber in der österreichischen und in der deutschen Führung. Der preußisch-deutsche Militarismus war mit seinem Übergewicht des Militärischen war etwas durchaus Spezifisches und nicht etwa nur die deutsche Version einer allgemeinen europäischen kriegerischen Kultur.

        (…)

        Clark versteht unter Schuld offensichtlich ein moralisches Urteil (…) und das missfällt ihm. Er möchte mit politisch-moralischen Kategorien nichts zu tun haben, sondern sich auf die machtpolitisch relevante Frage beschränken, „wie“ die europäischen Mächte in den Krieg zogen. Damit versucht er die entscheidende Fragen zu eliminieren: Wer hatte den Willen zum Krieg und warum? Im Fahrwasser von Christopher Clark erklärt der deutsche Historiker Sönke Neitzel (* 1968) so ganz nebenbei und ohne jede Begründung die Kriegsschuldfrage sei heute „überholt“. (…) Auch hier dominiert das Bestreben, die sittlich-moralische Komponente auszuklammern, wer für die Entfesselung (…) verantwortlich war. Stattdessen suggeriert Neitzel, die europäische Diplomatie der damaligen Zeit sei ein Bereich gewesen, auf dem jeder einmal Fehler gemacht habe. Aber wirkliche Schuld ließe sich nicht erkennen. Daher sei die Schuldfrage „überholt“ – lediglich ein Thema von gestern. Dies aber ist mitnichten der Fall.

        Als Hilfsmittel der Entschuldung dient Clarks Bild von den „Schlafwandlern“. Gemeint sind die etwa 50 bis 100 leitenden europäischen Politiker und Spitzenmilitärs, die 1914 die Hebel der Macht bedienten. Sie handelten, so Clark, nicht überlegt und schuldhaft, sondern sie taumelten in den Abgrund, ohne so recht zu wissen, was sie taten. Seine Argumentation ist alles andere als neu. Dankbar hatte man in Deutschland schon bald nach dem Weltkrieg das Diktum des liberalen britischen Politikers David Lloyd George (1863-1945) aufgegriffen, eigentlich seien die Staatsmänner in den Krieg „hineingeschlittert oder besser getaumelt oder gestlolpert“. Mit anderen Worten: Keine der kriegführenden Regierungen habe den Krieg wirklich gewollt und bewusst herbeigeführt; das internationale Krisenmanagement habe in der Julikrise 1914 versag; Schulde und Unschuldige ließen sich daher kaum ausmachen.

        Das war natürlich bereits Musik in den Ohren der Deutschnationalen der damaligen Zeit – und ist es offensichtlich bis heute geblieben. Denn (nur) die Entlastung von alter Schuld befähigt zu neuen Taten.. Münkler bringt es denn auch im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ polemisch auf den Punkt: „Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.“ Denn, so Münkler offensichtlich bedauernd: „Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren“ – eine Auffassung, die nicht entfernt ist von forschen Sprachen, wie sie von Rechtsradikalen vertreten werden.

        Das war 2017. Heute sind diese Rechtsradikalen noch viel mehr am Ruder und das Vierte Reich stabilisiert Europa gerade am ukrainischen Krisenrand mit deutschen Waffen, deutschem Geld und bald auch offiziellen deutschen Truppen. Münkler und Co. haben hierbei eindeutig mitgeholfen, diesen Weg publizistisch vorzubereiten, und die Stereotype, die sie über Serbien und Russland ausgossen – zwei Länder, die auch heute Feindstaaten und Ziel deutscher Beeinflussungsoperationen sind – haben sicher ihr Scherflein beigetragen.

        Weiter geht’s (S. 153):

        Für Politiker von 1914 – egal, für welchen Staat sie agierten – bedeutete das: Weil die Mehrheit der Menschen, gerade der sogenannten „einfachen“, durchaus friedliebend war, sah sich eine Regierung, die den Krieg wollte, veranlasst ihren politischen Willen zu verschleiern. (…) Deshalb sagte die deutsche Reichsleitung 1914 nicht die Wahrheit. Am 31. Juli 1914 verkündete Kaiser Wilhelm II. Daher die Verteidigungslüge: „Man drückt uns das Schwert in die Hand.“ In seinem „Aufruf an das deutsche Volk“ vom 6. August wiederholte er diese Behauptung: „Es muss das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf, zu den Waffen! Jedes Schwanken und jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Um Sein oder Nichtssein unseres Reiches handelt es sich. “Zur Rechtfertigung des deutschen Krieges war damit die Legende von der „Vaterlandsverteidigung“ in die Welt gesetzt. Sie sollte sich als äußerst wirksam und – da sie weit bis in unsere Tage hineinreicht – als äußerst zählebig erweisen.Aus der fehlgeleiteten und nicht überwundenen Identifikation vieler Deutscher mit den „Unschuldigen“ von 1914 speist sich nicht zuletzt der Erfolg des „Schlafwandler“-Buches.

        Summa summarum: Das waren schlicht keine Somnambulen oder sonstwie Entrückte. Es waren bei vollem Bewusstsein handelnde Akteure. Und vier deutsche Männer in Berlin waren sprichwörtlich kriegsentscheidend. Denn die wollten das. Was sie nicht wollten ist, gerade im Falle Bethmanns, war, dass Großbritannien mit dabei war, denn das senkte die Gewinnchancen drastisch. Deswegen haben sie dann schon im Spätsommer 1914 rumgeheult und vom „perfiden Albion“ gejammert, von dem sie sich verraten fühlen. Und das nur, weil sie London nicht haben draußen halten können, trotz aller Mühen, Tricks und Maskeraden. Nur die lächerliche Sozialdemokratie haben sie überzeugen können, aber deren tatsächliche Haltungen (= staatstragend, kolonialistisch, kapitalistisch, militaristisch…) pfiffen seit den frühen 1900ern ja die Spatzen von den Dächern…

        Und was das Entscheidende ist: Alle beteiligten Mächte waren im Grunde fest davon überzeugt, dass der Große Krieg unvermeidbar sei.

        Das ist überhaupt nicht entscheidend, wie unter anderem Lieven aufgezeigt hat. Denn dass ein Krieg unvermeidbar sei, war damals seit Jahrzehnten Allgemeingut. Schon Engels schrieb vier, fünf Jahrzehnte zuvor darüber und skizzierte beeindruckend genau die Folgen (industrielles Schlachten, großräumige Zerstörung, Verarmung…), auch wenn seine Prognosen, was auf den Krieg folgen sollte nur teilweise zutreffend waren.

        Entscheidend ist vielmehr, warum – obwohl bei allen vorangegangenen Krisen die Mächte genauso überzeugt waren, dass es irgendwann zum „Waffengang“ kommen würde – der nun ausgerechnet im Juli 1914 eintrat. Und da ist man dann eben bei der Frage individueller Verantwortung. Da muss man dann eben aufhören alle Staaten und ihre Verantwortlichen über einen Kamm zu scheren und wahlweise unitarisch als „Schlafwandler“ (reaktionäres Lager) einzustufen oder bloß monolithisch als „Kapitalisten“ (orthodox-marxistisches Lager) wahrzunehmen. Nochmals Wette (S. 165):

        Clark beschäftigt sich in seinem „Schlafwandler“-Buh ausführlich mit der Vorkriegsdiplomatie und fördert dabei interessante Aspekte zu Tage. Doch ist der Versuch, durch eine ausführliche Befassung mit den Konfliktfeldern der Jahre vor 1914 vom eigentlichen Kern des Problems abzulenken, nicht neu. Es gehörte bereits nach 1918 zu den Steckenpferden der Unschuldspropaganda. Einzuwenden ist vor allem, dass der Erste Weltkrieg nicht 1910 oder 1912, sondern 1914 vom Zaun gebrochen worden und deshalb danach zu fragen ist, wer was und aus welchen Gründen getan oder unterlassen hat. Abgesehen davon verträgt sich Clarks Entlastung der Deutschen nicht mit den belegbaren Tatsachen. Hinsichtlich der Kriegsschuldfrage haben somit auch die Bücher von Clark und Münkler sowie die Verlautbarungen Neitzels nichts an der Richtigkeit der Erkenntnisse von Fritz Fischer geändert.

        Schlafwandler, so viel steht fest, können wir nicht gebrauchen – weder in der aktuellen Politik noch in fehlerhaften Geschichtsbildern über den Ersten Weltkrieg. Denn die Verbreitung einer solchen Metapher, offensichtlich gewählt, um die Tatsachen zu vernebeln, ist keinesfalls harmlos, sondern potentiell gefährlich. Sie ist geeignet, die deutsche Gewaltgeschichte zu glätten und zu entsorgen. Unterschwellig arbeitet das Bild einer Politik zu, die eine gestiegene deutsche Verantwortung in der Welt auch wieder militärisch definieren möchte.

        Und genau um letzteres geht es – Glättung, Entsorgung, Reinwaschung und Mobilisierung beziehungsweise Vorbereitung für den nächsten Waffengang, gegen alte (Serbien, Russland) wie neue Feinde (Iran, China, Migranten).

        In einer solchen Situation, in der extrem viel Spannung und Gegensatz aufgebaut worden war und bestand, ist es letztlich nicht entscheidend, durch welchen Katalysator es zur Entladung der aufgestauten Energie kommt.

        Doch genau das ist entscheidend.

        Zunächst: Das ist gerade keine naturwissenschaftliche Herangehensweise. Gerade in Chemie und Physik wird auf die genauen Faktoren und Auslöser geschaut, um Prozesse präzise analysieren und nachvollziehen zu können – statt sie zu verallgemeinern und alles durcheinander zu schmeißen.

        Gleichwohl wird es aber gefährlich, wenn man versucht die komplexen polit-historischen und individual-persönlichen Entscheidungen und Faktoren der Julikrise auf eine quasi-mechanistische Formel zu reduzieren. In Physik und Chemie sind Katalysatoren gerne deterministisch – in der Geschichte hingegen gibt es solche Naturgrößen nicht, da spielen bewusste Entscheidungen, Fehlkalkulationen und individuelle Prägungen eine erhebliche Rolle. Geschichte ist alles andere als ein Prozess, der intrinsisch deterministisch angelegt ist. Geschichte ist keine Redoxreaktion. In der Geschichte besteht immer die Möglichkeit, dass es anders läuft. Und in der Julikrise gab es rund zwei Dutzend Tage an denen es anders hätte laufen können. Sie war keine unvermeidliche „Entladung“ oder gar biologisch determiniert, sondern das Ergebnis konkreter Entscheidungen. Genau jene Entscheidungen gilt es zu identifizieren, wie Wette bereits schrieb.

        Mit Ihrer Herangehensweise suggerieren Sie, Herr Wirth, stattdessen eine Art Unvermeidbarkeit, die die Handlungsspielräume der Akteure herunterspielt und die Krise entpersonalisiert. Damit helfen Sie – wie Clark und Münkler – bewusst jene Akteure zu verbergen, die aktiv zur Eskalation beitrugen.

      4. Teil III:

        Ehrlich gesagt ist mir nicht bewusst, dass Christopher Clark überhaupt(!) ernsthaft kritisiert wird.

        Das zeigt mir nur, dass der Christan Drosten in Sachen Julikrise Christopher Clark war und ist. Er ist eben der Seelentröster der Deutschen.

        Jeder, der die Debatte verfolgt hat, kann ja wohl die vielen Autoren und Bücher aufzählen, die sich ernsthaft mit Clark und Münkler auseinandersetzten – Wette, Lieven, Mombauer habe ich zum Einstieg genannt. Es ist natürlich bezeichnend, dass diese Autoren nicht in den Leidmedien vorkamen oder nur irgendwo ganz am Rande in einem Einzeiler oder am Ende eines Deutschlandfunk-Hörspiels. Obwohl alle drei Hochschullehrer, Professoren sind. Und ebenso bezeichnend ist, dass eine zentrale Schrift wie Lievens Towards the Flame oder auch T. G. Ottes „July-Crisis“-Buch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Da sind bei deutschen Verlags- und Medienhäusern die drei Affen Trumpf. Die bieten lieber dem McMeekin Raum und Geld an.

        Ich bewege mich eben nicht auf Seiten, wo das zu lesen sein könnte.

        Das zu hören ist sehr bitter. Und ein großes Problem. Denn wie will man ein Thema ganzheitlich betrachten, wenn man nicht die Gegenseite anhört?

