Clausewitz lesen und über den Krieg nachdenken

russisches Militär, vor einem Gemälde von Clausewitz
QxaZQprV, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Einige Beobachter mögen gedacht haben, dass mit dem Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion im Jahr 1991 der Krieg zumindest für Europa kein großes Problem mehr darstellen würde.

Natürlich würde es weiterhin Konflikte geben (wie wir ja gesehen haben: Mali, Syrien, Afghanistan), aber weit weg von zu Hause – und für uns von geringer Bedeutung. Das war der Traum von einer friedlichen Welt. Zumindest für die Länder, die das Glück hatten, Führer aus dem “Kreis der Vernunft” zu haben. Mit anderen Worten: Liberale, die die Fortsetzung und Beschleunigung der Globalisierung befürworteten – hin zu einer immer einheitlicheren und reibungsloseren Welt, trotz einiger unvermeidlicher Unebenheiten auf dem Weg. Das waren die Aussichten.

Man fragt sich, ob dies ein völliger Irrtum war. Mit anderen Worten: War es nicht gerade der Kalte Krieg, der heiße Kriege verhindert hat? Der Krieg in der Ukraine im Jahr 2022 zeigt, dass Europa vor Kriegen nicht gefeit ist. Darüber hinaus haben wir die Kriege in Jugoslawien und die Bombardierung Serbiens durch die NATO schnell vergessen – eine Aktion, die zu schnell als einfache “Korrektur” eines Landes angesehen wurde, das selbstgefällig gegenüber Nationalisten “aus einer anderen Zeit” war. Wir alle kennen die Formel, die die herrschende Kaste allen Rebellen einer neuen Weltordnung, die sowohl geopolitisch als auch moralisch ist, verkündet: “Wir sind nicht mehr im Mittelalter!” Was so viel bedeutet wie: “Ihr irrt euch, wenn ihr an die Existenz anthropologischer Konstanten glaubt.”

Und doch: Wenn man die Realität verdrängt, kommt sie im Galopp zurück. Der Krieg ist zurück – in der Ukraine; und seine wirtschaftlichen Folgen – zum Schaden Europas – machen diese Realität empfindlicher denn je. Aber seit 2015 (die Anschläge auf Charlie Hebdo und Bataclan, dann Nizza usw.) hat der Krieg neue, außerstaatliche Formen angenommen. Es handelt sich um Partisanenkriege, um Terrorismus, aber auch um Informationskriege, technologische Kriege und industrielle Kriege. Diese Kriege werden nicht immer erklärt, aber sie sind dennoch sehr real. Die eine Seite will die andere schwächen und in die Knie zwingen. Mit allen Mitteln, auch mit legalen – die Schaffung von Gesetzen, zum Beispiel in der internationalen Arena, ist ebenfalls eine Form des Krieges. Beispiel: Krieg oder zumindest Sanktionen gegen ein Land, das “undemokratisch” und nicht “LGBT-freundlich” ist.

Wir entdecken eine Konstante in der Geschichte der Völker und Zivilisationen wieder: Die Welt ist in Konflikt. Wie können wir das vergessen haben? Wie können unsere Politiker diese offensichtliche Tatsache immer noch ignorieren? Und wie kann es sein, dass Macrons außenpolitische Reden (z. B. auf der Website Le grand continent) so erschreckend unbedeutend sind und seine Aktionen so entsetzlich oder kontraproduktiv? Es sei denn, diese besänftigenden und zugleich beunruhigenden Reden sind ein weiteres Mittel, um gegen die Völker der Welt Krieg zu führen, um ihnen zu verheimlichen, dass es tatsächlich ein oligarchisches Projekt der Global Governance gibt – und dass es nur eine mögliche internationale Politik gibt.

Clausewitz’ “Formel

Das Gespenst des Krieges schwebt über den Europäern. Ein Kriegsgebiet breitet sich immer aus. Ein örtlich begrenzter Krieg bleibt nie garantiert örtlich begrenzt. Es ist an der Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, was Clausewitz uns über den Krieg gesagt hat. Zunächst einmal dürfen wir das Projekt von Clausewitz (1780-1831) nicht missverstehen. Er hat keine “Doktrin zum Gewinnen von Kriegen” vorgelegt. Nicht einmal für die Kriege seiner Zeit. Vielmehr lieferte Clausewitz eine Reihe von Beobachtungslektionen. Das ist nicht dasselbe. Es waren Lektionen zum Verständnis verschiedener Situationen. Sein Ziel ist es, uns zu zeigen, was einen Kriegskonflikt im Verhältnis zu anderen sozio-historischen Phänomenen kennzeichnet. Was ist das Spezifische des Krieges am menschlichen Handeln? Wie können wir den Krieg kennen, und was gibt es über den Krieg zu wissen? Abgesehen von der Vielfalt der Kriege müssen wir feststellen, was allen Kriegen gemeinsam ist. Dies ist ein ebenso wichtiges Unterfangen wie der Versuch, das Wesen der Wirtschaft oder das Wesen der Politik zu bestimmen.

Ein Großteil der Diskussion dreht sich um das, was Raymond Aron die “Formel” von Clausewitz nannte: “Der Krieg ist eine einfache Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln”. Einige Politikwissenschaftler halten diese Formel für zu brutal und haben vorgeschlagen, sie entweder umzukehren oder zu korrigieren, auch auf die Gefahr hin, ihr ihre ganze Kraft zu nehmen. Oder eine Pirouette zu drehen. Was wäre, wenn die Frage nicht darin bestünde, diese Formel zu entkräften, sondern sie richtig zu lesen und ihre volle Erklärungskraft zu verstehen?

