Die Geschichte eines Wohnzimmers

Wohnzimmer, Screenshot, Here
Screenshot aus dem Trailer

Robert Zemeckis‘ aktueller Kinofilm ist ein Meisterwerk zwischen Raum und Zeit und menschlichen Tragödien und Freuden.

Wer hat noch nie darüber nachgedacht, was in den Räumen, in denen man lebt, in der Vergangenheit schon mal vorgegangen ist? Was haben die Mauern des eigenen Wohnzimmers schon gesehen? Vor diesem Gedanken erstarrt man in Ehrfurcht. Denn er macht einen bewusst, dass die eigene Existenz viel belangloser ist, als man es selbst sieht. Robert Zemeckis neuer Film Here greift dieses Gedankenspiel auf. Er erzählt die Geschichte einer Familie und der jüngeren US-Geschichte aus einem Wohnzimmer heraus.

Das Wohnzimmer und seine Vorgeschichte

Zemeckis‘ Film basiert auf einer Graphic Novel von Richard McGuire aus dem Jahr 2014. Der Regisseur kennt nur eine Kameraeinstellung in einem Wohnzimmer irgendwo an der Ostküste der USA. Aber auch in der Zeit davor, als es das Wohnzimmer an Ort und Stelle noch nicht gab. Der Zuschauer sieht eine urzeitliche Vegetation, Dinosaurier laufen vorbei, dann brennt die Erde, Eiszeit stellt sich ein. Indigene Menschen laufen durch die Natur, amerikanische Indianer. Ein erstes Haus entsteht, der uneheliche Sohn von Benjamin Franklin soll darin wohnen. Später wird man es durch das Fenster des Wohnzimmers sehen. Der Keller wird ausgehoben, das Haus errichtet. Dann steht das Wohnzimmer da, wo eben noch Wiese und Steine waren und der Zuschauer lernt mehrere Bewohner kennen, die im Laufe der Jahre im Haus lebten. Und die das Haus durchlebte.

All diese Ebenen werden nicht chronologisch vorgestellt, sondern ineinander verwoben, Zemeckis blendet hierzu immer wieder Rechtecke ein. Während der Rest der Leinwand die überraschende Schwangerschaft einer Frau in den Siebzigern zeigt, schneidet Zemeckis ein Rechteck aus und zeigt eine Indigene mit dickem Bauch. Schwanger war man an diesem Ort also bereits öfter.

1945 kaufen die Youngs das Haus. Die Familie stellt die Hauptprotagonisten des Films. Die Familie Young wächst heran, immer neue Kinder folgen. Zemeckis zeigt Familienfeiern und Lebensfreude, aber auch tiefe Einschnitte und Zäsuren. Die Einrichtung des Wohnzimmers wechselt ständig. Die Geschichte der Youngs erzählt Zemeckis linear. Wir sehen Richard heranwachsen, gespielt von Tom Hanks. Er gründet eine Familie, zusammen mit den Eltern leben alle unter einem Dach. Sehr zum Leidwesen seiner Gattin. Die Ehe kommt und nach vielen Jahren verlieren sich die Eheleute.

Im Zeitraffer erleben wir eine ganz gewöhnliche Familiengeschichte, die Eltern altern, werden senil, gebrechlich, immobil. Sterben. Und Richard, eben noch ein Junge, kommt ins gesetzte Alter und nimmt die Rolle ein, die sein Vater genau an dieser Stelle schon einnahm. Man könnte sagen, dass es in Here um gar nichts geht. Das wäre nicht untertrieben. Aber wie detailliert und liebevoll Robert Zemeckis dieses Nichts umsetzt, lässt einem nicht mehr die Freiheit wegzusehen.

Kammerspiel des modernen menschlichen Lebens

Denn dieses Nichts ist das, was unser aller Leben ausmacht. Wenn wir den Youngs durch die Zeiten zusehen, begleiten wir uns selbst. Zemeckis inszeniert ein Kammerspiel von besonderer Güte. Anders als klassische Kammerspiele fixiert er lediglich den Ort, lässt ihn aber in so vielen Zeiten und Epochen auferstehen, dass die Kammer wie die ganze Welt wirkt. Und in dieser Weltenkammer spielt sich das Leben moderner Zeitgenossen ab. So angeordnet zeigt Zemeckis auf, wie klein und fragil unsere Art tatsächlich lebt. Und wie banal und wenig einmalig. Im Wohnzimmer wiederholen sich immer wieder Ereignisse unter anderen Aspekten. Exklusiv ist das Leben des Einzelnen nicht. Es ist immer nur eine Abwandlung von bereits oft dagewesenen Ereignissen. Unsere Sorgen, mit denen wir im Alltag oft alleine sind, treten dadurch als Sorgen hervor, die zu allen Zeiten Menschen plagten.