        Klingt für mich nach den Panikdemikern, die brav alles von taz bis FAZ konsumierten und jeden schnitten, der mit Apolut, MultipolarTichys Einblick oder tagesschau.de obwohl ich deren Meinungen in der Regel überhaupt nicht teile und viele Infos Schrott sind.

        seiner(!) Meinung nach

        Das ist nicht einfach „meine Meinung“ gewesen, das war ein Auszug aus dem Werk von Gietinger & Wolf, die an konkreten Beispielen aufgezeigt haben, wie jämmerlich Clark arbeitet. Dass er die serbische Regierung – wie heutige Leidmedien unliebsame Regimes in Russland und dem Iran – als „Regime“ bezeichnet (z.B. im englischen Original – nur dieses besitze ich – „the new Karadjordjević regime“ statt „House of Karađorđević“ o. Ä. und im Weiteren natürlich Sprech wie „Assad regime“ – von einem „German regime“ las ich dagegen nichts). Dass er den problembehafteten und unpassenden Begriff „Selbstmordattentäter“ wiederholt gebraucht („It began with a squad of suicide bombers and a cavalcade of automobiles“; „suicide shooter“, „suicide assassin“) – was beim Leser Reminiszensen an 9/11 und Al-Kaida wecken soll. Und wie er Doppelstandards anlegt – Massaker und Nationalismus sind nur schlecht, wenn die Serben sie begehen.

        Das sind keine Meinungen gewesen, das war quellengestütztes Arbeiten. Sie müssen das einfach schon ganz und nicht bloß querlesen und am besten auch das Werk der Autoren durcharbeiten. Die ganzen Beispiele finden sich ja ohne Weiteres im Buch!

        Interessant auch, dass der Begriff „Sleepwalkers“ – immerhin der Titel des Machwerks! – nur im Schlusssatz auftaucht. Wenn ich schon einen so prägenden Begriff wähle, dann sollte ich den im Werk schon öfters aufgreifen – außer natürlich, ich möchte bloß Seelen trösten und die rauchende Puffen anderen in die Taschen stecken.

        und eben nicht eine sonderlich wichige Stelle.

        Und das ist bloß Ihre Wertung und Ihre Meinung. Fakt ist, dass Gietinger und Wolf herausarbeiten, dass durch dieses „unwichtige Stelle“ am Anfang Clark bereits früh den Lesern den Eindruck der wahrhaft Schuldigen vermittelt – der ungewaschenen, barbarischen Al-Kaida-Serben.

        Fakt ist auch, dass allein das Kapitel „Serbische Schreckgespenster“ die Seiten 23 bis 99 des Werkes einnimmt. Das sind 11 Prozent des deutschen Buches (Anmerkungen, Quellen und Register mal außen vor gelassen).

        Und auch das hier ist bloß Ihre Meinung:

        mir (…) bei der Lektüre darin etwas zu einseitig oder gar falsch erschienen wäre.

        Das ist Ihr persönlicher Eindruck und dieser stellt beileibe keine allumfassende Norm dar.

        Wichtig sind die Passagen über die französische und russischen Absprachen

        Um die ging es aber in Ensels Beitrag nicht. Da ging es nun mal um das „Brodeln“ auf dem Balkan und zu dem Punkt habe ich in der von Ihnen inkriminierten Passage gestützt auf die Recherchen von Gietinger & Wolf Stellung genommen.

        Wichtig sind ansonsten vielleicht die deutsch-österreichischen Absprachen. Die waren nämlich wie gezeigt Wochen vor den alliierten.

        Die Frage, wie ernst gewisse Vermittlungsangebote der Entente 1914 überhaupt gemeint waren, müsste viel gründlicher geprüft werden.

        Dann lesen Sie einfach mal Gietinger & Wolf, die das sehr ausführlich aufzeigen wie Grey sehr wohl substantielle Vorschläge gemacht hat. Oder Lieven, der wie im anderen Kommentar erwähnt, Greys frühere Warnungen zitiert. Die Versuche wurden eben von Berlin und Wien weggebügelt, weil man kein Interesse daran hatte. Lesen Sie Mombauer (S. 67 f.):

        Die diplomatischen Dokumente aus diesen Tagen beweisen eindeutig, dass vor allem in London ernsthaft versucht wurde, die Krise durch Verhandlungen zu entschärfen und eine Lösung des Konfliktes zu erreichen. Sir Edward Grey „äußerte sich perplex und beunruhig“, wusste der österreichische Botschafter zu berichten. In dessen Unterhaltung mit dem deutschen Botschafter Lichnowsky, so schrieb Österreich-Ungarns Botschafter Mensdorff am 24. Juli abends aus London, erklärte Grey, „es sei och nie in so einem Tone zu einem unabhängigen Staate gesprochen worden“. Für den Fall, dass es zu einem Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Russland kommen würde, schlug er dem deutschen Botschafter „eine Vermittlung à quatre [England, Deutschland, Frankreich, Italien] vor. Wilhelm II. Empfand diesen Vorschlag als „überflüssig“ und merkte an: „in Ehren – und vitalen Fragen konsultiert man Andere nicht“.

        Ein besorgter Lichnowsky riet aus London, den „Vorschlag Sir E. Greys betreffend Fristverlängerung nicht abzuweisen, da uns sonst Vorwurf hier treffen wird, nicht alles zur Erhaltung [des] Firedens unversucht gelassen zu haben“. Nur wenige Stunden später folgte sein Rat, auf Greys Vorschlag „der Vermittlung zu vieren“ einzugehen, denn es sei „die einzige Möglichkeit einen Weltkrieg zu vermeiden, bei dem für uns alles auf dem Spiele steht und nicht zu gewinnen ist“. Er riet „noch einmal dringend dazu, den englischen Vorschlag anzunehmen.

        In London war man sich der Schlüsselrolle bewusst, die Berlin der Krise spielte. „Der entscheidende Punkt ist, ob Deutschland absolut entschlossen ist, diesen Krieg zu führen oder nicht“, konstatierte Sir Eye Crow, der Deutschlandexperte im Foreign Office, am 24. Juli. Für grey bestand „die einzige Freidensmöglichkeit“ in einer Meditation der vier unbeteiligten Mächte. (…) Aber genau das war das Problem. In Wien und Berlin war eine Deeskalation der Krise nicht das gewünschte Resultat.

        Wenn den Deutschen der Frieden so lieb gewesen wäre, hätten sie die Briten hinsichtlich des Angebots einer Friedenskonferenz prüfen können. Hätten sie auf ihren eigenen Diplomaten vor Ort hören können. Sie taten es nicht. Clark entschuldet natürlich auch das, wie man bei Gietinger & Wolf nachlesen kann:

        Den Friedensvorschlag Greys vom 24. Juli sieht er selbstverständlich kritisch, da nur Deutschland [!] die Interessen Österreich-Ungarns hätte vertreten können. Als wären England und Italien schon Feindparteien Deutschlands gewesen. (…) Er behauptet gar, Grey – der Russland zur Mäßigung aufforderte [siehe Lieven!] – habe mit seinem Vorschlag „stillschweigend die russische Linie“ unterstützt. Das ist Clarks Dank an Greys Versuch einen europäischen Krieg „zu vier“ (…) zu verhindern.

        Gründlicher geprüft werden muss allenfalls die Finanzierung und die Netzwerkeingebundenheit von Clark.

        Die Deutschen sind in dieser Hinsicht vermutlich seit jeher weniger gerissen und weniger intrigant. Da haben uns die Briten und Franzosen etwas voraus.

        Das sind dann bloß ziemlich grausige Stereotype, Vorurteile, Ressentiments. Nein, die Deutschen waren nicht „seit jeher weniger gerissen und weniger intrigant“. So etwas müsste erst mal bewiesen werden. Die deutschen Entscheider haben den ganzen Juli 1914 über konspiriert. Und kehren wir’s doch auch ansonsten einfach um: Sender Gleiwitz, Überfall auf die UdSSR, Juden, die man aus ihren Wohnungen holte um sie zur „Arbeit“ in den Osten zu bringen, Völkerschaften, die man mit zwielichtigen Verträgen knebelte… Die Liste ist sehr lang. So lang, dass man mutmaßen könnte, die Briten, Franzosen und anderen seien in puncto Intriganz blutige Anfänger.

        Dafür waren wir eben immer die besseren Techniker und Organisatoren.

        Wer ist „wir“? Es gibt kein „wir“. Und ob deutsche Techniker und Organisatoren durch die Bank besser seien als die anderer Länder klingt bloß nach eine weiteren kruden Stereotyp. Das alles erscheint mir nicht sonderlich hilfreich.

        1. @Altlandrebell

          Es ist leider viel Hass in Ihnen und viel zu viel Selbstsicherheit dazu.
          Sie mögen sich dessen nicht einmal bewust sein.
          Selbst ein Staatsanwalt, der ja ebenso wie Sie auch nur nach Belastungsmaterial sucht, scheint mir gelassener.

          Nehmen Sie´s mir nicht übel.

          P.S.
          Ihre Texte werden zu lang, damit tun Sie sich selbst keinen Gefallen, denn die Zahl der aufmerksamen Leser nimmt ab.

          1. Werter Herr Wirth,

            das ist doch wirklich unter Ihrem Niveau.

            Wird die Debatte unbequem, ist der Mitdiskutant xy-extrem. Voller Hass. Oder sonst was. Das ist ja wirklich aus dem Repertoire der Identitären und Safe-Space-Woken.

            Das Thema ist Ihnen wohl sehr bedeutsam und konstitutiv für Ihre persönliche (National)Identität. Gut, das habe ich nun verstanden. Für mich ist es an sich unbedeutend, weil ich nicht mein Selbst aus einer solchen ziehe und auch nicht aus einer Antiposition zu ihr, wie Sie mutmaßten. Weswegen ich da wohl auch gelassener drauf blicken kann, ohne bei meinem Gegenüber über möglichen (Selbst)hass, Verrennen, oder das Treiben eines befangenen Staatsanwalts debattieren zu müssen oder sonstige Ferndiagnosen über es anzustellen.

            Ich schreibe umfänglich zu vielen Themen, das ist ja bekannt. Themen, zu welchen mir dann die jeweiligen Mitdiskutanten auch jeweils gerne alle möglichen Hassformen unterstellen dürfen – Selbsthass hier, Frauenhass unter dem Artikel von Frau Burger da , Amerikahass (auch immer gern) dort, Hass auf diese, Hass auf jene. Diese Kommentare oben, die zum Großteil übrigens aus dem Zitieren von diversen Quellen bestanden, habe ich nicht nur für Sie geschrieben. An Sie explizit gerichtet waren insbesondere die Ausführungen zur angeblichen belgischen Mobilmachung am 24. Juli, mein Hinweis, dass die Passage von Gietinger & Wolf keine bloße Meinung, sondern ein quellengestütztes Arbeiten an Clarks Text war, sowie die Hinweise zu Förderung und Adelung von Clark, Münkler und Konsorten durch die Bundesregierung. Wenn Sie diese nun nicht lesen wollen, dann lesen Sie sie eben nicht. 🤷‍♂️ Das ist aber ein öffentliches Forum, hier gibt es noch andere, die reinschauen wie ich unter meinem mehrteiligen Eingangskommentar sehen kann. Die nehmen womöglich etwas mit. Und wenn nicht – dann ist es eben so. Dass viele Leute lange, schwierige oder unbequeme Texte scheuen, ist ja ein Signum der Gegenwart.

            Ich fand es freilich schade, dass Sie hier bei diesem Thema nur bestimmte Autoren und Seiten lesen beziehungsweise nur bestimmte Sichtweisen als gültig und satisfaktionsfähig normen und andere wiederum zu bloßen Meinungen herabstufen oder en bloc abqualifizieren, denn das kenne ich so nur von Woken und anderen Identitären und ihren Hohepriestern. In meinen Augen ein falscher Weg.

            Naja. So kommen wir bei diesem Thema eben nicht zum Austausch. Abschließend sei Ihnen einfach der Marc Aurel mitgegeben:

            „Wo kein Urteil ist, da ist kein Schmerz.“

  15. Man sollte den Zufall nicht mit Willkür verwechseln.
    Außerdem gibt es genau genommen keinen Zufall, sondern lediglich einen Grad der Hyperkomplexität, ab dem „unserer Verstand“ kapitulieren muss.
    Und da dies für die Meisten als demütigend empfunden wird, nennen sie es lieber „Zufall“.

  16. In der Tat, und hier stimme ich ivg zu, brechen Kriege nicht einfach so aus, und haben die imperialistischen Staaten nicht einfach so aufgerüstet, ohne böse Absicht. Auch die Hetze der Intellektuellen und der ihre neue Macht erprobenden Medien sind nicht vom Himmel gefallen, von Alldeutschen bis Sozialdemokraten war auch da ideologisch hochgerüstet.

    Das war kein „Benzinlager“, sondern eine vorbereitete Angriffsstreitmacht, die auf ein Signal wartete. Da ist auch niemand „schlafgewandelt“, sondern es wurde auf vorbereiteten Wegen aufmarschiert, so wie heute Strassen und Brücken in Richtung Russland „ertüchtigt“ werden.

    Gewisss spielt der Zufall eine Rolle. Wäre zum Beispiel 1905-8 Fritz Haber gestorben oder schwer erkrankt, so dass seine Studien zur Ammoniaksynthese beendet oder unterbrochen gewesen wären, oder wäre etwas derartiges Carl Bosch widerfahren, dann hätte sich die grossindustrielle Ammoniaksynthese, die 1913 begann, mindestens um 2-3 Jahre verzögert. Aber die Munitionsschätzungen der OHL, gestützt auf den Krieg von 1871, waren so daneben, dass der Artillerie des Reiches ohne den Nachschub aus der BASF nach 3 Wochen die Munition ausgegangen wäre, da die Lieferungen von Chilesalpeter der alliierten Blockade unterlagen. Hätte andererseits Princip nicht geschossen oder getroffen, hätte sich der Kriegsbeginn möglicherweise um eben diese 2-3 Jahre verzögert. So könnte man endlos weiter spekulieren.

  17. Der Anschlag war nur der Funke auf den sie Alle gewartet haben.

    Der französische Deutschlandhasser Poincare – der den Verlust vom Elsass beteuerte-,

    die Engländer und ihr Machtstreben – dem die europäischen Mittelmächte im Weg standen –

    die zionistische Hochfinanz – die England schwächen und an dem Krieg ein Vermögen verdienen wollte –

    Im Endeffekt retteten die Amerikaner die Alliierten vor der Niederlage, indem sie die US Bevölkerung in einen Krieg betrogen.

    Die Zionistischen Medien verbreiteten enorme Lügenproaganda über Deutschland

    https://daily.jstor.org/the-us-propaganda-machine-of-world-war-i/

    Der Geheimdienst versenkte ein britisches Passagier-Schiff, dass sie den Deutschen in die Schuhe schoben.

    https://falseflag.info/lusitania/

    Da 120 Amerikana dabei ums Leben kamen, hatte die Politik einen Grund in den Krieg einzutreten.

    Schon damals traf diese Entscheidung die zionistische Hochfinanz gemeinsam mit der Politik.

    Einerseits wollten sie ihre Kredite von England und Frankreich wiederbekommen andererseits wollten sie ein großes Stück dünn besiedeltes Land namens Palästina erbeuten um dann ihr Raubgut als gelobte Land Israel zu pervertieren.

    Obgleich die echten alten Juden eben die Palästinenser waren, die um 1000 nach Christi zum Islam konvertierten.

    Und jene die dann kamen waren Osteuropäische Khasaren – Menschen wie man sie heute in der Ukraine, Georgien, Azabaian, Russland und der Nordtürkei findet – .

    Menschen, man früher rote Juden nannte, da sie mit dem alten Judentum fast nichts gemeinsam hatten. Häufig auch Kaballajuden genannt. (Die Kaballa, eine schamanische Erfindung aus dem 14. Jh.)

  18. Eine verhängnisvolle Rolle spielten viele Intellektuelle und die Presse, die eine
    Eskalation befeuerten. …… hohoho: die
    Intellektuellen und die Presse ! – Wie heute! Nicht lernfähig ! An die Wand mit denen ! Natürlich ganz gewaltfrei .

  19. Wer viel hat will noch mehr, Geld und Macht und Prestige. Deshalb ist Wohlstand die größte Kriegsgefahr, und jeder hat Angst, dass der Andere ihm was wegnehmen will. Jeder will der größte sein. Die Motive zum 1. WK sind so primitiv, dass sie sich einer soziologischen Analyse entziehen. Es ist eher so, wie wenn Besoffene auf einander los gehen.

  20. Ein paar Groschen… und ein paar längere Passagen, denn es erscheint mir zwingend einige der Prämissen Ensels mit denen anderer Autoren zu kontrastieren. Also: es wird länger und deswegen spalte ich das ganze in mehrere Unterkommentare auf. Allein schon, damit die Maske es annimmt.

    In der Region, die seit dem Berliner Kongress 1878 – formal noch zum Osmanischen Reich gehörend – unter österreich-ungarische Verwaltung gestellt, 1908 jedoch von Habsburg annektiert worden war, brodelte es schon lange. Die der österreichischen Herrschaft gegenüber feindselig eingestellten bosnischen Serben strebten eine Vereinigung mit ihrem ‚Mutterland‘ an, wo panslawistische Strömungen dominierten. Serbien seinerseits hatte bereits während des Berliner Kongresses Ansprüche auf die Provinzen Bosnien und Herzegowina erhoben.

    In der Region „brodelte es schon lange“ – aha. Hätte man da nicht etwas mehr Hintergründe bringen können als „Verwaltung“ und „Annexion“. Warum brodelte es denn da schon so lange? Und warum fokussiert man sich bei der Ursachenschau beziehungsweise Schuldigensuche so sehr auf eine Richtung? Denn wer wird in diesem Absatz in den Mittelpunkt gerückt? Genau – nicht der Kolonisator, sondern die von ihm kolonialisierte und unterdrückten und ihre pöse panslawische Ideologie (die pangermanischen und orientalistischen Ideologien interessiert wohl kein Sau).

    Es dreht sich also mal wieder alles um die Tschuschen. Hurra, die 90er sind wieder da! Denn diese Tschuschen seien – mysteriöserweise – „feindselig eingestellt“ gewesen und hätten eine Vereinigung mit dem in Anführungszeichen geschriebenen Mutterland angestrebt. Um Himmels willen! Irredentismus – das war ja damals ein absolutes Novum! Und dann hatte dieses pöse Mutterland aus dem Dschungel auch noch ernsthaft Ansprüche erhoben – gegen ein Mitglied des Gartens! Was die sich rausnahmen, diese Untermenschen! Äh ich meine natürlich Al-Kaida-Vorläufer, diese Achsel des Bösen, diese Terroristen! So hatte sie ja Schlafwandler Clark in seinem Seelentröster-Werk Anfang des letzten Jahrzehnts präsentiert. Eine Sichtweise, die seither stilprägend geworden ist und den Diskurs dominiert. Hierzu Gietinger & Wolf:

    Was aber Clark nicht passt, ist einzig der serbische Nationalismus, den er wie keinen anderen geißelt. Jener „visionäre Nationalismus“ – er meint das Streben nach einem Großserbien – habe im Widerspruch gestanden zu den „komplexen ethnischen Realitäten auf dem Balkan“. (…) Und im eigentlichen Serbien hätten die Serbien in ihrem langen Unabhängigkeitskampf die dortigen Muslime ausgesiedelt, deportiert und getötet (Massaker gibt’s immer nur bei den Serben, die der Bulgaren, Griechen und Türken lässt er konsequent aus). Sein Fazit: In Anbetracht dieses Missverständnisses von nationaler Vision und ethnischen Realitäten musste die „Verwirklichung serbischer Ziele gewaltsam verlaufen“.

    Man fragt sich: Ist eine Unabhängigkeitsbewegung, eine Nationalstaatsbildung jemals unblutig verlaufen? Selbst bei Gandhis gewaltloser Indien-Unabhängigkeit gab es zahlreiche Tote. Und weiter ist zu fragen, warum hält Clark gerade den Serben vor, was er anderen „Nationen“ zugesteht, zuallererst den Deutschen? (…)

    Aber nur den Serben soll hier von Clark kein Nationalismus zugestanden werden und auch keine Ausdehnung, so wie dem „gesunden nationalen“ Deutschen. Dabei kann man, wie die von Clark souverän übersehene Rosa Luxemburg es tat, Nationalismus durchaus grundsätzlich kritisieren, ja ablehnen: „So spiegelt der Nationalismus alle denkbaren Interessen, Nuancen, geschichtlichen Situationen wider. Er schillert in allen Farben. Er ist nichts und alles, er ist bloß eine ideologische Hülle.“ Denn „aus allen jenen ,jungen Nationen‘, die wie Lämmer weiß und unschuldig auf der Grasweide der Weltgeschichte hüpfen, blickt schon der Karfunkelblick des grimmigen Tigers“.

    Unlauter wird es aber, den einen die Verwandlung vom Lamm zum Tiger zuzugestehen und den anderen nicht, nur weil man einen Schuldigen sucht. Doch Clark hat noch weitere Argumente gegen die Serben. Sie seien Bauern, Verschwörer, machen alles heimlich und hintenherum und sie kämpften auch als Guerillas. Dies, so will uns Clark lehren, macht sie ganz verwerflich. [Anm. CR: So etwas würde man heute ja niemals schreiben oder gar tun – außer es geht um den Iran, China etc. oder eben wieder Serbien.]

    Freiheit wird bei ihm, die Serben betreffend, nur in Anführungszeichen gesetzt und die neue Demokratie – die nach der Ermordung König Alexanders entstand – bezeichnet Clark als „Regime“. [Anm. CR: Na, kommt das wem bekannt vor?] Das Wort Banden ist seine Lieblingsbezeichnung für die Serben und das größte Risiko sieht er in selbstständig operierenden „Cetniks“ (Freischärler). Und selbstverständlich ist die Regierung genauso schuldig, weil sie die Verbrecher unterstützt und so tut, als habe sie nichts damit zu tun, was dann dem Leser suggeriert, 1914, bei dem Attentat auf Franz Ferdinand und seine Frau, sei es ebenso gewesen. Dafür bleibt Clark allerdings den Beweis schuldig. Aber in der Leserschaft verwischen die Grenzen. Zudem lässt er so nebenbei durchblicken, die serbische Regierung sei „ein unverbesserlicher“ Schuldner (wie sieht ein verbesserlicher aus?) und habe sich, „aggressiv umworben“ von den Franzosen, durch deren Kredite in der „Verschwendungssucht“ noch bestätigen lassen. Dazu sind die Serben fremdenfeindlich (gegen ausländische Firmen), haben einen korrupten Beamtenapparat und keine „entwickelte Geschäftsethik“, die ja im Kapitalismus besonders hoch sei. Sie neigten dazu, mit ihrer Schweinezucht „herrlich bewaldete Wälder“ [sic!] zu zerstören. (…)

    Gemein ist allen Serbengegnern ein latenter bis manifester Rassismus. Der Balkan ist unzivilisiert, er beherbergt streitlustige Bauern und hinterliste Mörder, intrigierend in verrauchten Kaschemmen, die schließlich frauenhassende halbanarchistische Blumendiebe gebären, die zu Selbstmordattentaten bereit sind. Auch hier erneut ein demagogisch gebrauchter Kampfbegriff.

    Selbstmordattentäter nennt Clark die Mörder, weil sie sich nach der Tat mit (schlechtem) Zyankali umbringen wollten. Der Begriff impliziert jedoch etwas was Clark – wieder unhistorisch – aus dem Hier und Heute ausleiht: Einen Attentäter, der sich wie heutige Dschihadisten mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagt, und der keinerlei Rücksicht auf Zivilisten nimmt, im Gegenteil, der gerade Unschuldige umbringen will. (…)

    Das erste antiösterreichische Attentat geschah schon 1910. Ein Jungbosnier schoss auf den österreichischen Bosniengouverneur fünfmal und dann einmal in seinen eigenen Kopf. Auch das ist für Clark ein mit dem Kampfbegriff „Selbstmordanschlag“ belegtes Attentat. Der tote Attentäter wurde zum Helden und Märtyrer, aber nicht, weil er viele mit in den Tod gerissen hatte, sondern weil sein Attentat gegen einen „Besatzer“ gerichtet war.

    Und hier beginnt für Clark der Terror – und immer wieder muss gefragt werden, warum stört ihn nur dieser Terror. Weil er quasi als „9/11“ herhalten muss, um damit den Auslöser des Weltkriegs, das Attentat auf Franz Ferdinand, zu einer Art Hauptursache zu stempeln.

    Einzig darum beschäftigt sich Clark auch nur mit diesen Banden. Sie sollen die Schuld der Deutschen und Österreicher minimieren und die eigentlichen Hauptschuldigen aufzeigen, den serbischen Irredentismus (…) und seinen Unterstützer die Russen. Und um es möglichst groß zu machen, muss er die Unterschiede zwischen den militanten Geheimorganisationen und der Regierung möglichst klein machen. (…)

    Schließlich zieht Clark schon zu Beginn seines Buches einen unhistorischen Vergleich – an denen es bei ihm nicht mangelt – zwischen dem Massenmord von Srebrenica 1995 und dem Serbien vor 1914. So hat er schon nach 16 Seiten einen Schuldigen, nämlich den serbischen Staat gefunden, wo er doch immer wieder beteuert, die Frage der Schuld interessiere ihn gar nicht.

    Quelle: Gietinger und Wolf (2017): Der Seelentröster, Stuttgart: Schmetterling Verlag, S. 172 – 187

    Das waren nur ein paar Auszüge zu informativen Zwecken. Warum?

    Weil mir zentrale Hintergründe und Aspekte im Beitrag fehlen. Weil sie bei Clark, Münkler und Co. bewusst fehlen, fehlen sollen. Der Umtrieb des Gartenmitglieds, das Tun der österreichischen Herrschaft, wird bewusst weggeblendet. Etwa, dass die ganzen pösen serbischen Geheimorganisationen erst nach der habsburgischen Annexion Bosniens und Herzegowinas 1908 entstanden. Dass diese Gebiete zuvor bereits dreißig Jahre lang von Wien „verwaltet“ wurden. Kolonial verwaltet, um genau zu sein. Hier liegt die Ursache des „Brodels“ und das sollte man klar benennen oder zumindest in einem Verweis oder einer Fußnote anbringen. Denn zu dem Thema gibt es inzwischen massenhaft Forschungsbeiträge. Zum Beispiel diesen letztlich noch recht brav gebliebenen von Ruthner (2018), der am Ende des Aufsatzes zwar seine eigene Argumentation halb einreißt, indem er den Austro-Kolonialismus ausgerechnet mit dem Extrem Belgisch-Kongo vergleicht und meint: „In comparison, Austria-Hungary’s intervention in Bosnia-Herzegovina was fairly soft(-spoken?) and perhaps – in parts – even well-intended.“ (Ja. Toll. Das half den Opfern jetzt wirklich viel.) Aber zugleich eben nicht drum rum kommt festzuhalten:

    Still, the arguments listed in the sketch above show that the k.u.k. intermezzo from 1878 to 1918 can be considered as a kind of Austrian quasi-colonialism (Detrez 2002; cf. Okey 2007: 220) – a subsitute for the “Scramble for Africa” (and Asia) the Habsburg monarchy had been been too late for (cf. Sauer 2002). The only reason why others hesitate to call Bosnia-Herzegovina a colony is that it is not separated from its ‘motherland’ by a large body of saltwater, but lies at the peripheries of Europe.

    Zugleich ein ziemlich schwacher Punkt, denn die deutsche Ostkolonisation war auch nicht durch einen Ozean vom „Mutterland“ getrennt, zumindest solange man sich die Rote Armee nicht wieder als „rote Flut“ vorstellen will…

    Doch für ganz Neugierige, hier der Artikel und im Folgenden ein paar der Argumente Ruthners:

    Indirect rule (cf. Fieldhouse 1981: 29-40). Similar to British reign in India (Gammerl 2010: 73-216), the Austro-Hungarian occupiers established their rule over a majority of the native population through the participation and gradual ‘reformation’ of existing elites in Bosnia-Herzegovina, particularly the Muslim landowners. (…)

    An ever-growing, patronizing civil administration was put in place shortly after the occupation, which rested to a large extent in the hands of foreigners, even in its lower ranks. It discriminated against local applicants, particularly Bosnian Muslims and Serbs. On the other hand, those eager administrators would try to micro-manage almost every aspect of civic life (cf. Donia 2007: 4).

    a) In the two decades during which Joint Finance Minister Kalláy headed the occupied territories, he tried to create a unifying Bosnian identity (Bošnjastvo) top-down in order to combat the particularist movements of the three major population groups, the Muslims, Orthodox and Catholics – a modern tool of government also known from colonial contexts outside of Europe. This paternalistic policy, however, paradoxically worked into the hands of the nationalists and further deepened and ethnicized the religious divisions between the three groups (cf. Donia 1981: 12ff.; Kraljačić 1987; Pinson 1994: 113; Vrankić 1998; Sethre 2004; Ress 2006; Imamović 2006: 213-31; Babuna 2015; Ruthner et al. 2015, 2018).

    b) The othering of the Other. Austria-Hungary’s “civilizing mission” was used as a
    discursive tool to justify structures of governance that were less democratic than in the
    motherland, and the status of Bosnians and Herzegovinans as second-rate k.u.k. citizens. In order to legitimize this inequality, Bosnians were (re)presented and formatted as the Other through popular Orientalist discourses (Heiss and Feichtinger 2013) in the hegemonic culture, and even becoming a commodity as such, instead of being seen simply as an extension to the already existing South Slavic populace of the Empire (cf. Stachel 2003; Sirbubalo 2012; Ruthner 2018: chpt. C). Thus, othering also became an important pretext for the necessary ‘education’ of the Other, a project which not
    surprisingly “failed”.

    (…)

    Military exploitation. Similar to the Gurkha units within the British army, the k.u.k. military very soon (in 1881) started drafting the male population of Bosnia-Herzegovina into special infantry regiments which were never fully incorporated into the Austro- Hungarian army, but run by its officers (cf. Neumayer and Schmidl 2008). These Bosniaken were designed as elite units of sorts that terrified their enemies with their cruelty and combat efficiency, particularly on the Italian front during the First World War. Thus, the alien Other from the periphery, whose barbarism was to be tamed by the
    mission civilatrice, was also put on hold as a ‘natural’ military resource, as it were, to be unleashed whenever the imperial centre wanted it.

    Settlers. Similar to other colonies, the provincial government and other organisations encouraged farmers from other regions of the Empire and abroad (e.g. from Germany) to
    move in and create role-model villages.
    This initiative was fiercly opposed by local
    activists and the newly established Diet in Sarajevo (cf. Bethke 2018; Ruthner 2018:
    276).

    Diese verrückten Tschuschen! Also warum die da ihre Hottentotten-Anschläge abzogen, gegen fremde Siedler brodelten und gegen die gute österreichisch-ungarische „Verwaltung“ (Ensel) waren – keine Ahnung. „Wir“ waren doch immer so gut zu ihnen!!1!

    Ja, solche kolonialistischen und imperialistischen Grundierungen des Konflikts kommen im Artikel – wie in vielen anderen Artikeln – einfach nicht vor. Und dieses Vorgehen, insbesondere der Fokus auf brodelnden Tschuschen mit ihren Vereinigungsabsichten erinnert freilich an etwas – nämlich das heutige leidmediale Geschwätz über die „prorussischen Separatisten“ im Donbass. Auch dort haben „wir“ einer Herrschaft gegenüber mysteriöserweise feindselig eingestellte Leute: die Vatniks, die Steppenneger. Diese Teufel, diese Terroristen (das Post-Maidan-Regime begann konsequenterweise am 13.04.2014 eine „antiterroristische Operation“ im Donbass), die eine Vereinigung mit dem von ihnen als Mutterland wahrgenommenen Staat anstrebten. Und auch jenes „Mutterland“, das Reich des pösen Iwan Putin, stellt ja Ansprüche – uiuiui, das geht gar nicht! Ansprüche stellen, dürfen gemäß der „internationalen Ordnung der Weltgemeinschaft“ nur die zivilisierten Staaten, nur die Gartenbewohner. Die sind nämlich die „Weltgemeinschaft“. Der Rest besteht ja nur aus Dschungel-Tschuschen und anderen Wilden, die sich Ansprüche „rausnehmen“.

    Ist Herr Ensel eigentlich Anarchist? Nun, dann könnte ich es noch nachvollziehen, wenn er sich darüber mokiert, dass Leute sich hinter einem Staat scharen, um zur (vermeintlichen) Befreiung zu kommen. Oder dass er staatliche Ansprüche hinterfragt. Leider wirkt der Artikel nicht sonderlich anarchistisch und auch nicht allgemein Nationalismus-kritisch wie die zitierte Rosa Luxemburg. Das Ausblenden der kolonialistisch-imperialistischen Unterdrückung im Balkan-Raum durch die habsburgische Großmacht wirkt vielmehr ablenkend und ursachenverdeckend. Wenn man solche Faktoren rausnimmt, stellt man entweder unkritisch alle auf eine Ebene und landet dann beim angeblichen „Schlafwandeln“ aller in den Krieg – womit man Interessen und konkretes Tun völlig aus den Augen verliert. Dann sind alle gleich und auch alle gleich „schuld“. Oder man kann wie Münkler, Clark und Co. gleich noch weiter gehen und die bosnischen Serben schön moralisch schelten, dass sie Bombenleger, Selbstmordattentäter und sonstige Terroristen waren – so wie man heute die Palästinenser schelten kann, wenn sie sich gegen die Besatzung und Landnahme in ihrem Heimatland wehren. Oder wie man die Donbasser schelten konnte, als sie sich gegen den ethnischen Kolonialismus und die Unterdrückung durch die Galizier zur Wehr setzten, die spätestens im Gefolge des Zweiten Maidans ab 2013 über ihre Region hinwegfegten (im Grunde schon seit den 1990ern, man werfe einen Blick in die Schulbücher…). Dann landet man beim groß- wie kleindeutschen Mimimi und der bangen Frage: Wie können diese Leute es nur wagen sich mit Puffen und Bomben gegen unsere schöne Donauwalzer-Herrschaft zu wehren? Diese Barbaren!

    Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

    Zwangsläufig war allerdings nichts. Immer wieder hatte der Zufall seine gespenstische Hand im Spiel.

    Ja, sind „wir“ jetzt bei Adam Smith mit seiner unsichtbaren Hand des Marktes oder in einem phantastischen Roman von Leo Perutz, wo der Autor plötzlich mit einer bizarren Wendung aufwartet? Nein, sind „wir“ nicht. Man kann nicht von Zufälligkeiten bei einem bestimmten Ereignis (hier: ein Attentat) auf die gesamte nachfolgende Geschichtshandlung (hier: ein vierjähriger Weltkrieg) extrapolieren und durch die Blume insinuieren, dass da ein Unheil irgendwie seinen Lauf nähme. Der Krieg ist auch nicht plötzlich irgendwo ausgebrochen, aus einem Zoo oder der Büchse der Pandora. Der wurde gemacht. Und noch weniger hilft es halbeinschränkend beizufügen: „Zwangsläufig war allerdings nichts“. Entweder es war zwangsläufig (Büchse geöffnet, Unheil nimmt seinen Lauf) oder nicht. Beides zusammen geht nicht.

    Die Nachlässigkeit der Verantwortlichen hatte es ihnen leichtgemacht

    Österreich wie es leibt und lebt. 🤷‍♂️

    ENDE VON TEIL I

    1. TEIL II:

      Was nun geschah, schildert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler

      Ich dachte zu Themen sollen sich immer nur „Experten“ äußern? Das ist mir von Klimaklatschern und Lauterbach-Ultras immer so erklärt worden. Warum darf dann eigentlich ein rechter Politologe einen „Wälzer“ über ein geschichtswissenschaftliches Thema hinkleistern und sich vor jedes Mikro flätzen, das man ihm hinhält? Frage für einen Freund.

      Antwort: Na, weil man’s braucht! Um die Debatte zu normieren und das „moderne Deutschland“ reinzuwaschen. Darum durfte der das schreiben. Ja, man hätte einen finden und bezahlen müssen, wenn es nicht so viele freiwillige Federn gegeben hätte, die hier in die geschichtswissenschaftlichen Mottenkisten stiegen, um ein bestimmtes Narrativ zu verbreiten. Denn narrare, erzählen, das taten sie hier. Nämlich ihre Version von der Geschichte, ihre Norm der Geschichte, die setzten sie, unterstützt von Leidmedien, Staat und Bundesregierung. In Gazetten wie Sendungen sekundierten die Leonhards, Münklers, Neitzels, Baberowskis und wie sie alle hießen dem Clark und all den anderen, die die neue alte teutsche Version, warum das Schlachten 1914 begann, zu verbreiten suchten. Und weil der Staat und seine Regierung ja so unparteiisch und die Wissenschaften, gerade die Geschichtswissenschaft, so neutral sind, hat man sie bis Unterkante Oberweser auch gefördert. Zitat Wolf:

      Eine deutsche besondere Verantwortung für den Ersten Weltkrieg darf es nicht geben, auch weil damit eine kritische Sicht auf die aktuelle Rolle der deutschen Regierung und der sie stützenden Konzerne und Banken in der EU- und Euro-Krise und in dem neuen gegen Russland gerichteten Aufrüsten beleuchtet werden würde.

      Es ist die offizielle deutsche Politik, die sich in dieser Debatte einschaltet und dem großen Seelentröster nicht nur moralischen Beistand gewährt. Warum wurde am 17. März 2014 in Paris die französische Übersetzung des Buchs eines Australiers über den Zweiten Weltkrieg in der Deutschen Botschaft vorgestellt? Warum fand das Event nicht in der Botschaft Australiens (…) oder Großbritanniens statt?

      Warum gab es am 29. Februar 2016 in Kopenhagen eine Veranstaltung mit Christopher Clark, die „vom Institut für Auslandsbeziehungen und von der Deutschen Botschaft in Kopenhagen unterstützt“ wurde? Wäre es nicht Sache des Verlags oder die Angelegenheit von Mr. Clark selbst, sich eine derartig peinlich-parteiische Unterstützung zu verbieten? Warum lud der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 27. Juli 2014 mit Christopher Clark, Herfried Münkler und Jörn Leonhard drei Historiker und eine Trio Infernale zu sich ins Schloss Bellevue in Berlin ein, die, wie Otto Köhler zu Recht schrieb, „als Chefärzte in der Geschichtsklinik zur Wiederherstellung der deutschen Unschuld an nahezu jedem Krieg“ wirken?

      Die Antwort auf die letzte Frage gab der damalige oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland selbst, als er zum gleichen Zeitpunkt feststellte, Deutschland sei inzwischen „solide und verlässlich“. Eine „Zurückhaltung“ wie in früheren Zeiten sei überholt. Deutschland müsse „im Kampf um die Menschenrechte“ gegebenenfalls „zu den Waffen greifen“.