Krieg als Ausdruck von Politik? Natürlich, aber welche Art von Politik? Nach Clausewitz ist der Krieg sowohl ein Mittel der Politik als auch eine Form der Politik. Eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ein Werkzeug und ein neues Gewand. Sollten wir also die Formel verstehen: “mit anderen Mitteln [als politischen Mitteln]”? Oder “mit anderen Mitteln [als den Mitteln des Friedens]”? Daraus ergibt sich die Frage: Sind alle indirekt politischen Mittel zur Veränderung eines Kräfteverhältnisses, Krieg? Dieselbe Frage gilt für alle indirekt friedlichen Mittel, d.h. solche, die auf (finanziellem, moralischem usw.) Zwang beruhen: Technologie, Massenmobilisierung, Propaganda, Rauschmittel, Destabilisierung usw. Die einfache Definition von Clausewitz eröffnet ohne weiteres die Möglichkeit verschiedener Interpretationen.

Ist Krieg also nur eine Konfrontation zwischen zwei Armeen, oder umfasst er alle Mittel – diplomatische, ideologische, moralische, wirtschaftliche –, die darauf abzielen, einen Gegner zu unterwerfen? Krieg kann also – in einer eingeschränkten Version – die alleinige Konfrontation zwischen Armeen sein, oder – in einer weit gefassten Version – alle Mittel, ob militärisch oder anderweitig, die darauf abzielen, einen Gegner unserem Willen zu unterwerfen und das Machtgleichgewicht zu unseren Gunsten zu verändern. Es gibt also zwei Definitionen des Krieges, eine eingeschränkte und eine erweiterte. Krieg ist: a) nur dann, wenn Waffen sprechen; oder b) wenn alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um Gewalt auf den Gegner auszuüben und ihn zum Einlenken zu bringen, ohne dass notwendigerweise Armeen zum Einsatz kommen. In beiden Definitionen setzt der Krieg einen Interessenkonflikt zwischen zwei Mächten voraus, sowie ein Bewusstsein für diesen Konflikt, zumindest auf einer Seite, und ein Gefühl der Feindseligkeit, auch wenn es ungleichmäßig verteilt ist. Mit anderen Worten: Krieg ist eine Frage der Politik als Mittel der Konfliktbewältigung.

Krieg als eine Form der Öffentlichkeitsarbeit

Eine der Schwierigkeiten bei der Lektüre von Clausewitz ist genau dies: Obwohl er “sowohl Stratege als auch Denker der Politik” (Éric Weil) ist, definiert er Politik nicht immer auf dieselbe Weise. Sie ist “die Intelligenz des personifizierten Staates” (Über den Krieg, Buch I, Kap. 1), sagt Clausewitz. Sie ist auch das, was “alle Interessen der ganzen Gemeinschaft” vertritt (Buch VIII, Kap. 6). Diese beiden Definitionen schließen sich nicht gegenseitig aus – zu verstehen, wo die Interessen liegen, um sie zu verteidigen; die beiden Sätze von Clausewitz ergänzen sich. Um es in modernen Worten zu formulieren: Politik ist die Verfolgung der Interessen des Staates als Vertreter der Nation.

Ist der Krieg also ausschließlich das Ergebnis der Politik als rationale Analyse der Interessen der Nation? Nein. Dies ist die Antwort, die Clausewitz vorschlägt. Er schreibt: “Der Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der öffentlichen Beziehungen unter Hinzufügung anderer Mittel” (Über den Krieg, Buch VIII, Kap. 6). Das bedeutet, dass der Krieg immer eine politische Dimension hat, aber nicht immer das Ergebnis einer politischen Entscheidung eines historischen Subjekts ist. Der Krieg entzieht sich teilweise der Dialektik zwischen subjektloser Wahl und Handlung (Descartes’ Dialektik). Er ist eine Interaktion. Er ist ein Modus der Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb können wir, wenn wir die Kette der Ereignisse, die zu einem Krieg führen, untersuchen, nur selten einer einzigen Seite die volle Verantwortung für einen Konflikt zuschreiben. Krieg entsteht, wenn beide Akteure ihn wollen. Wenn eine Seite den Krieg einfach akzeptiert (andernfalls bedeutet es Kapitulation), gibt es auch Krieg. Aber kann es einen Krieg geben, wenn keiner der Protagonisten ihn will? Das ist die Hypothese einer ungewollten fatalen Kette von Ereignissen. Clausewitz betrachtet beide Szenarien: den geplanten und angenommenen Krieg und den Krieg, der sich uns teilweise entzieht.

Ein Beispiel für den rationalen Clausewitz ist die oben bereits zitierte “Formel”. Der rationale Clausewitz ist auch derjenige, der sagt: “Die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und das Mittel kann nicht unabhängig vom Zweck gedacht werden.” Aber das Irrationale kommt ins Spiel, wenn Clausewitz schreibt: “Beginnen wir nicht mit einer schwerfälligen, pedantischen Definition des Krieges, sondern beschränken wir uns auf sein Wesen, auf den Zweikampf. Der Krieg ist nichts anderes als ein Zweikampf in größerem Maßstab.” In gewissem Sinne ist dies eine zweite “Formel”, eine andere als “Krieg, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln”. Eine zweite “Formel”, die uns vom Rationalen wegführt. Jeder weiß, dass Duelle oft eine Frage der Ehre sind, viel mehr als eine Frage des Interesses oder der Rationalität. Und wenn das Duell auf die Ebene organisierter Gruppen gehoben wird – vom Duellum zum Bellum –, bleibt es eine Interaktion und eine Beziehung, die auch ihren Anteil an Irrationalität hat. “Ich bin nicht mein eigener Herr, denn er [der Gegner] diktiert mir sein Gesetz, so wie das meine ihm diktiert”, schreibt Clausewitz. Wie Freud es ausdrückte: “Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus”.

Krieg ist kein Zufall

Der Krieg ist also ein Wille, der auf “einen Gegenstand, der lebt und reagiert”, angewandt wird. Clausewitz bringt es auf den Punkt: “Der Krieg ist eine Form der menschlichen Beziehungen. Der Beweis für den Beziehungscharakter des Krieges ist, dass es zwei braucht, um Gewalt anzuwenden. Wenn eine der angegriffenen Seiten auf Gewalt mit Gewaltlosigkeit antwortet – wie es Dänemark 1940 gegen Deutschland tat –, gibt es keinen Krieg (wohl aber eine Besetzung und Unterwerfung des Landes. Die Nation ist also besiegt und riskiert ihren politischen Untergang). Ein Krieg kann manchmal vermieden werden, aber wenn ein Land Sie zum Feind erklärt, sind Sie sein Feind, ob Sie es wollen oder nicht. Wir sehen also, dass Clausewitz an Rationalität denkt und auf Rationalität hofft. Aber er zieht auch die Möglichkeit der Irrationalität in Betracht. Je nach Zitat verschiebt sich der Schwerpunkt von einem Register zum anderen. Bei Clausewitz geht das Rationale dem Irrationalen voraus. Aber es verdrängt es nicht.

Wie wir bereits gesehen haben, ist es manchmal fraglich, ob ein Krieg existiert, ohne dass die Protagonisten ihn wirklich wollen. Wir müssen präziser werden. Krieg ist immer das Ergebnis von Entscheidungen: die des Angreifers und die des Angegriffenen, der sich entscheidet, sich zu verteidigen (oder auch nicht, wie wir 1940 in Dänemark gesehen haben). Die Vorstellung vom Krieg als einer einfachen Kette von Ereignissen hat ihre Grenzen. In Les Responsables de la Seconde Guerre mondiale erklärt Paul Rassinier, dass es keine Beweise dafür gibt, dass Hitler 1939 einen Krieg in Europa wollte, weil er glaubte, den Danziger Korridor ohne Krieg zurückgewinnen zu können, das rumänische Erdöl ohne Krieg kontrollieren zu können, sogar die Sowjetunion ohne Krieg zum Einsturz bringen zu können, usw. Abgesehen davon, dass diese These angesichts des Glaubens Hitlers an die “virilisierenden” Tugenden des Krieges (eine Form des “freien und unverfälschten Wettbewerbs” zwischen den Völkern) sehr fragil erscheint, ist es ganz offensichtlich, dass man seinen Friedenswillen nicht mit der Annahme begründen kann, dass alle vor seinen Forderungen kapitulieren werden.

Der relationale Charakter der Kriegsführung, wie er von Clausewitz in Kapitel 6 von Buch VIII erörtert wird, legt jedoch nahe, dass der Zufall – und damit meinen wir den Krieg als Zufall – nicht unbedingt unmöglich ist. Die Beziehung hat Vorrang vor den Subjekten der Beziehung. Auf der Grundlage eines Missverständnisses kann alles schiefgehen. Das heißt aber nicht, dass es nicht durchaus erkennbare Verantwortlichkeiten beim Ausbruch eines Krieges gibt, auch wenn die Verantwortlichen manchmal im Nebel von widersprüchlichen oder ungenauen Hypothesen gehandelt oder entschieden haben. Nehmen wir das Beispiel des kaiserlichen Deutschlands im Jahr 1914: Es wurde zu Recht behauptet, Wilhelm II. habe keinen Krieg gewollt. Vielleicht wollte er das nicht. Psychologische Realität. Aber das Wesentliche ist, dass er sich dennoch entschloss, dem Druck des Generalstabs nachzugeben, insbesondere indem er dem Einmarsch in Belgien zustimmte, obwohl das Land den Status der internationalen Neutralität hatte.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Unfälle können Entscheidungen beeinflussen, aber ein Krieg entsteht nicht zufällig. Ein anderes, brisanteres Beispiel. Stellen wir uns vor, Putin hätte geglaubt, dass die ukrainische Regierung nach dem Start der “Sonderoperation” sofort gestürzt würde und mit Russland in einer Weise verhandeln würde, die Putins Plänen entgegenkäme – vorausgesetzt, er hätte sie ganz klar vor Augen gehabt. Es würde keinen Krieg geben. Das ist wahr. Aber das war nur eine Hypothese, und sie hat sich nicht bewahrheitet: Selenskis Regierung ist nicht zusammengebrochen, aus welchem Grund auch immer. Putin ist also das Risiko eines Krieges eingegangen. Er ist also verantwortlich. Andererseits ist er nicht der einzige Verantwortliche, denn es ist wahr, dass die pro-russische Bevölkerung im Donbass seit 2014 bombardiert wurde und dass die Minsker Vereinbarungen (2014) nicht eingehalten wurden. Noch einmal. Es gibt ein Element des Zufalls im Krieg, aber Krieg ist kein Zufall.

Der Begriff des totalen Krieges

Clausewitz’ Definition des Krieges als “Fortsetzung politischer Beziehungen” ist nicht nur an sich aufschlussreich, weil sie etwas über den dialogischen Charakter des Krieges aussagt, sondern auch, weil sie etwas über Clausewitz’ Auffassung von Politik aussagt. Politik ist Handel zwischen Staaten und Nationen. Handel ist natürlich nicht nur der Handel mit Waren und Geld. Er ist auch der Handel mit Ideen. Politik ist die Beziehung zwischen den Nationen, die durch die Absichten eines jeden einzelnen und durch gegenseitige Wechselwirkungen bestimmt wird. Die Innenpolitik ist dasselbe, nur dass sie die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen betrifft. Für Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen als friedlichen Mitteln. Aber gerade weil er eine Fortsetzung der Politik ist, lässt er die Politik nicht verschwinden, ebenso wenig wie die anderen Mittel der Politik.

Der Krieg absorbiert nicht die gesamte Politik. “Wir sagen, dass diese neuen Mittel zu ihnen [den friedlichen Mitteln] hinzukommen, um gleichzeitig zu bekräftigen, dass der Krieg selbst diese politischen Beziehungen nicht zum Erlöschen bringt, dass er sie nicht in etwas völlig anderes verwandelt, sondern dass sie in ihrem Wesen weiterbestehen, ganz gleich, welche Mittel sie verwenden.” Aus diesem Grund schließt der Krieg parallele Verhandlungen nicht aus. Raymond Aron (Penser la guerre, Clausewitz, Bd. 1, 1989, S. 180) schreibt: “Wir führen eine Schlacht, anstatt Noten zu senden, aber wir senden weiterhin Noten oder das Äquivalent von Noten, selbst wenn wir eine Schlacht führen.” Der Begriff des totalen Krieges (Erich Ludendorff, 1916) bringt die Idee zum Ausdruck, dass Krieg mehr ist als bewaffnete Gewalt. Er ist die Mobilisierung aller Kräfte, einschließlich des Imaginären (Idealisierung des Selbst, Dämonisierung des Feindes). Es ist die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, einschließlich der Alten und Kinder.

Wenn Nazideutschland 1944 die Renten seiner Bürger erhöhte, dann nicht, weil es die Priorität des Militärs unterschätzte, sondern weil es glaubte, dass die Nachhut durchhalten müsse, wenn die Front nicht zusammenbrechen sollte. Alles und jeden mobilisieren: Deshalb ist Strategie kein rein militärisches Konzept, sondern das Management aller wirtschaftlichen, demografischen, politischen und technologischen Aspekte, die zum Sieg führen können, wie General André Beaufre erklärt (Introduction à la stratégie, Pluriel-Fayard, 2012). Der Krieg umfasst bewaffnete Gewalt und ihre Anwendung, geht aber darüber hinaus und schließt auch friedliche Mittel ein.

Sowohl Frieden als auch Krieg sind eine Frage der politischen Beziehungen. Diese Beziehungen sind Machtbeziehungen, aber auch asymmetrische Beziehungen zwischen Weltanschauungen. Als Napoleon 1813 zu Metternich sagte, er könne nicht besiegt nach Frankreich zurückkehren, anders als legitime Herrscher, die besiegt in ihr Land zurückkehren können, ohne ihren Thron zu verlieren, ist dies eine subjektive Wahrheit, die zu einer objektiven Wahrheit wird. Da Napoleon selbst sagte, dass er gegenüber den Franzosen zu geschwächt wäre, wenn er die Niederlage akzeptierte, wollten die Alliierten (die damaligen Feinde Frankreichs) nicht mit einem geschwächten Herrscher verhandeln, der die Dauer des Friedens nicht zu den von ihnen erzielten Bedingungen garantieren würde.

Napoleons Argumentation ging nach hinten los. Wie wir sehen, überschneidet sich die rationale Dimension von Krieg und Politik, die auf Kalkül beruht, immer mit einer irrationalen Dimension, die auf Subjektivität beruht. Damit es aber Krieg und nicht Stillstand (Bürgerkrieg, gewaltsamer Unfrieden) oder Terrorismus gibt, muss es organisierte Gruppen, Nationen oder Staatenbünde geben – aber keine kurzlebigen Stämme. In diesem Sinne bringt das postmoderne Zeitalter Konflikte mit sich, die keine Kriege im traditionellen Sinne sein werden – und wahrscheinlich immer weniger –, die aber dennoch sehr gewalttätig sein werden und sich einer konventionellen Beilegung durch Verhandlungen entziehen: Die Aussicht auf ein zunehmendes Chaos.

 

Dieser Artikel erschien erstmals in der französischen Zeitschrift Éléments. Danach veröffentlichte ihn das Postil Magazine auf Englisch. Mit freundlicher Genehmigung beiden Magazine präsentieren wir die deutsche (teils maschinelle) Übersetzung.

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24 Kommentare

  1. Na ja bis auf die Theorie mit dem “örtlich begrenzten Krieg”, der nie an einem Ort örtlich begrenzt bleibt gehe ich da mit dem Autor dieser Zeilen mit.

    Gerade aus unserer deutschen, spätmittelalterlichen Geschichte von vor über 500 Jahren sollten wir es besser wissen:

    Der furchtbare, alles zerstörende und vernichtende, 30 jährige Krieg fand doch vorwiegend örtlich begrenzt auf dem Gebiet des damaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation statt. 🤔

    Oder irre ich da? 🤔

    Gruß Bernie

  2. “Technologie, Massenmobilisierung, Propaganda, Rauschmittel, Destabilisierung”

    Schweden muß jetzt das eigene Militär im Landesinneren gegen die “Maras” einsetzen. Vielleicht hätten die mal die Stridsvagn 122 auf ihren eigenen Kreuzungen eingesetzt statt in der Ostkokaine!

    1. Vielleicht hätten die mal die Stridsvagn 122 auf ihren eigenen Kreuzungen eingesetzt statt in der Ostkokaine!

      Das Gerät ist doch gar nicht Häuserkampf tauglich. Es wird doch eher in der Ukraine gebraucht, dem derzeitigen Versuchtslabor des Westes. Um herauszufinden inwieweit so ein Panzer gegen fussische Panzer bestehen kann, daraus wird dann ein neues System hervorgehen. Das dann besser geeignet ist.

      Alles andere macht einfach kein Sinn. Nur ein paar gleiche Lose eines Mitlitärgerätes in ein Krieg zu schicken. Bringt im Endeffekt nichts da soviele unterschiedliche Systeme inzwischen vorhanden sind, das niemand dafür eine funktionierende Instandsetzung, Versorgung mit Ersatzteilen und Hilfsmitteln auf Dauer aufrecht halten kann. Es fällt doch auf wie einerseits der Westen altes ertüchtiges Kriegsgerät in die Ukraine schickt, moderes vorhält oder nur spärlich schickt. Anderseits die Industrie schon an Nachfolgesysteme forscht und entwickelt, die zur Zeit so freizügig in die Konfliktzone verbracht werden.

      Kosovo, Irak, Afghanistan usw. waren / sind übrigens auch solche Versuchsfelder.

      1. Das Gerät Strv122 ist mit Räumschild PSO geeignet, für eine Show of Force im Urbanen Umfeld reicht es aus, zumal der Antrieb gegen Brandsätze geschützt ist. Zum Häuserkampf sollte die 120mm Kanone natürlich kürzer sein, da haste recht!

    2. @Tanz der Teufel
      “Schweden muß jetzt das eigene Militär im Landesinneren gegen die „Maras“ einsetzen”

      Stimmt, nicht geklärt scheint zu sein ob es sich bei den Waffen und Sprengstoffen der Banden um Rückläufer aus der Ukraine handeln könnte

  3. In einer globalisierten Welt ist jede staatlich finanzierte Marktverzerrung eine Form von Krieg.
    Die Rettung von Banken und Konzernen ist ein Krieg gegen alle Marktteilnehmer der Welt.
    Marktwirtschaft ohne Unternehmerrisiko ist Krieg.

    Entweder die Marktwirtschaft funktioniert, was sie nicht kann, oder die Staaten der Welt lassen Wirtschaftszweige ohne Massennachfrage und Güter frei von Gebrauchswert den Bach runtergehen.
    Halbliberal “funktioniert” nur auf Kosten anderer.

    1. “In einer globalisierten Welt ist jede staatlich finanzierte Marktverzerrung eine Form von Krieg.”

      Das kann man auch anders sehen: In einer globalisierten Welt ist jeder Vertrag, der sich gegen lokale Interessen wendet, Krieg.

      Was hilft die Freiheit der Starken, wenn es keine Menschenwürde, keinen Ausgleich für einen nicht mehr existenten Naturzustand gibt und so große Teile der Bevölkerung nie auch nur in die Nähe einer Chancengleichheit kommen?

      Was wäre das für ein “liberales” Deutschland, wenn es keine staatlichen finanzierten Schulen gäbe, sondern nur die ausreichend Reichen ihre Kinder ausbilden könnten?

      Es fragt sich halt, ob man lieber Menschenfreund ist oder lieber dem Drängen der Starken und der von ihnen propagierten totalen Freiheit nachgibt. Im Fall der Ukraine also, ob man der Nato-Erzählung, dass jeder Staat das freie Recht hat, einem Militärbündnis beizutreten, folgt – oder ob Anliegerstaaten auch was zu sagen haben, weil sie sich übergangen und ihre Sicherheit gefährdet sehen.

  4. Einige Beobachter mögen gedacht haben

    Ja, in den Echokammern der Elfenbeintürme da mag man so manches gedacht haben und bei den angeschlossen Funk- und Medienanstalten auch. Aber da mögen einige wohl auch mal Lack zum Frühstück saufen… Wie sagte bereits Gerd Müller? Wenn´s denkst, ist eh’ zu spät…

    aber weit weg von zu Hause – und für uns von geringer Bedeutung.

    Getreu des alten Spaziergängers Goethe:

    Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn – und Feiertagen
    Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
    Wenn hinten, weit, in der Türkei,
    Die Völker aufeinander schlagen.

    Oder wat? „Weit weg von zu Hause“ – typisch bourgeoise Selbstzufrieden- und Selbstvergessenheit. Für „uns“ ist das von geringer Bedeutung. Die Vertriebenen, die hierher kommen sind ja prima Putzhilfen und Pizzalieferanten für „uns“ wertvollen gesellschaftlichen Leistungsträger, „uns“ Säulen der Gesellschaft. Dass sie für die Harzer, Unterschichtler und Co. KG angesichts steigender Mieten und Arbeitsplatzverluste sehr wohl von großer Bedeutung sind – ach, geschenkt.

    Das war der Traum von einer friedlichen Welt. Zumindest für die Länder, die das Glück hatten, Führer aus dem „Kreis der Vernunft“ zu haben.

    Ne, das war der alte Albdruck der imperialen, gottgefügten, vom Westen bestimmten Ordnung. Es gibt die eine wertvolle Gruppe im Zentrum (oder: den Zentren) – heute würde man vielleicht die „goldene Milliarde“ oder wie der Autor „Kreis der Vernunft“ sagen – und in der Peripherie schuften, rackern und morden diejenigen, die nicht so vernünftig sind, die Borrellschen „Dschungelbewohner“, die „halt gerne schnackseln“ (Gloria von Uber und Taxis). Man kennt diesen „Traum“, ist alles schon mal da gewesen.

    Ach und hören Sie bitte auf diese Leute als „Liberale“ zu bezeichnen, das ist genauso schief und falsch wie der Sprech der Gruppe, die hier Antideutsche, Kautskyaner und Wokisten unter „Linke“ packt.

    Man fragt sich, ob dies ein völliger Irrtum war.

    Alter!

    War es nicht gerade der Kalte Krieg, der heiße Kriege verhindert hat? Der Krieg in der Ukraine im Jahr 2022 zeigt, dass Europa vor Kriegen nicht gefeit ist.

    Heiße Kriege zwischen den wertvollen Menschen, nicht wahr? Den Angehörigen der „goldenen Milliarde“ im Garten Eden? Wie viele wurden in Vietnam hingeschlachtet, Herr Autor? Wie viele in Äthiopien? Wie war das nochmals mit Biafra und Afghanistan, mit Korea und Golfkrieg No. 1? Oder waren diese Krieg nicht heiß, sondern bloß „wohltemperiert“, Umluftstufe 3, mit etwas Platz zum Aufdrehen? Aber immerhin, das fröhliche Waffentesten im Juni 1967 und dann nochmals zu Jom Kippur ’73, das wurde schnell unterbunden. Sie sehen, die Weltmächte haben Kriege verhindert…

    Und dann Europa selbst – ist Krieg eigentlich so eine Schwarz-Weiß-Geschichte? Entweder da oder nicht? Gibt es da nicht „50 shades of killing“ dazwischen? Was ist beispielsweise mit Bürgerkriegen? Nordirland, ever heard of? Waren nur 3000 Leute, eben alter Kolonialkrieg und ohnehin am Ende des Kontinents, oder? Die Kurden – ach die Türkei zählt ja nicht zu Europa, ich vergaß. Die ganzen anderen Konflikte, die im Fahrwasser des Auflösungsprozesses der Sowjetunion geschahen, waren „uns“ ja auch wumpe. Sochumi, Baku, in den 20ern das „Paris des Ostens“ genannt, und Tiraspol liegen doch bereits in der Savanne…

    Darüber hinaus haben wir die Kriege in Jugoslawien und die Bombardierung Serbiens durch die NATO schnell vergessen – eine Aktion, die zu schnell als einfache „Korrektur“ eines Landes angesehen wurde, das selbstgefällig gegenüber Nationalisten „aus einer anderen Zeit“ war.

    Ich habe die nicht vergessen und viele andere hier auch nicht, sonst würden diese Kriege nicht von so vielen Foristen immer wieder angebracht.

    Das Aufbrechen Jugoslawiens durch die alte Achse Bonn-Wien-Rom (mit etwas Vorarbeit in den 1980ern durch gewisse US-amerikanische Vereine) hatte nichts mit Belgrads angeblicher Selbstgefälligkeit zu tun, dafür aber umso mehr beispielsweise mit dem Ausschalten eines potentiellen Systemkonkurrenten und Rache für die zwei Niederlagen von ’18 und ’45. Jugoslawien war in beiden Kriegen Siegermacht, auch deshalb ist „Serbien muss sterbien“ bei „uns“ unvergessen gewesen.

    Der Krieg ist zurück – in der Ukraine; und seine wirtschaftlichen Folgen – zum Schaden Europas – machen diese Realität empfindlicher denn je.

    Fielen diese ominösen „wirtschaftlichen Folgen“ etwa wie Manna vom Himmel? Kamen „wir“ zu den Sanktionen wie die Jungfrau zum Kinde? Merke: Frauen werden nicht plötzlich schwanger und Kriege brechen nicht plötzlich aus (der Autor erkennt es gegen Ende sogar selbst). Oder wurde Baerbock gezwungen Russland ruinieren zu wollen? Unterschrieb Scholz das Sondervermögen und die Sanktionen mit der Knarre am Kopf (gut einer indirekten, kann sein – niemand darf sich bekanntlich gegen das System stellen). Die wirtschaftlichen Folgen „zum Schaden Europas“ sind aber wenn überhaupt Resultat von an sich selbst betriebenem Kneecapping…

    Aber seit 2015 (die Anschläge auf Charlie Hebdo und Bataclan, dann Nizza usw.) hat der Krieg neue, außerstaatliche Formen angenommen. Es handelt sich um Partisanenkriege, um Terrorismus, aber auch um Informationskriege, technologische Kriege und industrielle Kriege.