Zemeckis hat also einen Film geschaffen, in dem nichts passiert. Jedenfalls nichts Außergewöhnliches. Nur das Leben. Und er zeigt es still. Aus einem Blickwinkel. Die Kamera steht fest an einer Stelle, immer derselbe Winkel. Im Gewöhnlichen und Stinknormalen betont er das Besondere. Wir sind mehr als wir alleine. Und nur im historischen Kontext finden wir zu uns selbst, können wir unser vereinzeltes Leben besser begreifen und uns als Teil einer Gemeinschaft sehen.

Here ist insofern eine Absage an den ordinären Individualismus. Zemeckis hat kein flammendes Plädoyer für das historische Erbe geschrieben, dazu ist der Film viel zu intelligent inszeniert. Er wirkt still, fast zögerlich. Langsam begreift der Zuschauer: An der Stelle, an der ich im Kino sitze, geschahen unausgesprochene Dinge. Dinge, die nicht von Historikern erfasst wurden, aber Menschen beschäftigten. An jedem Ort ist man mit jenen verbunden, die vorher schon hier waren. Die Here waren.

Gäste im eigenen Wohnzimmer

Unverkennbar ist der Film ein Alterswerk des Regisseurs. Denn die Vergänglichkeit wird zur Konstanten erklärt. Wo andere Filme beim Kuss der Hauptakteure abblenden und nicht weiterverfolgen, ob beide eine glückliche Zeit haben werden oder nicht, präsentiert Zemeckis das Happy End schon mitten im Film. Dann gibt es ein Bad End und doch wieder ein Happy End. Liebe und Überschwang zeigen sich, aber das Glück währt nicht ewig. Es ist eine Absage an die Versprechungen des Zeitgeistes. Die tun gerne so, als müsse man das Glück nur packen, dann bleibt es einen erhalten. In Here vergeht alles: Einstiges Glück, Kindheit, menschliches Leben. Und nicht mal das Sofa bleibt ewig. Alles ist im Wechsel.

Zemeckis zeigt seine Akteure zwar als Hausbesitzer. Aber je weiter der Film voranschreitet, desto klarer deutet sich an, dass er sie nur als Gäste in den eigenen vier Wänden sieht. Das Haus, ist es erstmal errichtet, überdauert Möbel und Menschen. In McGuires Graphic Novel vergeht aber sogar das Haus. Er zeigt es im Jahre 2113 auf dem Grund eines Meeres. Bei Zemeckis haben wenigstens die Wände noch Bestand, denn so weit geht er in seinem Film nicht.

Es wird viel über wegweisende, teils politische Filme gesprochen. Here möchte nicht politisch sein, durchzieht aber mit den Youngs und denen, die vor ihnen da waren, durch die amerikanische Geschichte und damit ebenfalls die amerikanische Politik. Sie sind die kleinen Leute, über die kaum ein Historiker spricht, die aber oft mehr über den Zeitgeist vergangener Tage zu berichten wüssten, als ehemalige Bundeskanzlerinnen, die ihre Memoiren präsentieren. Mit Here ist Zemeckis ein Meisterwerk gelungen. Ein ruhiges und nicht grelles zudem. Das Kino das heute noch kann, macht Hoffnung. Es vermag noch immer Geschichten zu erzählen, wie sie noch nie erzählt wurden. Und dazu braucht es keinen Marvel- oder DC-Kosmos.

Ähnliche Beiträge:

6 Kommentare

  1. Die Grundideen sind nicht neu. Es hat schon ein paar Filme gegeben, die diesen Ansatz gewählt haben. Was nicht gegen ihn spricht, sondern nur einen ästhetisch-historischen Zusammenhang andeutet.

  2. Die eigene, nicht abwenden zu könnende Vergänglich- und zumeist auch Belanglosigkeit so eindringlich im Kino vor Augen gehalten zu bekommen? Für mich und damit bin ich sicher nicht allein, beinahe unerträglich. In Hinblick auf so manches ist ein Bewusstsein ziemlich Sch…. Der Mensch dürfte wohl die einzige Spezies auf diesem Planeten sein, die um ihre Vergänglichkeit weiß. Auch wenn es mich reizt, ob ich mit den Film ansehe werde ich wohl spontan entscheiden. Mit flauen Grüßen…

  3. Ich sehe öfters wieder, in echtem 3D aus meinem Wohnzimmerfenster heraus und den anderen gegenüber in der Belanglosigkeit des Lebens einen Augenblick zu. Ach ja, so so, sieh da. Dem Banalen wohnt ein Zauber inne den es auf dem Flachbildschirm und auf der Leinwand so nie gab.
    Der Augenblick, das Gegenwärtige und Unmittelbare. Here heißt da zu sein. Jetzt.

  4. Angesichts des Bildes da oben kam mir der Gedanke, dass jetzt endlich Robertos Interview-Situation möbliert werden soll. Man fängt gerade damit an …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert