Die Schüsse von Sarajewo – oder: Wenn ein Zufallsfunke genügt …

Sarajewo, 1914: Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand
Achille Beltrame, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Ermordung des Habsburger Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 brachte eine Lawine ins Rollen, an deren Ende der Ersten Weltkrieg stand. Einen Automatismus gab es allerdings trotz des vorausgegangenen allseitigen Wettrüstens nicht. Die Fahrt in den Abgrund hätte gestoppt werden können – hätten alle Akteure nicht den damit verbundenen ‚Gesichtsverlust‘ gescheut. (Parallelen zur Gegenwart sind rein zufällig …)

Der Besuch war eine Provokation. Das war allen direkt und mittelbar Beteiligten klar. Ausgerechnet am Vidovdan (St. Veitstag) – dem für die Serben heiligen Tag ihrer mythologisch überhöhten Niederlage 1389 gegen die Osmanen –, ausgerechnet am 28. Juni 1914, dem 525. Jahrestag der „Schlacht auf dem Amselfeld“, dem Symbol für den serbischen Freiheitsdrang und Unabhängigkeitsanspruch, besuchte Österreich-Ungarns Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand zusammen mit seiner Frau, der Herzogin Sophie Chotek von Chotkowa, die Hauptstadt der von der Habsburger Doppelmonarchie fast sechs Jahre zuvor annektierten Provinz Bosnien, Sarajewo.

In der Region, die seit dem Berliner Kongress 1878 – formal noch zum Osmanischen Reich gehörend – unter österreich-ungarische Verwaltung gestellt, 1908 jedoch von Habsburg annektiert worden war, brodelte es schon lange. Die der österreichischen Herrschaft gegenüber feindselig eingestellten bosnischen Serben strebten eine Vereinigung mit ihrem ‚Mutterland‘ an, wo panslawistische Strömungen dominierten. Serbien seinerseits hatte bereits während des Berliner Kongresses Ansprüche auf die Provinzen Bosnien und Herzegowina erhoben.

An Warnungen im Vorfeld hatte es nicht gemangelt, selbst Belgrad hatte klandestin vage Hinweise auf Attentatspläne lanciert. Aber Franz Ferdinand hatte sie alle in den Wind geschlagen. Der Besuch Sarajewos sollte seinem Entschluss zufolge genau an jenem 28. Juni stattfinden. In seinem Roman „Die Schüsse von Sarajewo“ kommentiert der österreichisch-serbische Schriftsteller Milo Dor das Verhalten des designierten Habsburger Thronfolgers: „Entweder war er stur, oder er hatte kein Taktgefühl. Wahrscheinlich traf beides zu. Er wusste nur zu gut, was für eine Stimmung in Bosnien herrschte.“

Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

Die Macht des Zufalls

Zwangsläufig war allerdings nichts. Immer wieder hatte der Zufall seine gespenstische Hand im Spiel.

Als Franz Ferdinand, vom nahegelegenen Kurort Ilidža kommend, wo er am Vortag dem Abschluss der Manöver des XV. und XVI. k.u.k. Korps in Bosnien beigewohnt hatte, am Vormittag des 28. Juni zusammen mit seiner Frau Sophie im aus sechs Fahrzeugen bestehenden Konvoi und – darauf hatte er bestanden – offenem Verdeck den Miljacka-Fluss entlang durch das Zentrum Sarajewos Richtung Rathaus fuhr, da warteten, entlang der Route verteilt, unter den jubelnden Zuschauern am Straßenrand bereits sechs junge Männer des serbischen Geheimbunds „Schwarze Hand“, unter ihnen der neunzehnjährige Gavrilo Princip, darauf, das Symbol des verhassten Habsburger Staates zu ermorden. Die Nachlässigkeit der Verantwortlichen hatte es ihnen leichtgemacht: Die Sicherheitsvorkehrungen waren gering ausgefallen – Kontrollen und Absperrungen gab es keine –, Zeitplan und Fahrtroute waren zudem Wochen zuvor in den lokalen Zeitungen bekanntgegeben worden.

Zunächst einmal ging für die Attentäter allerdings so gut wie alles schief. Als die Kolonne gegen 10 Uhr auf dem Apfelkai den ersten Mörder in spe passierte, unternahm dieser – nichts. Der zweite, so zumindest die Legende, brachte es angeblich nicht über sich, das schneeweiße Kleid der Herzogin mit Blut zu beschmieren. Erst der dritte schleuderte die Bombe auf den Wagen des Erzherzogs, wo sie am zurückgeklappten Verdeck des Fahrzeugs – anderen Quellen zufolge am Arm Franz Ferdinands – abprallte und auf der Straße, kurz vor dem nachfolgenden Automobil detonierte und dort drei Insassen sowie einige am Straßenrand stehende Passanten leicht verletzte. Auf Befehl des Erzherzogs setzte der Konvoi seine Fahrt ungerührt programmgemäß fort und passierte auf dem Weg zum Rathaus zwei weitere Attentäter, die jedoch nichts unternahmen.

„Herr Bürgermeister, da kommt man nach Sarajewo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend!!“, schnaubte der Thronfolger das Stadtoberhaupt und die versammelten lokalen Honoratioren wütend an, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.

Bei den folgenden Ereignissen spielte wiederum der Zufall eine verhängnisvolle Rolle.

Nach dem Empfang im Rathaus, der eine knappe Stunde gedauert hatte, fasste Franz Ferdinand den Entschluss, die Verletzten im Militärspital zu besuchen – die Route wurde also geändert, allerdings nicht mit der örtlichen Polizei abgesprochen, worauf die Kolonne, irrtümlich auf den ursprünglich vorgesehenen Rückweg geleitet, die Anreiseroute in umgekehrter Richtung wieder zurückfuhr. Als der in einem der Wagen sitzende und für den Programmablauf zuständige Militärgouverneur Oskar Potiorek den Irrtum bemerkte, ließ er den Konvoi auf der Höhe der Lateinerbrücke stoppen, um zu wenden und zur geänderten Route zurückzukehren. – Was nun geschah, schildert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem Wälzer „Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918“:

„Doch just an der Stelle, wo das Auto mit Franz Ferdinand und seiner Frau anhielt, befand sich der bosnische Serbe Gavrilo Princip. Als Einziger der Attentäter hatte er nach dem Fehlschlag des ersten Anschlagsversuchs nicht aufgegeben, sondern war an der vorgesehenen Route geblieben und hatte auf eine zweite Chance gewartet. Die bot sich ihm jetzt und er feuerte auf das zum Stillstand gekommene Fahrzeug zwei oder drei Schüsse ab. Ein Schuss traf den Erzherzog in die Halsvene, ein anderer die Herzogin Sophie in den Bauch. Der Wagen raste nun zur Residenz des Militärgouverneurs, die sich nur wenige Minuten vom Ort des Attentats entfernt befand. Von einem Begleiter nach seinem Befinden befragt, versicherte Franz Ferdinand, es sei nichts und wiederholte dies mehrfach. Als die Fahrzeugkolonne die Residenz erreichte, war Herzogin Sophie bereits ihren schweren Verletzungen erlegen; eine Viertelstunde später starb auch der österreichisch-ungarische Thronfolger.“

Im Autopsiebericht äußerte der untersuchende Arzt später die Ansicht, die Verletzungen wären nicht tödlich gewesen, wäre die Kugel etwas weiter rechts oder links eingedrungen. Sie habe Franz Ferdinand mehr oder weniger zufällig getroffen, da es Princip in der Eile unmöglich gewesen sei, genau zu zielen.

„Die Vorstellung von der Wirkmacht des Zufalls“, schreibt Münkler für einen kurzen Moment kontrafaktische Geschichtsschreibung betreibend, „hat etwas ebenso Verführerisches wie Entsetzliches. Es hätte dann weder die zehn Millionen Gefallenen gegeben noch die Millionen Toten, die infolge des Krieges an Hungerka­tastrophen und Pandemien gestorben sind, ebenso wenig die Opfer des russischen Bürgerkriegs als indirekte Kriegsfolge oder die Opfer des Stalinismus, weiterhin nicht die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus und auch keinen Zweiten Weltkrieg.“

Intermezzo: Die vorgestrige „Welt von Gestern“

„Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands.

Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910. Wien, Mailand, Paris, London, Amsterdam – wann immer man wiederkam, war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete. Überall entstanden neue Theater, Bibliotheken, Museen; Bequemlichkeiten, die wie Badezimmer und Telephon vordem das Privileg enger Kreise gewesen, drangen ein in die kleinbürgerlichen Kreise, und von unten stieg, seit die Arbeitszeit verkürzt war, das Proletariat empor, Anteil wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens zu nehmen. Überall ging es vorwärts.

Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst wurden schöner und gesünder dank des Sports, der besseren Ernährung, der verkürzten Arbeitszeit und der innigen Bindung an die Natur. Und die Berge, die Seen, das Meer lagen nicht mehr so fernab wie einst. Das Fahrrad, das Automobil, die elektrischen Bahnen hatten die Distanzen verkleinert und der Welt ein neues Raumgefühl gegeben. Wer Ferien hatte, zog nicht mehr wie in meiner Eltern Tage in die Nähe der Stadt oder bestenfalls ins Salzkammergut, man war neugierig auf die Welt geworden, ob sie überall so schön sei und noch anders schön; während früher nur die Privilegierten das Ausland gesehen, reisten jetzt Bankbeamte und kleine Gewerbsleute nach Italien, nach Frankreich. Es war billiger, es war bequemer geworden, das Reisen, und vor allem: es war der neue Mut, die neue Kühnheit in den Menschen, die sie auch verwegener machte, weniger ängstlich und sparsam im Leben – ja, man schämte sich ängstlich zu sein. Eine ganze Generation entschloss sich, jugendlicher zu werden. 

Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft; niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ‚gute alte Zeit‘.“

So schilderte uns Anfang der Vierzigerjahre, mitten im Zweiten Weltkrieg, Stefan Zweig seine „Welt von Gestern“.

Die Julikrise – oder: Der vermeintliche Determinismus

Die den Schüssen von Sarajewo nachfolgenden vier Wochen – an deren Ende dann die berühmte Kettenreaktion der Mobilmachungen und Kriegserklärungen infolge wechselseitiger Bündnisverpflichtungen stand und die schließlich alle Akteure in den Abgrund riss –, diese knappe Frist ist unter dem Begriff „Julikrise“ in die Geschichtsschreibung eingegangen. Und auch hier, man kann es nicht oft genug betonen, gab es keinen Determinismus. Anders formuliert: Es gab keinen zwangsläufigen Weg in die „Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts“!

Gewiss: Die mit dem Deutschen Reich verbündete und durch interne Nationalitätenkonflikte geschwächte Habsburger Doppelmonarchie sah sich durch den (von Russland unterstützten) Panslawismus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan entstandenen Mittelmacht Serbien, die ihrerseits gerade mühsam die jahrhundertelange osmanische Herrschaft abgeschüttelt hatte, herausgefordert. – Gewiss: Das mit dem zaristischen Russland verbündete Königreich Serbien sah sich umgekehrt bereits im Zuge des Berliner Kongresses und erst recht durch die Annexion von Bosnien-Herzegowina 1908 in seinen territorialen Ansprüchen von Österreich über den Tisch gezogen. – Gewiss: Das Zarenreich hatte seine Aspirationen auf den Balkan als Einflusszone und Tor zum Bosporus und den Dardanellen nicht aufgegeben und in den Jahren zuvor mit französischer Unterstützung ein modernes Eisenbahnnetz errichtet, das es nun in die Lage versetzte, Truppenverlegungen gen Westen doppelt so schnell zu organisieren. – Gewiss: Der Weltmacht Großbritannien war auf dem Kontinent in Gestalt des Deutschen Reiches nicht nur ein ernstzunehmender Wirtschaftsrivale herangewachsen. Dieser hatte zudem, vor allem im Bereich der Kriegsflotte, mächtig aufgerüstet und wiederholt parvenuhaft den Mund ziemlich weit aufgerissen. – Gewiss: Im mit Russland und Großbritannien verbündeten Frankreich sann man nach der schmachvollen Niederlage von 1871 auf Revanche und setzte für den Fall eines Krieges auf einen raschen Einmarsch Russlands in den deutschen Osten. – Gewiss: Im in der Mitte des Kontinents gelegenen Deutschen Reich kursierten Ängste vor einer politischen Einkreisung durch Frankreich und Russland.

Kurz: Die europäischen Großmächte hatten bereits ein gigantisches Pulverfass aufgetürmt. Niemand aber war wirklich gezwungen, die Lunte anzulegen oder diese gar entzünden! Immer wieder waren in den Jahren zuvor auch brandgefährliche Krisen durch kluge Diplomatie eben dieser Akteure noch im letzten Augenblick beigelegt worden.

Und zunächst schien man nach dem Attentat auch überall wieder schnell zur Tagesordnung überzugehen. In Österreich-Ungarn hatte die Ermordung Franz Ferdinands kaum mehr als einen vor­übergehenden Schock ausgelöst. Der stets arrogant auftretende Thronfolger und seine kühle Gattin waren bei der Bevölkerung nie sonderlich beliebt gewesen. (Hohe ungarische Militärs sollen insgeheim gar in Jubel ausgebrochen sein, als sie von den Schüssen in Sarajewo erfuhren.) Habsburgs wichtigster Verbündeter, der deutsche Kaiser Wilhelm, war auf Sommerreise in die norwegischen Fjorde abgetaucht, und von den hektischen Aktivitäten im Hintergrund – allen voran dem ‚Blankoscheck‘, den die deutsche Führung am 6. Juli Österreich-Ungarn für ein hartes Vorgehen gegen Serbien ausstellte und damit fahrlässig einen Konflikt mit dessen Schutzmacht Russland in Kauf nahm – bekam die Öffentlichkeit in den europäischen Ländern anfangs so gut wie nichts mit.

Auf das in Ton und Inhalt nahezu inakzeptable Ultimatum, das das zunächst eher zögerlich agierende Österreich dann – mit deutscher Rückendeckung – am 23. Juli Serbien unterbreitete, ging Belgrad zur allgemeinen Überraschung in Wien und Berlin sogar sehr weit ein, womit eigentlich der unmittelbare Anlass, dem Land „militärisch eine Lektion zu erteilen“, entfallen wäre. Wiens Unnachgiebigkeit bei der Forderung, binnen achtundvierzig Stunden österreichische Beamte an den Nachforschungen nach den Hintermännern des Attentats zu beteiligen und einreisen zu lassen – die einzige Forderung, die Belgrad dezidiert zurückgewiesen hatte –, machte jedoch alles zunichte.

Inzwischen war die russische Regierung zu der Überzeugung gelangt, sich keinen weiteren Gesichtsverlust in Südosteuropa leisten zu können und stellte ihrerseits Belgrad einen ‚Blan­ko­scheck‘ aus. Herfried Münkler: „Ein über die serbische Regierung hinweg geschlossener Kompromiss zwischen Wien und St. Petersburg wäre unter diesen Umständen der eigentlich naheliegende Ausweg gewesen. Aber dazu hätte Wien mit den Russen Gespräche führen müssen, und das wollte die österreichische Regierung nicht.“

Trotzdem schien auch jetzt noch nicht alles verloren. Noch am Montag, dem 27. Juli berichtete die Wiener Neue Freie Presse über britische Versuche, den Frieden wiederherzustellen. Schließlich waren die Bündnisse keineswegs so zwingend, wie man später oft glauben machen wollte: Das Deutsche Reich war durchaus nicht verpflichtet, Österreich-Ungarn in diesem Konflikt zu Hilfe zu kommen, Russland musste Serbien nicht um jeden Preis Beistand leisten und England war nicht gezwungen, wegen Belgien – das Deutschland, dessen erklärte Neutralität missachtend, ab dem 4. August brutal überrollte – in den Krieg einzutreten.

Die rasende Fahrt in den Abgrund

Am 28. Juli jedoch erklärte die Donaumonarchie Serbien den Krieg, österreichische Kanonenboote beschossen Belgrad, der verhängnisvolle Dominoeffekt von gegenseitigen Ultimaten, Mobilmachungen und Kriegserklärungen kam in Gang und eine Woche später befanden sich Österreich-Ungarn, Serbien, Russland, Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien bereits im Krieg!

War die Kriegsmaschinerie aber erst einmal angelaufen, radikalisierten sich auch die Kriegsziele immer rasanter. So hieß es etwa im Septemberprogramm 1914 des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg – die deutsche Offensive gegen Frankreich war bereits gescheitert –, zur „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit“ sei Frankreich so zu schwächen, „dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann.“ Russland solle nach Möglichkeit von der Grenze „abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“

Eine verhängnisvolle Rolle als Scharfmacher spielten nicht zuletzt die Intellektuellen und, wohl erstmals in Mitteleuropa, die Presse. Herfried Münkler: „Nicht nur die wenigen Skeptiker und Pazifisten, die vor dem Krieg gewarnt und nach seinem Ausbruch auf seine schnelle Beendigung gedrängt haben, sondern auch die Annexionisten waren Intellektuelle. Viele von ihnen sind dezidiert regierungskritisch aufgetreten und haben dabei – ohne spezifische Expertise und rein wertorientiert argumentierend – im typischen Stil von Intellektuellen den auf eine Politik der Zurückhaltung und Mäßigung bedachten Reichskanzler aufs heftigste attackiert. Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die Intellektuellen, und zwar auf beiden Seiten, eine politisch einflussreiche Rolle gespielt haben: Die Deutungseliten haben sich nachhaltig in das Geschäft der Entscheidungsträger eingemischt, und dabei haben sie mehr zur Eskalation als zur Moderation des Kriegsgeschehens beigetragen.“ [Hervorhebungen L.E.]

Zusammenfassend betont Münkler, der Krieg hätte bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Ein Zusammenspiel von Angst und Unbedarftheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen habe auf einen Weg geführt, „auf dem schließlich keine Umkehr mehr möglich schien: Ende Juli 1914 nicht, als dies noch relativ einfach gewesen wäre, aber alle Seiten den damit verbundenen ‚Gesichtsverlust‘ scheuten, und auch nicht während des Krieges, als längst klar war, dass jeder weitere Schritt irreparable Verheerungen nicht nur beim Gegner, sondern auch in der eigenen Gesellschaft hinterlassen würde.“ Deutschland, das vier Jahre später den Krieg mit über zwei Millionen gefallenen Soldaten endgültig verlor, hatte auch nach dem Scheitern der Offensive gegen Frankreich im September 1914 nichts unternommen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Im Gegenteil: Der jahrelange und für alle Seiten höchst verlustreiche Stellungskrieg an der Westfront begann erst richtig …

Die Benzinfässer und der Funke des Zufalls

Und die ‚Moral von der Geschicht‘?

Dramatische Zufälle wie die Schüsse von Sarajewo wird man, namentlich zu Zeiten starker Spannungen, in den Beziehungen zwischen hochgerüsteten Großmächten immer einkalkulieren müssen. Aber man könnte, würde man es denn wollen, im Vorfeld (und auch später noch) einiges dafür tun, die möglichen Folgen zumindest zu begrenzen.

Sagen wir es so: Wenn ein gigantischer Berg von Benzinfässern auf engstem Raum aufgetürmt ist, dann muss das ganze Lager natürlich nicht automatisch in die Luft fliegen. Es kann durchaus alles noch eine kürzere oder längere Zeit ‚gutgehen‘. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ein Zufallsfunke eine monströse Detonation auslösen kann, steigt allerdings exponentiell. Vor allem dann, wenn alle Anrainer nicht nur keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, sondern auch noch munter zündeln… Vielleicht wäre es ja doch besser, Benzinfässer – zumal in Unmengen – gar nicht erst anzuhäufen.

Es gibt Risiken, die nicht eingegangen werden dürfen!

Leo Ensel

Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigheit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.
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33 Kommentare

  1. Das ist ausgezeichnet beschrieben. Danke Leo.
    Hat man denn nichts gelernt? Doch man hat. Da ist die NATO, die das verhindern soll. Ein Zusammenschluss der Staaten der Ersten Welt, das sich kollektiv verteidigt. Aber auch eine Wiederholung von Sarajewo verhindern soll. Man ist in der NATO vor Angriffen derer geschützt, die nicht drin sind. Noch wichtiger aber die Sicherheit vor denen, die drin sind. Die NATO hat Beides bisher ausnahmslos geschafft und das ist eine beachtenswerte Leistung. Von daher wird mir immer etwas schwummrig, wenn ein Austritt gefordert wird.
    Problem ist, dass die NATO daneben eben auch Beute machen will. Wir sind im Kapitalismus und da bleibt das nicht aus. Die gesamte Osterweiterung fällt unter dieses Bestreben und es ist gelungen, die Mitgliedsstaaten zu indoktrinieren und zu militarisieren. DAS ist der Kritikpunkt.

    Intellektuelle haben wir inzwischen ja erfolgreich abgeschafft. Insofern ist deren Kriegstreiberei nicht mehr zu befürchten. Halt – vor ich Unrecht tue: wir haben Richard David Precht. Der wird nicht kriegstreiben. Wenigstens das.

    1. Das Problem mit der Nato ist,daß sie zu einem Agressor (kein Verteidigungsbündnis mehr)geworden und komplett unter amerikanischer Kontrolle ist und die imperialen Kriege der USA mitmachen muss .(Serbien,Afghanistan,Iran,Ukraine usw.)

      1. Das war nie, kemen einzigen Tag , anders. Deshalb hatten sie auch kein Problem damit, die damals durch und durch faschistische Bundeswehr nahtlos zu integrieren.

    2. Die NATO war immer nur ein aggressives Instrument zur Sicherung der Hegemonie der amerikanischen war pigs, die seit WK2 die Welt permanent in Blut badeten. An keinem einzigen Tag ihres Bestehens diente sie der Verteidigung. Du sonderst eine Reihe von Phrasen ohne einen Hauch von Evidenz ab,
      Ich wiederhole, was ich hier vor Tagen schon schrieb : Nach der Niederlage des Realsozialismus hatte der Westen Zugriff auf auf alle militärischen Unterlagen des Feindes. In der Jelzinzeit sogar auf die russischen. Nicht, dass sie es nicht immer gewusst hätten, aber sie fanden keine Angriffspläne. Weil es die nie gab. Was man fand, war, dass sie in Falle eines Krieges Krieg führen würden. Nicht sehr überraschend.

      Ich kenne keinen einzigen Menschen persönlich, der über ausreichend Verstand und Anstand verfügt, der diese von dir vorgetragene Propaganda zur Grundlage ernsthafter Überlegungen machen würde.

    3. „beachtenswerte Leistung“ – soviel zum „Verteidigungs“bündnis:
      wiki: „Der Kosovokrieg wurde kontrovers diskutiert: Die NATO griff die Bundesrepublik Jugoslawien an, ohne dafür ein UN-Mandat zu haben und ohne dass ein Mitgliedsland angegriffen und so der Bündnisfall der NATO ausgelöst worden wäre. Nach Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta war der Kosovokrieg der NATO somit ein völkerrechtswidriger Angriff.“

      Ich werde nie die damals noch öffentlich getätigten und gesendeten Aussagen des Brigadegeneral Heinz Loquai vergessen, der in diesem Vorgehen der NATO den Auftakt für weitere Kriege, den Präzedenzfall für die Durchsetzung des Krieges als Mittel der Politik ansah:
      ….. Ausschaltung der UNO und die Dominanz der Vereinigten Staaten bei der Eskalation zum Krieg, die sich um Verbündete kaum kümmerte, und der feste Wille, Krieg zu führen, durch Krieg einen Regimewechsel zu erreichen. Es war ein Präventivschlag.. und ja, Krieg als Mittel der Politik wieder salonfähig zu machen.
      https://www.deutschlandfunk.de/heinz-loquai-weichenstellungen-fuer-einen-krieg-100.html

      bezeichnender Weise wird diese Warnung und die Haltung Loquais im Wikipedia-Artikel gar nicht erst erwähnt

  2. Kurz: Die europäischen Großmächte hatten bereits ein gigantisches Pulverfass aufgetürmt. Niemand aber war wirklich gezwungen, die Lunte anzulegen oder diese gar entzünden! Immer wieder waren in den Jahren zuvor auch brandgefährliche Krisen durch kluge Diplomatie eben dieser Akteure noch im letzten Augenblick beigelegt worden.

    Wenn man alles wegstreicht, was die „Krisen“ so „brandgefährlich“ macht, also alle politischen Zweck ignoriert, dann kommt so ein Artikel bei raus: eine Aufzählung von Ereignissen, „Zufällen“ und verhängnisvollen Entscheidungen, die gar nicht zwingend waren.

    Sagen wir es so: Wenn ein gigantischer Berg von Benzinfässern auf engstem Raum aufgetürmt ist, dann muss das ganze Lager natürlich nicht automatisch in die Luft fliegen. Es kann durchaus alles noch eine kürzere oder längere Zeit ‚gutgehen‘. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ein Zufallsfunke eine monströse Detonation auslösen kann, steigt allerdings exponentiell. Vor allem dann, wenn alle Anrainer nicht nur keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, sondern auch noch munter zündeln… Vielleicht wäre es ja doch besser, Benzinfässer – zumal in Unmengen – gar nicht erst anzuhäufen.

    Es gibt Risiken, die nicht eingegangen werden dürfen!

    Kriege brechen nicht aus. Der Vergleich mit den Benzinfässern suggeriert eine gefährliche Situation, bei der ein unbeabsichtigter(!) Funke reicht, um alles zu entzünden.

    Das ist Bullshit

    Die Staaten rüsten für den Krieg, d.h. sie kalkulieren mit ihm, sie wollen ihn. Die Vorstellung, dass Politiker (zu) hohe Risiken(!) eingehen, ist eine einzige Verharmlosung der politischen Zwecke.

    1. Im Text wird das Wort Zufallsfunke und nicht „…unbeabsichtigter(!) Funke…“ verwandt.
      Dies sind zwei unterschiedliche Dinge.

      Das beste Beispiel für Zufallsfunken sollte besonders heute hinlänglich mit ‚Petrow‘ und ‚Fehlalarm/Software 1983‘ bekannt sein!
      Der Möglichkeiten und Fehlerquoten mit fatalen, aber finalen Auswirkungen gibt es heutzutage unzählbare mehr.

      Das Beispiel ist daher keineswegs absurd, sondern zwingend! logisch. Denn nur auf einem vollen Pulverfass sitzend, kann man sich versehentlich, aufgrund „unglücklicher“ Umstände oder geplant/gezielt, aber unumkehrbar ins Jenseits befördern.
      Mit einem leeren funktioniert das NIE!

        1. Nicht unbedingt. Die Akteure haben die Pulverfässer bewusst so gestapelt, dass bereits ein Funke ausreichte (fast alle wollten diesen Krieg).

          Aber ob es am Ende das Resultat der aufgeheizten Lage war (quasi selbsterfüllende Prophezeiung), oder ob jemand bewusst dem Zufall aushalf, lässt sich daraus nicht schliessen.

        2. „..negiert die bewusst handelnden Subjekte…“
          Ist bedauerlicherweise allgemein gepflegter und akzeptierter Usus.
          Ob im Privatleben, dem All- oder Geschäftstag, dem Miteinander, national oder international etc. – STETS werden Subjekte aufgrund erdachter Ursachen negiert/freigesprochen.

          So schieben Sie: „Die Staaten rüsten für….“
          Staaten sind KEINE Subjekte, sondern bestehen aus einer Vielzahl einzelner Subjekte, die in Minderheit einerseits erfolgreich Interessen verfolg(t)en bzw. andererseits mehrheitlich solchen, die entweder durch Unterlassung/oder Unterstützung den Erstgenannten zu Superlativen und deren Sicherung verhelfen, aber immer offensiver jammern: Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ mich nicht nass!

          WENN man also über Subjekte jeden will, soll und muss (sorry: eventuell, unter Umständen, vielleicht, wenn’s genehm wäre, intellektuell nicht überfordert, den eigenen Wohlfühlhorizont nicht unangenehm erweitert), dann bitte auch über ALLE*. ☝️

          *Aber im Vertrauen gesagt: (Selbst)Erkenntnissen/Reflexionen kämen ohnehin zu spät.

    2. Ich stimme Ihnen mit der Intention zu.
      Und sofort kommen Tätercharakter den Tätern zu Hilfe.
      Gucken Sie sich mal die Antworten unter Ihrem Post an.
      TÄTERCHARAKTER!

  3. Wirklich armselig. Es wird so getan wie wenn nicht Kräfte am Werk wären, die genau das so wollten und wollen wie es geschah und geschieht.

    Hier ist ein Volksverdummer aller erster Güte am Werk.

    Und sein Spießgeselle ArturdasZeh springt gleich peinlich bei.

    1. Klär uns doch auf, wer wollte das?

      Meines Wissens hatten die Briten einen gehörigen Anteil und ihre Freude und ihren Gewinn daran, den Kontinent gegeneinander auszuspielen, dem Konkurrenten Deutschland und den verhassten Franzosen zu schaden. Machen die ja immer noch, der Ukrainekrieg soll z.B. maßgeblich durch britische Diplomatie und Versprechungen ausgebrochen sein.

      Aufgerüstet wurde jedenfalls sowieso, schon als Vorsorge wegen der „Einkreisungspolitik“ (egal ob eingebildet oder tatsächlich vorhanden).

  4. So einen Sarajevo-Moment mit einer unserer Kriegshuren? Hat was.
    Aber dafür einen Weltkrieg anfangen? Kenne ich niemanden der da mitmachen würde…

  5. Jedesmal wenn ich drüber lese, staune ich wie nonchalant das damals war.

    Stellt euch mal vor der Thronfolger eines sich im Niedergang befindenden Vielvölkerstaates (nennen wir ihn Fritz Ferdinand von den Laien-McKinsey) kommt auf Besuch:
    Statt offener Limousine kommt da ein Konvoi gepanzerter Autos. Spalier gibt es auch keins, wenn Jubelperser erwünscht sind stehen die bei der Ankunft am Flughafen irgendwo weit weg. Die Route wird zudem streng abgeriegelt, die Anwohnern teils tagelang gegängelt (ich erinnere mich grad an den Besuch Obamas in Hamburg, wo es iirc nicht einmal erlaubt war entlang der Route Fenster zu öffnen).

    Wenn tatsächlich jemand eine Granate werfen würde, dürfte der Attentäter dies mit 99.7% Wahrscheinlichkeit nicht überleben.
    Das Treffen mit den Honoratoren fände vermutlich, wenn überhaupt, dann in einem Bunker statt. Der Konvoi würde auch niemals entlang derselben Route zurückkehren, und die neue Route würde zuerst vom Militär gesichert werden.

    Und der Franz Ferdinand war unbeliebt..

  6. Im Kleinen wie im Großen: „Gesichtsverlust“ oder ein drohender Gesichtsverlust führen zu Zerwürfnissen, Kontaktabbrüchen und Kriegen – sowohl zwischen Ländern als auch innnerhalb und zwischen Familien. Der Mensch ändert sich nicht, die Welt auch nicht. Wohlan, dann „willkommen“ zum nächsten …

  7. Danke für den interessanten Artikel.
    Morgen jährt sich der Zündfunke, der den Anlass zum ersten Weltkrieg bot. Man wird sich wohl ewig fragen müssen, wieso die Verantwortlichen in Deutschland und Österreich nicht gesehen haben, dass ein Krieg in dieser Konstellation zur Katastrophe und zum eigenen Niedergang führen musste.
    Ursächlich für das gegenseitige Auftürmen von offenen Benzinfässern war jener Imperiale Gedanke der irgendwann zur direkten Konfrontation der konkurrierenden Mächte führen musste.

    Der zündende Funke zum 3. Weltkrieg ist längst getan. Noch ist die Druckwelle nicht in Deutschland angekommen, aber anstatt die Brandherde rings um zu löschen, tut man nun alles um noch mehr Benzinfässer aufzustellen. Mit 5% vom BIP und einer ruinösen Neuverschuldung setzt man alles was man aufzubringen vermag auf eine Karte. Den eigenen Untergang. Es ist der reinste Wahnsinn.

  8. „Der Krieg hätte bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Ein Zusammenspiel von Angst und Unbedarftheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen habe auf einen Weg geführt, auf dem schließlich keine Umkehr mehr möglich schien.“

    Hm, mir scheint, der Satz greift der nahen Zukunft voraus … und kann dann in den später erscheinenden Geschichtsbüchern 1 : 1 hineinkopiert werden!

    1. „…und kann dann in den später erscheinenden Geschichtsbüchern 1 : 1 hineinkopiert werden!“

      😳
      Ääähm: nach dem Showdown bliebe keiner übrig*, der, für wen auch immer, Bücher schreiben könnte oder intellektuell befähigt wäre, zusammenhängende und
      verständliche Sätze niederzuschreiben oder diese gar zu verstehen**.

      *mangels ausreichender Bildung, weil Smartphone,X,Facebook, ChatGPT etc. tot = 🤕🤯🤪 = 🧠hirntot
      **Ist ja nun wirklich nicht so, dass man es mit Erfahrungen/Geschichte/in Büchern nicht schon mehrfach, aber erfolgreich erfolglos versucht hätte.👍🤫

  9. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Trauma Europas tief. Über 16 Millionen Tote, ein zerstörter Kontinent, gesellschaftliche Erschütterungen – wer wollte da noch einmal in einen Krieg ziehen? Entsprechend groß war die Zurückhaltung der westlichen Demokratien in den 1930er Jahren, als Nazi-Deutschland begann, die europäische Ordnung zu untergraben.

    Als Hitler 1936 das entmilitarisierte Rheinland besetzte, geschah – nichts. Dabei war es ein klarer Bruch des Versailler Vertrags. Die Reaktion: Achselzucken. Krieg, schon wieder? Lieber nicht.

    1938 dann die Sudetenkrise. Deutschland schickte „Freikorps“ und behauptete, das „deutschsprachige Volk“ müsse befreit werden – ein inszenierter Vorwand. Statt dem Bruch internationaler Verträge zu begegnen, setzte man auf Verhandlungen. Das Ergebnis: Das Münchener Abkommen. Die Tschechoslowakei wurde ohne ihre Beteiligung aufgeteilt. Neville Chamberlain erklärte danach, man habe „Frieden für unsere Zeit“ geschaffen. Wenige Monate später war die Tschechoslowakei vollständig zerschlagen.

    Dann folgte Polen. Und wieder kam das Zögern: „Warum sollen wir für Danzig sterben?“ Obwohl Frankreich und Großbritannien Polen militärisch garantierten, kam nach der Kriegserklärung im September 1939 keine ernsthafte militärische Unterstützung. Stattdessen: Monate der Untätigkeit, bekannt als „Phoney War“ oder „Sitzkrieg“. Der Krieg war erklärt – aber es war ein Krieg auf dem Papier. Keine Offensive, keine Entlastung. Eine symbolische Geste, kein entschlossenes Handeln. Als dann 1940 der deutsche Angriff auf den Westen kam, waren Frankreich und Großbritannien nicht vorbereitet. Die Wehrmacht marschierte durch, Paris fiel – und britische Soldaten flohen in letzter Minute aus Dünkirchen.

    Was folgte, war nicht nur militärische Niederlage, sondern auch moralischer Bankrott: Marschall Pétain und viele französische Kollaborateure waren nicht überzeugte Nazies, sondern glaubten daran, dass der eigentliche Fehler war, sich Hitler überhaupt entgegenzustellen. Man sprach von „unnötigem Krieg“, von „falschen Allianzen“. Eine Haltung, die auf Rückzug, Schuldverschiebung und Wunschdenken beruhte – und in die Katastrophe führte.

    Denn eines haben sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg klar gezeigt: Es gibt keinen universellen Weg, eine Katastrophe zu vermeiden.

    Zu viel Hybris führt in den Krieg. Doch auch das ständige Zurückweichen vor Aggressoren führt am Ende genau dorthin – nur später, schlechter vorbereitet und mit noch mehr Leid.

    Zwischen blindem Eskalieren und selbstzerstörerischer Beschwichtigung liegt nur ein schmaler, schwerer Weg.

    1. Ruhig Blut.
      800.000 Millionen sind doch schon vorgesehen, um Adolf Putin in den Arm zu fallen.
      Nur….warum eiern sie FEIGLING so rum?
      Fürchterlich, Menschen wie Sie. Was für Anal ogien Sie hier anstellen…

  10. Wenn das Trottoir vollgekackt ist, tritt man irgendwann in die Scheiße. Deshalb sollte man den Hunden des Krieges nicht erlauben, ihre fetten, stinkenden, braunen Geschäfte zu machen.

    1. Kleine Ergänzung: Ich erinnere mich an ein kleines Heftchen über verschiedene Verhütungsmethoden, das verteilt wurde als jung war, mit vielen farbigen Bildern. Und dann war da eine dunkel gehaltene Doppelseite in schwarz/weiß. Die „Verhütungsmethode“ von der da die Rede war, hieß: Aufpassen….

      Vielleicht sollte man ein ähnliches Heftchen zum Frieden unter die Leute bringen, mit vielen farbigen Bildern zu den Möglichkeiten, den Krieg zu verhüten: Vertrauensbildende Maßnahmen, kultureller Austausch, Städtepartnerschaften usw. usw. – und dann noch eine schwarz/weiße Doppelseite, die Kriegsverhütung durch Aufrüstung, nukleare „Schutzschirme“ etc. zum Thema hat.

  11. Auffallend ist zunächst, was in Münklers „kontrafaktischer historischer“ Aufzählung der negativen Folgekosten des „Zufallsfunkens“, der die angeblich gemütliche Welt von 1914 erschütterte, vornehm unterschlagen wird: Ja mein Gott, „wir“, also die europäischen Kolonialmächte, hätten die halbe Welt noch unter unserem Stiefel!
    China wäre noch „unter Kontrolle“, Indien wäre noch in britischer Hand, die Franzosen stünden noch in Hanoi und Namibia wäre „Deutsch-Süd-West“. Aber dieser Wunschtraum ist auch deutlich „antisemitisch“ gefärbt, denn es gäbe ja kein Israel.