    Alter! Frage No. 1: Was ist an Partisanenkriegen und Terrorismus bitte neu? Hier wird groß Clausewitz behandelt – mal das Kapitel über die Volksbewaffnung in Vom Kriege aufgeschlagen? Oder in andere Schriften von ihm gelinst, die weniger bekannt sind? Ist Ihnen bewusst, dass Clausewitz einer der ersten Militärtheoretiker war, der ein systematisiertes Konzept des Guerilla-Krieges hinterlassen hat? Oder wenn ihnen ein anderer Preuße lieber ist – wie wäre es mal bei Gneisenau vorbeizuschauen? Nein, nicht beim Schlachtschiff, beim „großen philosophischen Franktireur“ (Zitat Engels)! Vom „roten Clausewitz“ Engels, Michael Collins und Lawrence von Arabien ganz zu schweigen…

    Und ´selbst wenn man diese Schriften als Altpapier in die Tonne gekloppt haben sollte – was ist an Phänomen wie Terrorismus und Partisanenkriege in Europa neu? Partisanen in Weißrussland? FLNC auf Korsika? Bologna 1980? London 2005? Gut, nennen Sie letzteres Staatsterrorismus, aber was ist daran neu? Und industrielle Kriege sind ja ne ganz frische G’schicht. Nicht, dass Jünger und Remarque das mal veranschaulicht hätten… Gott, dieses „Ist-alles-so-neu“-Geschwätz ist doch nichts anderes als „So jung komma nie wieder zsamm“.

    Meint der Autor das eigentlich ernst, was er schreibt oder versucht er nur seine selbstvergessenen Kollegen in Redaktionsstuben und Elfenbeintürmen zu beschreiben?

    Diese Kriege werden nicht immer erklärt, aber sie sind dennoch sehr real. Die eine Seite will die andere schwächen und in die Knie zwingen.

    Ja, in Chile wurde auch nicht der Krieg erklärt. Die ganzen westlichen Beeinflussungsoperationen, angeleiteten Putsche und sonstigen Staatsstreichtechniken unterhalb der 1000-Opfer-Kriegsschwelle werden auch nicht erklärt. Höchstens den eigenen Bevölkerungen von Sprechblasenlesern in der Tagesschau. Aber die Akte – die wurden und werden durchgeführt. Und natürlich sollen sie das Gegenüber schwächen…

    Es sei denn, diese besänftigenden und zugleich beunruhigenden Reden sind ein weiteres Mittel, um gegen die Völker der Welt Krieg zu führen

    Nein, die Janusköpfigkeit dieser Reden ist gewollt. Dienen einmal als Zurschaustellung und Selbstvergewisserung für die Bewohner des Gartens (wirken somit nach innen) und sind andererseits Wink und Signal an die „Dschungelbewohner“ nach draußen.

    Er hat keine „Doktrin zum Gewinnen von Kriegen“ vorgelegt. Nicht einmal für die Kriege seiner Zeit. Vielmehr lieferte Clausewitz eine Reihe von Beobachtungslektionen.

    Meine Güe, das haben Sunzi und Malaparte auch nicht. Die schrieben Empfehlungen und trugen Beobachtungen zusammen. Engels, Trotzki und Mao waren skeptisch, ob überhaupt allgemeingültige Anleitungen zum Führen von Kriegs- oder Aufstandskampagnen aufgestellt werden könnten (und sollten).

    Gott, das geht immer so weiter, zieht sich durch den ganzen Artikel. Next:

    Wenn eine der angegriffenen Seiten auf Gewalt mit Gewaltlosigkeit antwortet – wie es Dänemark 1940 gegen Deutschland tat –, gibt es keinen Krieg (wohl aber eine Besetzung und Unterwerfung des Landes.

    Verwechselt der Autor hier Dänemark und Luxemburg? Oder geht er dem Nazi-Mythos auf den Leim, der einen „sauberen, friedlichen Einmarsch“ zu präsentieren suchte? Die Dänen waren nämlich keineswegs passiv, sondern haben an der Grenze Widerstand geleistet. Sie hatten bloß nicht die Mittel und waren nach kurzem Kampf gezwungen zu kapitulieren. Aber man kann nicht sagen, dass sie den Überfall militärisch nicht beantwortet oder in Duldungsstarre hingenommen hätten. Es starben glaube ich rund zwei Dutzend dänische Soldaten. Verfilmt wurde das Ganze vor ein paar Jahren auch.