      Oder im Kampf gegen den finsteren Iwan, die verrückten Mullahs und den lauernden Kinäs. Doch darüber will auch keiner reden. Warum auch? Dafür gibt es hierzulande noch immer jede Menge Leute, die immer noch nicht verstehen, warum „die Wissenschaft“ in der „Pandemiezeit“ nur regierungsamtliches Wissen schaffte…

      schreibt Münkler für einen kurzen Moment kontrafaktische Geschichtsschreibung betreibend

      Kurzen Moment? Wenn ich Münkler, Clark und Co. schwätzen höre, habe ich den Eindruck, dass bei denen so ziemlich alles „kontrafaktisch“ ist. Egal zu welchem Thema.

      ebenso wenig die Opfer des russischen Bürgerkriegs als indirekte Kriegsfolge oder die Opfer des Stalinismus, weiterhin nicht die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus und auch keinen Zweiten Weltkrieg

      Münkler-Deutsch, Deutsch-Münkler: Hätte der böse Tschusch nicht den Franz Ferdinand erschlagen, wär’s Dolferl Postkartenmaler geblieben und all die Missetaten des roten Hitlers Stalin wären uns erspart geblieben. Und in Deutschland hätten wir wahrscheinlich immer noch unseren feinen Kaiser und Ostpreußen gehörte nicht dem Russen.

      Oder so.

      Solcher Sprech verengt die historische Entwicklung nicht nur auf eine Art „Kettenreaktion“ – als ob der Erste Weltkrieg der einzige determinierende Faktor für all diese späteren Katastrophen gewesen wäre – nein, das ist mehr als Vereinfachung, das ist quasi geschichtsklitternd. Vorgestellt und verkauft in Gestalt eines kleinen „Gedankenausflugs“, einer „Alternativweltgeschichte“. Man weiß eben welcher Stilmittel und Instrumente man sich bedienen muss.

      Nur ist das, was da betrieben wird, keine Alternativweltgeschichte, sondern da wird ganz bewusst durch die Brust ins Auge etwas eingetröpfelt – und beispielsweise verkauft, promotet, dass die Verbrechen des Stalinismus eine Folge des Ersten Weltkriegs – der ja den Deutschen, wie jeder gute Rechte weiß, von den anderen aufgezwungen worden ist – gewesen sei. Kurzum: Ohne (aufgezwungenen) Krieg kein roter Hitler!

      Doch wie kam es denn zum Beispiel zum Russischen Bürgerkrieg und seinen Opfern? Haben da vielleicht gewisse (europäische) Großmächte ihre Hand im Spiel gehabt? Ist da nicht irgendwer bei Archangelsk gelandet und andere in Odessa? Waren die russischen Revolutionen eigentlich bloß ein Automatismus des „Großen Krieges“ oder haben da diverse politische und wirtschaftliche Fragen und Krisen eine Rolle gespielt? Könnten die Vorkriegszustände in Europa doch nicht ganz so paradiesisch gewesen sein wie Zweig insinuierte (siehe unten)? Waren die Handlungen Lenins und Stalins und die Opfer des Stalinismus wiederum Zwangsläufigkeiten oder hat die imperialistisch-koloniale Bedrohung des postrevolutionären Russlands vielleicht eine klitzekleine Rolle gespielt? Fragen über Fragen, keinen interessiert’s.

      Stalinismus wie Faschismus und andere Großphänomene des 20. Jahrhunderts einfach als Produkte des Ersten Weltkriegs hinzustellen, verwässert das Verständnis für deren Ursachen. Das „Hät‘ der Tschusch nicht geschossen“-Geschwafel dient einzig der politischen Instrumentalisierung der Geschichte in der Gegenwart, indem die Verantwortung für die Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts auf die „Urkatastrophe“, den einzigen Auslöser, konzentriert wird. Damit kann man dann natürlich bequem andere (z.B. sozioökonomische und materielle) Ursachen versenken. Damit kann man historische Akteure bequem zu bloßen Marionetten eines vorgefügten Ablaufs der Geschichte hinabsenken – sie werden wohl obendrein noch von einer „gespenstischen Hand“ gelenkt. Und damit kann man dann eben Deutschland reinwaschen, wenn man auf den folgenden hunderten Seiten herbeimünklert, dass Deutschland jene Katastrophe nicht ausgelöst habe oder wie Clark den rauchenden Colt dem pösen Tschuschen, diesem Terroristenvolk, in die Hand drückt…

      Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt

      Gott, der Zweig hat in seinen Schriften auch immer wieder Durchhänger. Und wenn er schon keine Differenzierung zwischen positivem und negativem Frieden vermag – warum reicht dann Herr Ensel sie nicht wenigstens nach?

      Wer hat denn vor 1914 in Europa „vierzig Jahre Frieden“ erlebt? Mal abgesehen von der saturierten Schicht, in der sich der nicht gerade unprivilegierte Zweig bewegt hat? Für ihn als Österreicher zählte der Balkan schon mal offenkundig nicht zum Garten Eden Europa denn da hat in der Zeit mehrfach die Hütte gebrannt. Der Russisch-Türkische Krieg von 1877 f. forderte allein 30 000 osmanische und 15 000 bis 30 000 russische Soldatenleben. Von den zivilen Opfern ganz zu schweigen. Die sogenannten Balkankriege 1912 / 1913 forderten bis zu 1,5 Millionen osmanisch-muslimische Opfer, vertrieben hunderttausende weitere, kosteten mehreren hunderttausend Albanern das Leben usw. usf. Aber da die alle ja nur Dschungelbewohner waren, fällt das nicht weiter ins Gewicht. Wenn der Deutsche heute etwas mit „1912“ verknüpft, dann bestenfalls den Untergang der Titanic. Und weil die hingeschlachteten Soldaten Männer, ergo ohnehin immer und überall privilegiert waren, interessiert sich für die auch keiner. Männer sind ja nur dann für die Gesellschaft interessant, damals wie heute, wenn sie – Zitat von der großen Neuzeitphilosophin Jette N. – „beweisen, dass sie einen Mehrwert für Gesellschaft und Beziehungen beitragen“ (danke @ Arne Hoffmann, der dieses widerlich sozialdarwinistische Zitat verlinkt hat). Gefallene Soldaten und geflohene Lumpen haben eben keinen Mehrwert, das sind Loser und Feiglinge. Und gleich zwei Mal interessieren sie nicht, wenn es Loser und geflohene Männer von außerhalb des Gartens sind. Aber selbst, wenn man solchen negativen Frieden mal beiseiteließe – wie stand es um den positiven Frieden? Um die Abwesenheit sozialer, struktureller und anderer Gewaltformen? Warum wanderten denn so viele Leute gerade aus den galizischen und anderen Teilen der Habsburgermonarchie aus? Wie war es eigentlich im Home-gerulten Irland? Warum gärte es nochmals im Kolonialprojekt „Bosnien“? Wenn doch alles in Butter war und es „überall vorwärts“ ging? Da hätte man doch anstelle Zweigs was von Roth aufschlagen sollen, wenn schon man im k.u.k.-Literaturkosmos unterwegs ist…

      Wenn Zweig schwelgt „wann immer man wiederkam, war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte“ – muss man ihm doch entgegenhalten: Für wen, Gott verdammt noch mal, für wen?! Was hatte denn der Malocher von den öffentlichen Bauten? Ging er in die geschmackvollen Geschäfte und mit Luxustaschen bepackt nach Hause? Ja, die Mittel- und Oberschicht, die genoss das Schlendern über die Boulevards und das Reisen auf den Transatlantikern wie der Titanic oder dem Imperator. Die Dritte Klasse blieb unter Deck oder schuftete im Maschinenraum. Für den Reformisten und Demokraten ist damit dem Fortschritt freilich genüge getan – die Subalternen, die unter Deck gepferchten und schuftenden, die haben ja „Anteil wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens“. Und mehr ist eben nicht drin! „Was sagt der Prediger? Contenti estote, Begnügt euch mit eurem Kommißbrote.“ (Schiller, Wallensteins Lager).

      Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft; niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ‚gute alte Zeit‘.“

      Dieser Satz wurde Ihnen präsentiert von Zensursula – nur echt mit noch mehr Chat-Kontrolle!

      Also zumindest könnte er glatt aus einem Werbeprospekt von Flintenuschi über die geliebte Deutsch-EU von heute stammen. Ihr habt Reisefreiheit! Und Pokémon Go, äh endlich Strom! Und Berlin ist Weltstadt, nicht mehr Frontstadt! Ihr habt 72 Geschlechter und 1 Berghain – was wollt ihr denn noch?!

      Zweigs Romantisierung wie Flintenuschis Feldpostkarten von heute übersehen geflissentlich Ungleichheit und Ausbeutung, die sogenannten wie ominösen „sozialen Spannungen“ (die für die geneigten Damen und Herren immer bloß irgendwo im Hintergrund, außerhalb des medialen Scheinwerferkegels, schwelen, zumal sie ja persönlich nicht betroffen sind). Sie übersehen die enorme Reichtumsvermehrung – bei einem gewissen Teil der Gesellschaft. Sie übersehen die Klassenfrage und Klassenordnung. Ihre Darstellung von Wohlstand und sozialer Mobilität („das Proletariat empor“) ist mehr als stark vereinfacht und blendet geschickt die weg, die damals wie heute im Dunkeln saßen. Der sogenannte „Fortschritt“ war und ist nämlich nicht überall gleich verteilt, geschweige denn für alle existent. Für sehr viele Menschen war und ist das Leben damals wie heute von Armut, widerlichste Schufterei und täglichem Kampf ums Überleben geprägt – ja, auch und gerade im heutigen Garten Eden „Europa“. Und wenn damals alles so supi dupi war, warum musste dann zum Beispiel die Arbeiterbewegung über Jahrzehnte verfolgt, unterwandert, gekauft, sonst wie eingehegt und versucht werden ihre Anhängerschaft mit „Sozialreformen“ einzufangen? Wenn Europa nie geeinter und stärker war, warum mussten die Polen damals zwangsgermanisiert und warum müssen die Ungarn von heute zwangs-EU-germanisiert werden? Alles Aspekte, die bei Zweig unter den Tisch fallen und auch heute keine Sau jucken.

      Und in seiner Freude über neue Techniken und Möglichkeiten, in seiner nachträglichen Verklärung der Belle Époque, hat er natürlich auch kein Wort über Phänomene wie „Kommerzialisierung“ oder „Entfremdung“ übrig. Die wurden damals bereits beobachtet. Zweig übergeht nicht nur einfach, dass die sogenannte Mobilität bloß eine persönliche Befreiung auf einer ganz bestimmten, beschränkten Ebene war, sondern auch wie die „Errungenschaften“ von damals zu einer zunehmenden Entmenschlichung und Standardisierung des Lebens führten. Da war ja selbst Nietzsche Jahrzehnte zuvor weiter.

      Die gesamten gesellschaftlichen „Cleavages“, angefangen bei der entscheidenden: der Klassenfrage, aber auch Fragen der Religion, des Nationalismus, von Kolonialismus und den Urkeimen des Faschismus – sie kommen in Zweigs Passage nicht vor. Und Ensel übernimmt sie einfach. (Man kann bei Zweig immerhin noch einschränkend sagen, dass er das Buch kurz vor seinem Freitod unter den Bedingungen seines Exilantendaseins schrieb – bei Ensel freilich weiß man nicht, warum er „Die Welt von Gestern“ nicht wenigstens einordnete oder etwas kontrastierte. Als Hinweis und Einschränkung muss genügen, dass Zweig hier „seine „Welt von Gestern““ schilderte. Ja – warum dann nicht noch die von anderen nennen?)

      Und natürlich können – damals wie heute – diejenigen, die Wunden ins Salz streuen, nur Miespeter, Querdenker, Ewiggestrige und eben „verhutzelte Greise“ sein…

      Und auch hier, man kann es nicht oft genug betonen, gab es keinen Determinismus. Anders formuliert: Es gab keinen zwangsläufigen Weg in die „Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts“!

      Es gab eben keine „Urkatastrophe“ (siehe oben). Außer man stellt sich Geschichte als Uhrwerk und handelnde Menschen als Puppen an den Fäden irgendwelcher unsichtbarer Hände vor.

      Und ja – es gab in der Tat auch keinen sonstigen Determinismus. Niemand hat das Deutsche Reich beispielsweise gezwungen Lügen über „französische Bomberangriffe auf Nürnberg und Karlsruhe“ zu erfinden, um hiernach seinen westlichen Nachbarn überfallen. Oder in Belgien und Luxemburg, zwei völlig unbeteiligten Staaten, einzumarschieren.

      Die Herren Entscheider hatten aber ihre Gründe:

      War es dann ein „Verteidigungskrieg“? Aber wer bedrohte oder griff denn Deutschland im Sommer 1914 an? Die Verantwortlichen des deutschen Auswärtigen Amtes bestätigten ja selbst, daß damals weder Frankreich noch England noch Rußland einen solchen Krieg wollten.

      Auf jeden Fall war es für die deutsche Regierung unter Bethmann Hollweg klar, daß Frankreich (wodurch auch immer) als eine Großmacht für eine voraussehbare Zukunft ausgeschaltet werden müsse und noch als Verbündeter, wenn nicht als ein Vasallenstaat Deutschlands fortbestehen dürfe. Die Gründe dafür waren Frankreichs Bündnis mit Rußland und seine andauernden Konflikte mit Deutschland in der Türkei und auf dem Balkan, dies vor allem mit Hilfe seine „arme financière“ führte. Französisches, aber auch belgisches Territorium sollte möglichst nicht annektiert werden, mit Ausnahme des Erzbeckens von Longwy-Briey, das die deutsche Industrie forderte, und einiger militärisch bedeutsamer Punkte wie Belfort und der Westhänge der Vogesen, ferner der belgischen Festung Lüttich (August 1914!) , des belgischen Hafens Antwerpen und, wenn die Marine es forderte, der französischen Häfen Dünkirchen, Calais, Boulogne, die an den Vasallenstaat Belgien gegeben werden sollten. (…)

      Was Rußland betrifft, so hatte der Reichskanzler bereits zwei Tage nach seiner Rede im Reichstag vom 4. August ein klares Ziel für den Krieg an der Ostfront formuliert, das nach der Niederwerfung Frankreichs zu realisieren war. Er beschreib sein Ziel als „die Befreiung und Sicherung der von Rußland unterworfenen Völker“, als „die Zurückdrängung der russischen Grenze auf Moskau“ und als die Errichtung einer Kette von Pufferstaaten zwischen Deutschland bzw. Österreich-Ungarn und Rußland. Ausdrücklich nannte er Finnland, Polen, die Ukriane, Georgien. (…)

      Von Großbritannien wurde erwartet, daß es diese Veränderungen auf dem Kontinent hinnehmen und überdies den Erwerb von portugiesischen, belgischen und französischen Kolonien erlauben würde.

      (…)

      Während der Balkankriege und in den Jahren 1913/14 hat er [Bethmann Hollweg] immer einen entschieden antirussischen Kurs eingehalten, entschiedener als der Kaiser, den er erst zu diesem Kurs bekehren mußte. Er verband sich dabei mit Moltke; bei der neune großen Heeresvermehrung 1913/14 wurde neben dem „Erbfeind“ Frankreich jetzt mit großem Propagandaaufwand der neue Feind, das bedrohlich wachsende Rußland herausgestellt. Der Slogan vom ,Entscheidungs-‘ oder gar ,Endkampf‘ der Germanen gegen die Slawen (gemeint waren die Russen, nicht etwa die Polen oder Tschechen) wurde weit verbreitet und vom Kaiser, den Militärs und vom Reichskanzler benutzt. Merkwürdigerweise wurde Rußland auch als eine künftige Wirtschaftsmacht gefürchtet, weil es ihm durch die Reformen Stolypins (seit 1906) gelungen war, den Getreideanbau und den Getreideexport außerordentlich zu steigern. 20 Jahre nach Bismarcks Entlassung wurden jetzt die Russen der Feind Nr.1 – neben der Weltmacht England, die man aber aus dem bevorstehenden Krieg mit Rußland und Frankreich herauszuhalten hoffte. (…)

      Quelle: Fischer, Fritz (1990): Hitler war kein Betriebsunfall, S. 56 f. und 231 f. (für den letzten zitierten Absatz)

      Mimimi und „Autor passt mir nicht“ zählen übrigens nicht als Gegenargumente.

      Ansonsten – ein sehr modernes und kluges Programm, dass der Herr NATO-Generalsekretär äh Reichskanzler da formuliert hat, nicht wahr? Hätten wir den Russen doch bloß damals besiegt gehabt…

      ENDE VON TEIL II

    2. TEIL III:

      Gewiss: Das Zarenreich hatte seine Aspirationen auf den Balkan als Einflusszone und Tor zum Bosporus und den Dardanellen nicht aufgegeben und in den Jahren zuvor mit französischer Unterstützung ein modernes Eisenbahnnetz errichtet, das es nun in die Lage versetzte, Truppenverlegungen gen Westen doppelt so schnell zu organisieren.

      Was erlaube Strunz äh Zar? Baut der sich mit welscher Unterstützung (!) ein modernes Eisenbahnnetz! Geht’s noch?! Das dürfen Dschungelbewohner nicht! Und schon gar nicht an unserer Ostgrenze!!1! Oder wenn, dann nur mit Hilfe deutscher Banken und deutscher Firmen – Stichwort Bagdadbahn!

      Gewiss: Im in der Mitte des Kontinents gelegenen Deutschen Reich kursierten Ängste vor einer politischen Einkreisung durch Frankreich und Russland.

      Dieser ganze Gewiss-Absatz könnte aus jedem westdeutschen Schulgeschichtsbuch stammen. Und genau das ist das Problem. Da fehlt jegliche tiefere Ursachensuche, jedes Identifizieren von Mechanismen, jegliche Erörterung von materiellen wie immateriellen Kausalfaktoren. Jeder Verweis auf Imperialismus, Kolonialismus, Kapitalismus, Etatismus. Auf spezifisch deutschen Militarismus und Expansionismus. Ein Auseinandernehmen der vorgeblichen deutschen Sachzwänge oder der erst eingeredeten wie durch eigenes Tun dann selbst herbeigeführten „Einkreisung“.

      Das tun in Westdeutschland nur pöse Autoren wie Fischer, Geiß, Mombauer, die gelten dann als „selbsthassend“, „korrupt“ und „antideutsch“. (Die Ossi-Autoren sind sowieso – Ossis. Und somit einfach zu ignorieren, da pöse Marxisten.)

      Niemand aber war wirklich gezwungen, die Lunte anzulegen oder diese gar entzünden! Immer wieder waren in den Jahren zuvor auch brandgefährliche Krisen durch kluge Diplomatie eben dieser Akteure noch im letzten Augenblick beigelegt worden.

      Kluge Diplomatie? Kalte Füße passt besser.

      Kalte Füße, weil in den Vorjahren die Ausgangsbedingungen noch nicht stimmten.

      Der Krieg wurde in dem Moment wahrscheinlich, als eine oder mehrere der involvierten Seiten, glaubte, dass das Momentum günstig oder zumindest deutlich besser war als in einer projizierten Zukunft zu erwarten stand:

      Die deutsche Doktrin betrachtete es als das Recht oder sogar als die Pflicht eines Staatsmannes, die eventuelle Formierung einer überlegenen feindlichen Koalition, die in zwei bis drei Jahren drohte, durch präventives militärisches Handeln zu verhindern, um die „Handlungsfreiheit“ des eigenen Staates im voraus zu sichern, und dies ohne Rücksicht auf eventuelle politische oder diplomatische Entwicklungen, die während dieser Zeit eintreten bzw. erreicht werden könnten. Bestand denn aber eine solche Bedrohung in der Vergrößerung der russischen Armee und Flotte sowie im Bau von Eisenbahnen und Befestigung zu einer außerordentlichen Friedensstärke im Jahr 1917? Bestand denn eine wirkliche Gefahr, daß Russland und Frankreich zusammen Deutschland im Jahre 1917 angreifen würden? Und würde denn Großbritannien, der stärkste Partner in der Triple-Entente, seine Zustimmung zu und seine Unterstützung bei einem solchen Angriffskrieg Rußlands und Frankreichs gegen Deutschland gegeben haben? Oder war es nicht vielmehr die Sorge, daß Deutschland vom Jahre 1917 an einen Angriffskrieg für eigene Zwecke nicht mehr mit Erfolg würde führen können, den viele wir sahen, für notwendig hielten? (…)

      Um diese Zeit {Frühjahr 1914] war der Kaiser, in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt, auf seiner Frühjahrsreise nach Korfu eifrig beschäftigt, durch Besuche in Wien und Miramre Österreich-Ungarn bei der Stange zu halten und vor allem der Wiener Politik erneut dringend eine Lösungd er serbischen Frage – durch Diplomatie oder Gewalt – anzuempfehlen, damit die österreichisch-ungarische Armee für den erwarteten großen Krieg gegen Rußland-Frankreich ganz frei sein würde zur Abwehr der russischen Armeen, zumindestens für die ersten sechs Wochen des großen Kampfes.

      Inzwischen gingen die Vorbereitungen der Generalstäbe in Berlin und Wien insgeheim weiter. Am 13. März schrieb Moltke an Conrad:

      „Alle Nachrichten, die wir aus Rußland haben, weisen nicht auf eine z.Z. beabsichtigte aggressive Haltung hin“, und: Noch viel weniger als von Seiten Rußland ist jetzt von Seiten Frankreichs eine aggressive Haltung zu erwarten. Frankreich ist augenblicklich in einer militärisch sehr ungünstigen Lage.

      Und Conrad fragte seinen nächsten Mitarbeiter,
      „ob man warten solle bis Frankreich und Rußland bereit wären, uns gemeinsam anzufallen, oder ob es nicht wünschenswert wäre, daß der ,unvermeidliche‘ Konflikte früher ausgetragen würde?“

      Am 16. März stellte Conrad die Frage nach dem Präventivkrieg auch gegenüber dem deutschen Botschafter in Wien, v. Tschirschky,

      „ob nicht ein früherer Austrag vorteilhafter wäre?!“.

      Der Botschafter stimmt dem völlig zu, wies aber auf die Kriegsunwilligkeit der entscheidenden Personen in Wien und Berlin hin:

      „Zwei Gründe sind hindernd: Ihr Erzherzog Franz Ferdinand und mein Kaiser.“ Beide würden sich, seiner Ansicht nach, nur einem fait accompli gegenüber zum Krieg entscheiden: „es mäßte eine Situation sein, in der man nicht anders kann, als ,losgehen‘“.

      In dieser Hinsicht konnte Conrad den Botschafter beruhigen; er meinte, „daß am Balkan stets Verwicklungen drohen, die eine solche Lage schaffen könnten“, (womit Conrad recht hatte).

      Am 12. Mai (…) [äußerte] Moltke kategorisch: „Noch länger warten, bedeutet eine Verminderung unserer Chancen.“ – Am 18. Mai fragte Moltkes Stellvertreter, der Generalquartiermeister Graf Waldersee:

      „Im Augenblick halte Italien noch zum Dreibund und noch halte Franz Joseph’s Persönlichkeit die bunte Donaumonarchie zusammen […] Aber wie lange noch?“

      Quelle: Fischer, S. 55 f. und 92 ff.

      Habsburgs wichtigster Verbündeter, der deutsche Kaiser Wilhelm, war auf Sommerreise in die norwegischen Fjorde abgetaucht, und von den hektischen Aktivitäten im Hintergrund

      Der Kaiser war Habsburgs wichtigster Verbündeter? Interessant, ich dachte, dass dem noch Leute zugearbeitet hätten… und ihn benutzt hätten, etwa um Wien bei der Stange zu halten (ebd.).

      Aber mal zum Stichwort „abgetaucht“ – wie ist das noch gleich abgelaufen?

      SPIEGEL: Teilte der Kaiser denn das Kalkül Bethmann Hollwegs?

      Röhl: Es gibt Indizien dafür. Am 5. Juli erschien der österreichische Botschafter im Neuen Palais in Potsdam mit einem Schreiben. Darin bat der österreichische Kaiser Franz Joseph um Rückendeckung für seine Pläne, gegen Serbien vorzugehen. Wilhelm sah sofort, dass sich ein Krieg mit Russland und Frankreich ergeben könnte. Dennoch sagte er: Auf mich können Sie sich verlassen. Das ist der berühmte Blankoscheck.

      SPIEGEL; Haben Sie noch mehr Indizien?

      Röhl; Am gleichen Abend und am nächsten Morgen empfing er Bethmann Hollweg, den Kriegsminister und führende Militärs, um sie über die Möglichkeit eines Krieges mit Russland zu informieren. Und was mir auffällt: Es gab keinen Dissens. Die nahmen das alle so hin, als ob dies eine Absprache sei, von der sie schon lange wussten.

      SPIEGEL: Wenn Wilhelm wirklich das Risiko eines Weltkriegs einging, warum stach er dann am 7. Juli zu einer Kreuzfahrt in See?

      Röhl: Bethmann Hollweg hatte ihn ausdrücklich gebeten, die übliche Nordlandreise anzutreten. Andernfalls, so sagte der Reichskanzler, würde ganz Europa merken, dass sich hier etwas anbahnt.

      SPIEGEL: Aber führende Militärs gingen ebenfalls in die Ferien. Das macht man doch nicht, wenn ein Krieg bevorsteht.

      Röhl: Auch dies sollte den Schein der Friedfertigkeit erwecken. Außerdem hielten sie ihre Vorbereitungen für abgeschlossen. Es gab keinen Grund, in Berlin zu verweilen.

      SPIEGEL: Dennoch. Es fällt schwer zu glauben, dass ein Kaiser, der die Regierungszentrale verlässt, wirklich auf Kriegskurs ist. [Anm. CR: Die Dinge, die man beim SPIEGEL nur schwer glauben kann, füllen mittlerweile Bibliotheken.]

      Röhl: Es gibt noch einen Hinweis. Normalerweise fuhr der Kaiser bis zum Nordkap. Dieses Mal aber ging sein Schiff nur in Balholm vor Anker, rund 100 Kilometer nördlich von Bergen. In 22 Stunden konnte der Kaiser von dort aus Cuxhaven erreichen.

      SPIEGEL: Aber das ist doch kein Beweis, dass der Kaiser den Krieg wollte. [Anm. CR: Der SPIEGEL wie er leibt und lebt – was nicht in seine Argumentation und Weltsicht passt, kann nicht stimmen – ob Weltkrieg oder Russland oder sonst was.]

      Röhl: Vielleicht überzeugt Sie das: Am 25. Juli kam der Kommandant der deutschen Hochseeflotte nach Balholm und berichtete, dass der Krieg mit Russland näher rücke. Und was war die erste Reaktion Wilhelms? Er wollte die russischen Flottenstützpunkte Reval (Tallinn) und Libau (Liepaja) an der Ostsee beschießen lassen. Das redete man ihm aus, aber so war der Mann. Bethmann Hollweg bezeichnete Wilhelm in diesen Tagen als „geschwollenen Leutnant“: nassforsch, militaristisch, kriegerisch.

      SPIEGEL: Dann kehrte Wilhelm nach Deutschland zurück und bekam offenbar kalte Füße. Am 28. Juli notierte der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn, der Kaiser halte „wirre Reden, aus denen nur klar hervorgeht, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will“.

      Röhl: Das stimmt. „Jetzt“ nicht mehr. Er bekam wirklich Angst, wenn auch nur vorübergehend. Aber man muss genau hinsehen: Die Unterjochung der Serben, die er als Räuberpack bezeichnete, durch die Österreicher wollte er weiterhin. Und auch den Flottenwettlauf mit Großbritannien mochte er nicht aufgeben. Als Bethmann Hollweg ihm auf dem Höhepunkt der Julikrise vorschlug, mit London eine Verständigung in dieser Frage zu suchen, lehnte er ab. Mit hochrotem Kopf verließ der Reichskanzler nach dem Gespräch damals den Raum.

      SPIEGEL: Die Alliierten wollten den Kaiser vor Gericht stellen, „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes“. Dazu kam es nicht, weil die Holländer den 1918 ins Exil geflohenen Monarchen nicht auslieferten. Gehörte Wilhelm vor Gericht?

      Röhl: Er hat keine Kriegsverbrechen verübt, keinen Mordbefehl erlassen oder dergleichen. Aber Verschwörung zu einem Angriffskrieg – das muss man ihm vorwerfen. Ich glaube, seine Schuld ist sehr groß, viel größer als gemeinhin unterstellt wird. Und wenn er vor Gericht gekommen wäre, wäre er auch verurteilt worden.

      Quelle: hier

      „Äh… der Röhl ist auch anti-deutsch! Äh… der Röhl schreibt immer so lange Bücher, die kann ich gar nicht lesen. Äh… der SPIEGEL hat immer recht! Äh… Hüttenkäs mit Datteln!“

      Äh… Bernd, ich wollte wie gesagt Gegenargumente, kein deutsches Mimimi.

      und damit fahrlässig einen Konflikt mit dessen Schutzmacht Russland in Kauf nahm

      Jetzt sind „wir“ bei T.G. Otte und seiner „Recklessness“ – die angebliche Leichtfertigkeit, Rücksichtslosigkeit der beteiligten Akteure. Das waren bloß keine jugendichen Rowdies, sondern kalkulierende, erwachsene Akteure:

      [Der Kaiser] wurde von Bethmann Hollweg ausgeschaltet, der alle englischen Vermittlungsversuche ablehnte, die Kriegserklärung Wiens an Belgrad am 28. Und die Bombardierung Belgrads am 29. Juli zuließ und die Nerven hatte, gegen die eigenen Militärs die aus diesen Vorgängen resultierende Gesamtmobilmachung Rußlands abzuwarten, um damit Petersburg zum Kriegsschuldigen zu machen. Bethmann Hollweg war sich der psychologischen Aufgabe voll bewusst, die er als politischer Leiter der Reichspolitik zu erfüllen hatte: Deutschland musste der Angegriffene sein; einmal, damit die Nation einmütig zu den Waffen griffe, damit vor allem die Sozialdemokraten „mitgingen“, für die seit Marx das zaristische Rußland der alte Feind war und die allein einen Verteidigungskrieg akzeptieren würden; zum anderen, weil nur so mit der Neutralität Englands gerechnet werden konnte (…). Die deutschen Ultimaten an Rußland und Frankreich am Mittag des 31. Juli und die Kriegserklärung am 1. Bzw. 3. August nahmen Österreich-Ungarn jeden Spielraum, das man für den Krieg gegen Rußland dringend brauchte und vielleicht zum letzten Mal dafür haben konnte. (…) Damit hat er die Sozialdemokraten zum „Mitgehen“ gewonnen, nicht aber die Neutralität Englands. Sein vieldiskutiertes Wort in dieser Rede, das den Bruch der belgischen Neutralität abschwächen sollte (…) war (…) in erster Linie an die Sozialdemokratie und an England gerichtet, wirkte freilich im In- und Ausland mehr nachteilig.

      Quelle: Fischer, S. 151 f.

      Gut, dass die Habsburger jetzt ohnehin keinen mehr Spielraum brauchten. Hierzu Rauchensteiner:

      [SZ] War auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine bewusste Entscheidung des Kaisers?

      Franz Joseph war zweifellos derjenige, der den Weg in den Krieg freigemacht hat. Es ist ein Ammenmärchen, dass der Kaiser von kriegslüsternen Militärs und Politikern ausgetrickst worden wäre. Ende Juli 1914 wurde dem Kaiser vom Minister des Äußeren ein umfangreicher Akt zum Konflikt mit Serbien vorgelegt. Dazu schrieb Franz Joseph in gestochener Handschrift ausführlich dazu, dass er den Minister ermächtigt, die Kriegserklärung an das Königreich Serbien abzuschicken.

      In dem Akt wurde dem Kaiser von einer serbischen Attacke berichtet, die nie stattgefunden hat.

      Sie meinen das angebliche Gefecht von Temes Kubin. Das war natürlich unsauber, aber der Minister hat Franz Joseph über die Fehlinformation informiert. Der Kaiser hat deswegen keine Veranlassung gesehen, den Feldzug zu stoppen.

      Der Kaiser wollte also den Krieg.

      Ja, Krieg gegen Serbien – aber keinen Weltkrieg. Da ging Franz Josephs Politik an der Realität vorbei.

      War ihm nicht klar, dass er damit einen Dominoeffekt von gegenseitigen Beistandsvereinbarungen auslöst?

      Das ist schwer zu sagen. Er war sich sicher bewusst, dass Krieg gegen Serbien mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Krieg gegen Russland bedeutet. Da hat er sich aber auf die Waffenbruderschaft mit den Deutschen verlassen. Kaiser Wilhelm II. hat sich ja unmissverständlich geäußert und außerdem wusste er von Plänen der deutschen Heeresleitung, Frankreich binnen sechs bis acht Wochen zu besiegen. Danach wollte man gemeinsam Russland fertigmachen. Bis Weihnachten wollte man dann wieder zu Hause sein.

      Klingt ziemlich naiv.

      Es waren Fehleinschätzungen in mehreren Punkten. Franz Joseph täuschte sich auch, was Serbien betraf. Er glaubte, das würde ein Spaziergang bis an die griechische Grenze – das war es nicht.

      Quelle: hier

      Alle sind hineingeschlittert! Von unsichtbaren Händen an Fäden gezerrt und gezogen!1!!

      Wie wäre es stattdessen mit: (deutscher) Hochmut und (deutsche) Selbstüberschätzung kommen vor dem Fall? Wäre jetzt ja nichts ganz Neues und ist noch heute zu beobachten – ob in Deutschland oder anderswo. Die Westler und ihr Rammbock Israel dachten ja auch, sie bekämen das iranische „Regime“ mit einem schnellen Enthauptungsschlag ausgeschaltet…

      ENDE VON TEIL III

    3. TEIL IV:

      Auf das in Ton und Inhalt nahezu inakzeptable Ultimatum (…) Wiens Unnachgiebigkeit bei der Forderung (…) machte jedoch alles zunichte.

      Wieder entschuldigend. Wieder wird so getan, als seien da bloß rücksichtslose, spinnerte, selbstgefällige oder sonst wie entrückte Entscheider am Werk gewesen – und nicht Leute, die das genau so wollten. Wieder wird es ins Passive verschoben, statt – „wir“ sind doch gerade so politikwissenschaftlich drauf – über Agency zu reden. Über aktives Handeln und Anstreben.

      Ja, warum war Wien denn so unnachgiebig? Nun – oben finden sich Hinweise. Aber egal, schwadronieren „wir“ lieber über einen russischen Blankoscheck:

      Inzwischen war die russische Regierung zu der Überzeugung gelangt, sich keinen weiteren Gesichtsverlust in Südosteuropa leisten zu können und stellte ihrerseits Belgrad einen ‚Blan¬ko¬scheck‘ aus.

      Am Ende haben einfach alle einander Blankoschecks gegeben, dann ist der deutsche ja gar nicht mehr so wichtig… Pfeifenwichs! Nochmals den pösen Fischer zitiert:

      Nach Sarajewo war die Regierung in Wien in zwei Gruppen gespalten, die Militärs und die Zivilisten. Deshalb war sie zögernd und schwankend, was zu tun sei. Die Entscheidung zu handeln, kam von deutscher Seite. Unmittelbar in der Woche nach Sarajewo begann deutscher Druck mit drohenden Untertönten in Wien dahingehend zu wirken, daß man den günstigen Moment für eine „Aktion“ gegen Serbien nutzen sollte. Dies geschah z.B. durch Victor Naumann, einen persönlichen Freund von Wilhelm von Stumm, den Direktor der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin, und durch Hugo Ganz, den Korrespondenten der Frankfurter Zeitung in Wien, und natürlich am Ende der Woche durch die Mission des Grafen Hoyos in Potsdam und Berlin bzw. dessen Berichterstattung nach seiner Rückkehr in Wien. Auf der entscheidenden Sitzung des Gemeinsamen Ministerrats beider Reichsteile am 7. Juli in Wien warnte der österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh seine Kollegen, daß, wenn Österreich-Ungarn fortfahre zu zögern und sich nicht entscheide zu handeln, die Gefahr bestehen könnte, daß Deutschland das Bündnis Berlin-Wien aufkündige (…) [Anm. CR: Niemand hat die Absicht ein Bündnis zu kündigen, niemand!] (…)

      Auf jeden Fall hat der damals als Außenminister amtierende Unterstaatssekretär Zimmermann [der mit der Depesche 1917] (der Staatssekretär des Auswärtigen Jagow war auf Hochzeitsurlaub) in einer Unterredung mit (…) Hoyos am 5 Juli in Berlin auf dessen Frage nach dem Risiko geantwortet, das „Risiko“, wenn man das noch so nennen kann, bedeute zu 90 % Krieg mit Rußland, was doch nicht anders verstanden werden kann, als daß sicher mit einem großen Krieg gerechnet wurde. Im Übrigen: Graf Hoyos war einer der jungen „Falken“ am „Ballhausplatz“ und ein großer Bewunderer der deutschen Armee. (…)

      Am 12. Juli schrieb Szögyény, Wiens langjähriger Botschafter in Berlin, daß das „absolute“ Drängen des Kaisers und des Reichskanzlers auf den Krieg gegen Serbien sich auf zwei Überzeugungen gründe: erstens, daß Rußland und Frankreich noch nicht fertig seien, und zweitens, daß Großbritannien, „zu diesem Zeitpunkt nicht in einem Krieg intervenieren werde, der über einen Balkan-Staat ausbricht, selbst wenn dies zu einem Konflikt mit Rußland, möglicherweise auch mit Frankreich führen würde […]“ (…) Und er faßte zusammen: „Im allgemeinen also erscheint es von all diesem, daß die politische Konstellation so vorteilhaft für uns ist, wie sie nur sein könnte“, und deshalb würde dieser Moment von Deutschland jetzt benutzt werden.

      Was ist mit diesem Satz, den Moment jetzt zu „nutzen“, gemeint, einem Satz, der doch beweist, daß die Mittelmächte in keiner Weise in den Krieg „hineingeschlittert“ sind?

      Quelle: Fischer, S. 43 f.

      Ja, gute Frage. Aber egal – es waren Schlafwandler! Immer diese Schlafwandler!

      Noch am Montag, dem 27. Juli berichtete die Wiener Neue Freie Presse über britische Versuche, den Frieden wiederherzustellen.

      Johann? Johann! Wie viele britische Versuche, den Frieden wiederherzustellen, gab es eigentlich nochmals?

      „Mindestens sieben, eurer Gnaden.“

      Wie viel?!

      „Mindestens sieben!“

      Verdammt! Warum weiß ich davon nichts?

      „Eure Lordschaft brauchen doch nicht alles wissen, was auf dem Hof so vor sich geht.“

      Und wann genau war eigentlich der erste Versuch?

      „Fragen Sie nochmals Gietinger & Wolf, euer Schweren.“

      Gesagt getan:

      „Am 24. Juli 1914, abends. Grey hält das Ultimatum für „furchtbar“ und lässt über Lichnowsky nach Berlin ausrichten: „Was Sir E. Grey am meisten beklagt, neben dem Ton der Note, ist die kurze Befristung, die den Krieg beinahe unvermeidbar mache.“ Er bittet – noch im Vertrauen auf eine deutsche Vermittlungsposition –, gemeinsam [sic!] wegen „einer Fristverlängerung in Wien vorstellig zu werden (…)“. Wilhelm II. Notiert am Rand: „nutzlos“, die Deutschen kommen gar nicht auf die Idee zu vermitteln, und Österreich, das auf Krieg mit Serbien aus ist, lehnt Greys Vermittlungsbemühungen ab.

      (…)

      Ein besonderes Angriffsziel Clarks ist dabei Außenminister Grey, der mindestens sieben Vermittlungsversuche machte (Konferenz, Abmilderung der Ultimatumsbedingungen, Halt-in-Belgrad etc.), die die Deutschen und Österreicher alle hintertrieben. Sie wollten Krieg. Clark steht ihnen bei. Aber Grey wirft er vor, a) nicht klar sein Eingreifen bei einem Überfall auf Frankreich geäußert zu haben und b) eigentlich aber schon immer vorgehabt zu haben einzugreifen. Greys Dilemma ist ihm ein Buch mit sieben Siegeln: Hätte Grey von Anfang an betont, nicht neutral zu bleiben, hätte er Russland animiert anzugreifen, hätte er das Gegenteil beteuert, hätten die Deutschen angegriffen. Tatsache aber ist: Die Deutschen hätten in jedem Fall angegriffen.

      Auch die letzten Versuche Greys und Lichnowskys, den Krieg zu verhindern, finden keine Gnade bei Clark. Seine Helden sind die aggressiven Deutschen. Auch der allerletzte Versuch Greys, den schlaftrunkenen englischen König um eine Intervention in Russland mit dem Ziel der Rücknahme der Mobilmachung zu bitten, wird von Clark ins Lächerliche gezogen und mit dem unbelegten Totschlagargument verbunden, Grey wollte damit nur Zeit für militärische Vorbereitungen gewinnen. Doch genau damit hatten die Deutschen schon vor Wochen begonnen. (…)

      Wie die deutschen Kriegsunschulds-Historiker der 20er Jahre argumentierend, sieht Clark die Generalmobilmachung der russischen Armee als Hauptauslöser des Weltkrieges. [Anm. CR: Wer das auseinander genommen sehen möchte, lese Dominic Lieven Towards the Flame.] Dazu muss er die militärischen Vorbereitungen der russischen Führung verwirrend darstellen und die Kriegsverhinderungsbemühungen des russischen Außenministers Sasanow weglassen bzw. falsch erzählen. Das Umfallen der SPD-Führung, die als einzige Partei den deutschen Kriegsdrang und damit den Weltkrieg hätte verhindern können, wobei sie tatkräftig von ihren eigenen Anhängern und den französischen Sozialisten unterstützt worden wäre, ist Clark keine Silbe wert.

      Die entsprechenden Passagen und noch viel mehr finden Sie auf den Seiten 221 bis 265 des genannten Werkes.

      der verhängnisvolle Dominoeffekt von gegenseitigen Ultimaten, Mobilmachungen und Kriegserklärungen kam in Gang

      Schön – nachdem jetzt der Artikel viel Raum gegeben hat für Zweigs träumerischen Rückblick auf eine Welt von gestern, die es so nie gab – oder wenn dann nur für einen gewissen Teil der damaligen Gesellschaft – nachdem die Schilderung unwichtiger Details des Attentats und sonstiger Banalitäten noch mehr Sätze einnehmen durfte, kommen „wir“ jetzt zur Abhandlung des eigentlich interessanten Geschehens innert eines Absatzes mit Betonung auf einen so verhängnisvollen wie ominösen „Dominoeffekt“. Wer stupste eigentlich das Steinchen an? Lassen Sie mich raten – es war wieder eine „gespenstische Hand“ im Spiel?!

      Zusammenfassend betont Münkler, der Krieg hätte bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können (…) aber alle Seiten den damit verbundenen ‚Gesichtsverlust‘ scheuten

      Der Krieg sollte aber nicht vermieden werden. Schon gar nicht von deutscher Seite. Das können die Seelentröster Münkler, Clark und Co. freilich nicht sagen und schreiben, deswegen müssen sie über „Weitsicht und Urteilskraft“ schwafeln.

      An sich ist es ziemlich simpel: So wie das Weltbild der Woken zerbrechen würde, wenn sie akzeptieren müssten, dass es keine 72 Geschlechter gibt, zerbräche das Weltbild der Deutschnationalen, wenn sie anerkennen müssten, dass ihre tausendjährige Ruhmesgeschichte der deutschen Rasse ziemlich bleiern, blutig und schwarz ist und es sehr viel mehr als bloß „zwölf dunkle Jahre“ gegeben hat. Beide Fraktionen wären dann aber mit so tiefgreifenden Fragen der Identität konfrontiert, dass sie vermutlich auf der Stelle platzten. Ebenfalls platzen müssten alte Sozialdemokraten, für die immer bloß der habgierige Angelsachse“ hinter den Weltkriegen stand und die nationale Interessen immer nur auf den Inseln oder hinter dem großen Teich, nie aber in Deutschland oder auf dem Kontinent zu entdecken vermögen. Und in argen Schwierigkeiten, wäre die herrschende Kamarilla, wenn man dahinterkäme, dass das von ihr gelenkte Deutschland 1914 wie 2025 aktiv nach Krieg strebt und für Krieg fit gemacht wird. Und somit damals wie heute nicht „plötzlich Krieg war“ in den irgendwelche Somnambulen oder Smombies „hineinschlitterten“.

      Deutschland, das vier Jahre später den Krieg mit über zwei Millionen gefallenen Soldaten endgültig verlor, hatte auch nach dem Scheitern der Offensive gegen Frankreich im September 1914 nichts unternommen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

      Ja wie und warum denn auch?! Wenn man nun mal einen totalen Krieg führt, mit dem Ziel seine Erz- und Erbfeinde links und rechts aus dem Feld zu schlagen, wenn man also all in geht, dann muss man auch bis zum bitteren Ende am Roulette-Tisch bleiben. Da kann man nicht den Krieg beenden, zumal, wenn man glaubt ein paar Jahre später noch schwächer dazustehen.

      Dramatische Zufälle wie die Schüsse von Sarajewo

      Meine Fresse. Ja, die Flugbahn der Kugeln mag vielleicht mehr oder weniger dramatisch und zufällig gewesen sein. Aber das Ereignis war doch trivial und beliebig. Conrad sagte es doch: „daß am Balkan stets Verwicklungen drohen, die eine solche Lage schaffen könnten“. Und vor allem – das Ereignis wurde ja nicht von sich, aus einer intrinsischen Motivation heraus, zum Anlass, sondern es wurde von Menschen bewusst zum Anlass gemacht. Jeder andere passende Vorfall, hätte es genauso gut sein können, wenn den Entscheidern die Umstände gepasst hätten. Nicht, weil sie tanzende Puppen oder eine Hand Gottes im Spiel war.

      Es gab schlicht keinen Automatismus, weil die vorgeblichen „Automaten“ nun mal keine waren – sondern bewusste, geistig rege, souveräne Menschen. Menschen, die handelten – und nicht von einer unsichtbaren Hand am Faden durch die Manege geführt wurden. Dieser Krieg war von der deutschen Führung gewollt und sie hat den Anlass genommen, der ihr zupasskam: Frankreich und Russland schienen noch schwach genug, um sie schlagen zu können, Großbritannien glaubte man draußen halten zu können und der passende Anlass und Täter war in Gestalt des pösen Tschuschen identifiziert, der auf dem Balkan den Thronfolger des deutschen Edelverbündeten hingeschlachtet hatte.

      Tja. Und dann hatte man sich in Bezug auf den Kriegsverlauf verzockt, ganz ohne unsichtbare Hand.

      Ansonsten: Ich weiß nicht, was man an Ensels Beitrag jetzt so knorke findet. Er ist doch recht revisionistisch und reformistisch. Wahrscheinlich braucht man so was aber zur Seelentröstung, weil das tiefergehende Ursachenschürfen damals wie heute nicht en vogue und auch schlichtweg nicht drin ist, wenn man nicht völlig verfemt und allerorten gescholten werden will.

      So, das war mein Wort zum Sonn Groschen zum Freitag. Wem’s zu lang war – es ist nur ein Zehntel dessen, was man hätte kritisieren müssen. Ich bin jetzt soweit raus, macht euch ne schöne Woche trotz der anrollenden Dreckshitze.

      1. Ausgezeichnete Replik, die es wert ist, als eigenständiger Artikel veröffentlicht zu werden!

        Ensels Kenntnisse über WK I sind rudimentär, entsprechend pickt er sich lediglich einzelne Puzzleteile heraus, die ein anderes Bild kreieren helfen…ein verzerrtes allerdings, ganz im Gusto der schlafwandelliebenden Seelentröster. Das fängt ja schon damit an, den Attentätern von FF eine Mitgliedschaft im serbischen Geheimbund ´Schwarze Hand´ anzudichten und die bosnische Jugendbewegung ´Mlada Bosna´, deren Mitglieder die ´Tyrannenmörder´ tatsächlich waren, sowie deren Zusammensetzung und Ziele völlig auszulassen. Triebfeder der jungen Revoluzzer, darunter auch der Schriftsteller und Nobelpreisträger Ivo Andric, war nicht Nationalismus des Nationalismus wegen oder ein Jugoslawien, das Südslawien des Jugoslawien wegen, vielmehr Ausbruch aus einer Jahrhundertherrschaft als Bürger 2. und 3. Klasse. Auf der Sonnenseite der Zweig´schen Privilegierten kamen sie nicht vor, sowie das omnipotente Gefühl der Überlegenheit im Deutschtum nicht wahrgenommen wurde…und weiterhin nicht wahrgenommen wird…und nun in einer Rotte namens EU aufgeht, dem schönsten Europa aller Europas, dessen wahre Beschaffenheit nun allen demonstriert wird. Koste es was es wolle.

        1. Danke für Ihre freundliche Rückmeldung und den Hinweis zur „Mlada Bosna“, den Sie ja auch in Ihrem obigen Kommentar dankenswerter Weise anbrachten.

          Für eine eigenständige Veröffentlichung bei Overton wären meine Ausführungen mit insgesamt 16 DIN-A4-Seiten zu lang. Ich will aber mal schauen, dass ich zwei andere, nicht ganz weit entfernte Themen – das Wirken Benjámin Kállays sowie den deutschen Anti-Russismus – in Artikel gefasst bekomme.

      2. Danke für Ihren sehr aufwendigen und durch die längeren Zitate aus Fischer, Gietinger und Co. jedenfalls für mich sehr erhellenden Beitrag.

      3. @ Besdomny, Gilbert und Mitleser

        Danke für die freundlichen Rückmeldungen!

        Weitere Ausführungen, Zitate und Quellen finden Sie in meinen obigen Repliken auf den Mitforisten @ Wolfgang Wirth hier.

  21. Kriege sind fast immer Folgen von Krisen der Herrschaft, heutzutage also folgen von Finanzkrisen.

    Kriege werden fast immer von den Herrschenden gemacht – und sind IMMER gegen die Bevölkerungen gerichtet – und nicht gegen die ausgerufenen Feinde.

    Kriege sind immer Kriege der Herrschenden gegen die Bevölkerungen.

    Krieg ist immer die gezielte Erzeugung von multiplen Notwehrsituationen in der sich völlig arglose und gegenseitig unbekannte, völlig unverfeindete Menschen gegenseitig töten müssen um des eigenen Überlebens willen.

    Im besten Fall ist Krieg das völlige Versagen der Politik (die damit sofort komplett ausgetauscht gehört), in schlimmsten und häufigsten Fall ist Krieg das Interesse zweier Eliten, ihre Bevölkerungen an die Kandare zu nehmen.

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