    Zweitens ist erheiternd, wie bürgerliche Historiker und Konfliktforscher (!), die den Ersten Weltkrieg seit einiger Zeit als Zufallsprodukt von „Schlafwandlern“ darzustellen versuchen, selbst den guten alten Clausewitz nicht mehr kennen wollen. Das Clausewitzsche Axiom, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, scheint überall zu gelten, nur nicht in Bezug auf den 1. Weltkrieg. Ensel deutet, wohl mit Rücksicht auf die gegenwärtigen politische „Großwetterlage“, politisch-korrekt nur das Kriegsziel einer der damaligen Kriegsparteien an:
    „Das Zarenreich hatte seine Aspirationen auf den Balkan als Einflusszone und Tor zum Bosporus und den Dardanellen nicht aufgegeben“.
    Alle übrigen „sahen sich herausgefordert“ oder „ihnen war ein Rivale erwachsen“ oder sie hatten „den Mund ziemlich weit aufgerissen“. Ziele und miteinander in Konflikt stehende Interessen hatten sie anscheinend keine. Aber dann schlug der verdammte „Zufallsfunke“ ein.
    Diese Art von Analyseverweigerung ist auch deshalb erstaunlich, weil der erste Weltkrieg 21 Jahre später – mit gewissen Abwandlungen – eine Neuauflage erlebte und zwar ohne „Zufallsfunken“.

    Wir waren vor einem halben Jahrhundert, als von einigen noch polit-ökonomisch statt „geopolitisch“ analysiert wurde, deutlich weiter im Verständnis unserer Welt. Der Enselsche/Münklersche Text ist gemessen daran geradezu irrational.

  12. Europa hatte damals einen politisch leicht verführbaren „Youth Bulge“ (junge Männer als Kanonenfutter), heute jedoch einen, nach sozialer Sicherheit suchenden, „Senior Bulge“ – das ist der wesentliche Unterschied. Bei den finanziellen und geistigen Aristokraten war antibürgerliches, viriles Denken schick, der Plebs sehnte sich nach der Lösung der Sozialen Frage, oftmals auch in Konfrontationsstellung zum Bürgertum, die Gesellschaft musste aufgrund der Industrialisierung ihre Machtverhältnisse neu strukturieren usw.

    Der Artikel beginnt mit „Der Besuch war eine Provokation.“ Guter erster Satz, bei dem aus heutiger Sicht jedoch folgendes mitschwingt: Für wen und aus welchen Gründen war es denn eine Provokation? Wenn man sich provoziert fühlt, dann misst man einem Ereignis Bedeutung zu, ansonsten wäre man nicht provoziert. Mir fällt es aus heutiger Perspektive schwer, warum so viele Menschen zu jener Zeit Dingen wie Thronfolgern, Uniformen und sonstigem nationalen oder monarchischem Klimbim eine solche Bedeutung zumaßen. (Vielleicht braucht es so etwas aber auch für den nationalen Zusammenhalt?)

    Es gab auch die anderen Intellektuellen, welche die damalige Seifenoper durchschauten. Leider flüchteten die wiederum gerne in sozialistische Utopien, was aus heutiger Sicht, nach den gemachten historischen Erfahrungen, einem genauso schwer fällt, geistig nachzuvollziehen. Und wieviel Prozent der heutigen Bevölkerung durchschauen unsere aktuelle Seifenoper? Mehr Leute als damals, möchte ich meinen. Es wird einem mittlerweile auch wirklich leicht gemacht.

    Waren die Menschen damals, was die Einschätzung großer gesellschaftlicher Entwicklungen angeht, einfach nur unwissend und deshalb naiv? Und die Türme von Elektroschrott, aufgetürmt bis in den Starlink-Himmel, wären dann der saure Klimbim der Jetztzeit? Letzteres ist jedoch, im Gegensatz zu den edlen Damenhüten des Fin de Siècle, wirklich bedrohlich.

  13. **…da warteten, entlang der Route verteilt, unter den jubelnden Zuschauern am Straßenrand bereits sechs junge Männer des serbischen Geheimbunds „Schwarze Hand“…**

    Das ist nicht korrekt, weder Gavrilo Princip noch die anderen am Attentat beteiligten jungen Männer waren Mitglieder der ´Schwarzen Hand´, sie waren Mitglieder von ´Mlada Bosna´ (junges Bosnien), eine Bewegung von kroatischen, serbischen und muslimischen Bosniern, die für die Beendigung der österreich-ungarischen Herrschaft eintraten und den Zusammenschluss der Südslawen in einen Staat zum Ziel hatten. Später nannte sich dieser Staat Jugoslawien (Südslawien), der Rest der Geschichte ist bekannt.

    Auch mich erinnern momentane Vorgänge an Entwicklungen vor dem 1. Weltkrieg. Ich sehe allerdings weder damals noch heute ein Zusammenspiel von Schlafwandlern. Das Attentat in Sarajewo barg keine Automatik zur Auslösung eines europäischen Krieges seitens D|Ö-U, diese hätten auch alternative Strategien für die Bewältigung der Julikrise 1914 wählen können. Z.B. ein gemäßigteres Ultimatum an Serbien, das dessen staatliche Souveränität nicht untergräbt sowie eine Verlängerung der Antwortfrist auf das Ultimatum, das von Serbien in den meisten Punkten akzeptiert wurde, bis auf den Eingriff in die staatliche Souveränität… oder die Annahme des britischen Vermittlungsvorschlags für die Einberufung einer Botschafterkonferenz zur Lösung der Krise…oder das Hinwirken Deutschlands, die Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu begrenzen. Mehr Kompromissbereitschaft, Diplomatie, Zurückhaltung der aggressiven Reaktion und Verzicht auf überzogene Forderungen hätten sicherlich dazu beigetragen, WK I zu verhindern. Es war das omnipotente Gefühl der Überlegenheit seitens D|Ö-U, das maßgeblich zu den Entwicklungen beitrug, die in den verheerenden Krieg mündeten. Das Attentat kam ihnen nicht ungelegen, ihre Herrschaft auf dem europäischen Kontinent zu fundamentieren. Sie waren davon überzeugt, einen schnellen Sieg zu erringen.

    Diese Symptome kommen mir in der aktuellen Situation sehr bekannt vor.

  14. Ein lohnender Artikel, den man heute natürlich gerade den politisch Verantwortlichen empfehlen möchte.

    Herr Ensel vergleicht die Gegenwart – im Gegensatz zu vielen anderen – ganz zutreffend eben nicht mit 1938/39, sondern mit 1914.

    Im Gegensatz zur Situation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fehlt heute ein eindeutig eroberungslüsterner Aggressor, denn Putins Krieg gegen die Ukraine ist eben nicht mit Hitlers Vereinnahmung von Österreich, der Tschechoslowakei und der Eroberung Polens vergleichbar. Dass die gängigen Medien dieses Narrativ trotzdem zu spinnen suchen, sollte den kühlen Beobachter nicht irritieren.

    Ein weiterer Unterschied ist die vergleichsweise geringe Ausprägung von Systemunterschieden, denn Russland ist eben nicht mehr sozialistisch. Auch 1914 spielten Systemunterschiede praktisch keine Rolle.

    Eine Analogie zu 1914 liegt zudem im Existieren eines viele Staaten umfassenden Bündnissystems, dessen Logik zu gehorchen, für eine unantastbare Staatsräson gehalten wird.

    Eine weitere Analogie zu 1914 liegt im auch heute bestehenden Zusammenhang der sog. „Thukydides-Falle“, also in der Erkenntnis eines bisher überlegenen Staates, dass die Zeit gegen ihn läuft und dass aufstrebende Konkurrenten (heute China und Russland) immer stärker werden. Damals meinte Großbritannien, dass die Zeit gegen das Empire läuft.

    Etwas zu kurz gekommen ist im Artikel allerdings die Tatsache, dass die einzelnen europäischen Mächte um 1914 in unterschiedlich starkem Maße auf Krieg hinarbeiteten. Österreich-Ungarn zielte – bestärkt von Deutschland und jener unseligen „Blankovollmacht“ – zwar auf einen regionalen Krieg gegen Serbien, aber andere Mächte zielten hingegen direkt auf den großen Krieg.

    So sind die durchaus auf diesen großen Krieg drängenden Aktivitäten von Poincare, dem unversöhnlich deutsch-feindlichen französischen Präsidenten des Jahres 1914, von Herrn Ensel ebenso wenig erwähnt worden, wie die ähnlich offensive Einstellung der russischen Führung (vom Zaren abgesehen). Auch die britische Haltung war keineswegs friedlich.

    Eine modernere Studie über die französische Politik beleuchtet diesen bislang unterschätzten Aspekt:
    https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/ploneimport_derivate_00010764/schmidt_aussenpolitik.pdf

    Nützlich auch dies:
    https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article224450426/Raymond-Poincare-Sein-gefaehrliches-Spiel-fuehrte-in-den-1-Weltkrieg.html

    Ein Zitat aus der oben verlinkten Studie von Stefan Schmidt von 2009:
    „Denn war es einerseits [für Frankreich] in innen- und außenpolitischer Hinsicht erforderlich, das Deutsche Reich mit der Kriegsschuld zu belasten und ihm im Zuge eines kalkulierten Manövers die Initiative im Rekurs auf die militärischen Machtmittel zu überlassen, so galt es andererseits sicherzustellen, daß Rußland zu einem umgehenden und uneingeschränkten Angriff auf das Deutsche Reich schritt.“
    (Seite 361)

    Entsprechend früh erfolgte dann ja auch die russische Mobilmachung!

    Weiter:
    „… so wird man nicht der in der historischen Forschung vorherrschenden These zustimmen können, daß Frankreich in der Julikrise 1914 ein »minor player« gewesen sei. Vielmehr erscheint der »forgotten belligerant« als ein Akteur von herausgehobener Bedeutung, der mit seinem Tun oder Unterlassen an entscheidenden Stellen dieser internationalen Krise dem
    Gang der Dinge eine Wendung zu geben vermochte, die sie nicht in einen friedlichen Ausgleich, sondern in die »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts« einmünden ließ“
    (Seite 363)

    … und …
    „Durch eine militärische Doktrin, die das Signum der offensive à outrance trug, war Frankreich seit 1911 in eine strategische Gesamtsituation geraten, in der es kaum mehr Raum für Konzessionen gab und die Sicherheit des Landes selbst von Machtschwankungen affiziert werden konnte, die prima facie unbedeutend anmuteten.“
    (S. 365)

    „Die genannten militärischen Sachzwänge konnten aber nur deshalb so wirkungsmächtig für Frankreichs Außenpolitik werden, weil seine politischen Entscheidungsträger eine militärische Auseinandersetzung in zunehmendem Maße als unvermeidlich erachteten.“
    (Seite 367)

    Wie sehr die russische Regierung des Zaren vor 1914 ebenfalls auf die militärische Karte setzte, haben ausgerechnet die Bolschewiki mit einigen enthüllenden Veröffentlichungen über den Imperialismus der Vorgängerregierung bereits vor langer Zeit bekannt gemacht.

    Auch Belgien mobilisierte nicht erst, wie öffentlich behauptet, am 30. Juli 1914, sondern vorher. Schon am 24. Juli 1914 sandte das belgische Außenministerium nämlich ein Rundschreiben an die Offiziere der belgischen Armee, worin zu lesen war, dass Belgien vollständig mobilisiert habe, d.h., dass die Mobilisiuerung begonnen hatte.

    Gewiss war man auch in Berlin und Wien mit Vorbereitungen beschäftigt und dachte in militärischen Kategorien, war jedoch eher getrieben und reagierend. Die deutsche Führung war sich nämlich sehr wohl bewusst, dass sie in einem großen europäischen Krieg mehr zu verlieren als zu gewinnen hatte. Jeder große Krieg schloss wegen der Einkreisung und der relativen Schwäche des Hauptverbündeten Österreich-Ungarn die Möglichkeit der Niederlage mit ein und damit die Zerschlagung bzw. Aufteilung des 1871 begründeten Reiches! Vor diesem Hintergrund stellte die Kriegspartei, die es ja in allen wichtigen europäischen Hauptstädten gab, in Berlin nur eine Minderheit dar, und Kaiser Wilhelm machte Urlaub in norwegischen Gewässern.

    Die von F. Fischer angeführten Quellen sind ja nicht falsch – wie können korrekt zitierte Quellen auch falsch sein – aber er beschäftigte sich eben zu wenig mit den ganz ähnlichen Quellen in Paris,
    St. Petersburg und London … !
    So viel zu des zu Unrecht gelobten Herrn Fischers Bedeutung!

  15. Man sollte den Zufall nicht mit Willkür verwechseln.
    Außerdem gibt es genau genommen keinen Zufall, sondern lediglich einen Grad der Hyperkomplexität, ab dem „unserer Verstand“ kapitulieren muss.
    Und da dies für die Meisten als demütigend empfunden wird, nennen sie es lieber „Zufall“.

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