    Nehmen wir das Beispiel des kaiserlichen Deutschlands im Jahr 1914: Es wurde zu Recht behauptet, Wilhelm II. habe keinen Krieg gewollt. (…) Aber das Wesentliche ist, dass er sich dennoch entschloss, dem Druck des Generalstabs nachzugeben

    John C. Röhl? Mal gelesen oder immerhin reingeschaut? War zu unsachlich, zu kritisch? Gut, dann mal ins Archiv gegangen? Das Ultimatum an Serbien war so abgefasst, dass es unannehmbar war (zumindest für jeden souveränen Staat, der auch nur eine Unze auf diese seine Souveränität hielt). Berlin gab den Blankocheck an Österreich-Ungarn. Ohne Blankocheck kein Ultimatum. Ohne Ultimatum kein Krieg. Und wer empfing Hoyos überhaupt am 05. Juli 1914 im Neuen Palais? Wer sagte zwei Tage zuvor: „Jetzt oder nie. Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald.“ Typisch linkes Pazifistengewäsch eben, was Willy so von sich gab. Und ob man sich jetzt durch 3000 Seiten Röhl arbeitet, den pösen Fischer, Gietinger, Dominic Lieven oder wen auch immer aufschlägt – es finden sich noch etliche weitere solcher Zitate. Die veranschaulichen wie sehr der ehrenwerte Kaiser keinen Krieg gewollt hat. Selbst MacMeekin, Neitzel und Clark kommen nicht drum rum, auch wenn sie natürlich reichlich Persil über Willy auskippen. Der wollte aus dem „friedlichen Urlaub“ heraus am 25. Juli übrigens bereits Reval und Libau im pösen Zarenreich beschießen lassen – das konnten die Generäle ihm gerade noch ausreden, das friedfertige Deutsche Reich sollte ja nicht als Auslöser dastehen… Später hat er sein übliches Muffensausen gekriegt, da musste man ihn etwas aufrichten, aber diese Stimmungsschwankungen waren ja nichts Neues. Und was Belgien betrifft – als erste deutsche Truppenspitzen bereits auf den Weg ins neutrale Luxemburg und Belgien waren, verlangte der friedenssuchende Willy am 01. August von Moltke nur gegen den pösen Russen aufmarschieren zu lassen, um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden. Da mussten sie ihm verklickern, dass es den Großen Ostaufmarschplan gar nicht mehr gab und man sich erst gegen Paris zu wenden hatte. Gut, dann auf in den Schlafwagen nach Paris… “zu Recht behauptet”, meine Fresse… Ach, ich habe keinen Nerv mehr für das alles, sucht’s euch im Netz oder der Bibliothek zusammen.

    Man könnte wirklich stundenlang so weitermachen. Aber ich habe keine Lust nach diesen Basics auch noch die behandelte Militärtheorie und den strategischen Aspekt hier abzuklopfen. Dafür reichen mir weder Zeit noch Nerv.

    Macht euch nen schönen Nachmittag, Peace, ich bin raus.

  5. Das liebe Volk auf dieser Erde, sehnt sich nach Ruhe, Ausgewogenheit, Auskommen und einem einigermaßen vernünftigen Dach über dem Kopf.
    Aber das liebe Volk, lässt sich auf dieser Erde gerne von seinem Darsteller “verführen” gewollt oder nicht, hängt das Volk am Sog vom Darsteller. Diese Darsteller werden gerne als das Mass der Dinge dem Volke gegenüber vermittelt.
    Nur wer oder was hat das Völkchen der Erde wirklich informiert über anstehenden Taten?
    Aha, sind wir wieder dort wo wir angefangen hatten vor zig Millionenmilliarden Jahren der Evolution? Anscheinend ja, es existiert kein menschlicher Fortschritt,sondern nur die Machtverhältnisse werden vertieft und sogar reduziert.

  6. Die Umkehrung des Clausewitz´schen Zitats beschreibt die heutige Wirklichkeit besser: “Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln”. Gerade die US-Außenpolitik, und nicht nur diese, zeigt das seit den Anfängen sehr klar: diese Nation sah sich immer im Krieg. Das Schlimmste was passieren konnte, war das Abhandenkommen des Gegners, wie es mit dem Ende des Kalten Kriegs geschah. Die Lust am Feindbild konnte sich plötzlich auf kein Objekt mehr richten, zunächst jedenfalls nicht (man suchte und fand andere). Dass trotzdem notgedrungen Politik als Mittel dieser Kriege gemacht wird, hat lediglich mit begrenzten Ressourcen bzw. zu hohen Kosten zu tun.
    Insofern ist das Zitat von Clausewitz überholt.

  7. “Stellen wir uns vor, Putin hätte geglaubt, dass die ukrainische Regierung nach dem Start der „Sonderoperation“ sofort gestürzt würde und mit Russland in einer Weise verhandeln würde, die Putins Plänen entgegenkäme – vorausgesetzt, er hätte sie ganz klar vor Augen gehabt. Es würde keinen Krieg geben. Das ist wahr. Aber das war nur eine Hypothese, und sie hat sich nicht bewahrheitet.”

    Stellen wir uns vor, Pierre Le Vigan hätte zwischen dem 28.2.2022 und dem 30.3.2022 mal in die Zeitung geschaut, selbstständig Nachrichten im Internet gesammelt oder im Februar 2023 das lange Interview mit Naftali Bennett verfolgt. Dann hätte er mitbekommen, dass in den ersten vier Wochen des Krieges, beginnend am 5. Kriegstag, mit einer für Kriege schlichtweg beispiellosen Intensität verhandelt wurde, auf unterschiedlichen Ebenen (ein Treffen der Außenminister, vier Treffen von Verhandlungsdelegationen) und auch unter Zuhilfenahme externer Vermittler wie Naftali Bennett.
    Ein Vertrag wurde ausgearbeitet und anscheinend sogar paraphiert, die Belagerung von Kiew wurde aufgehoben und die russ. Truppen aus der Nordukraine abgezogen.

    Stellen wir uns vor, Pierre Le Vigan hätte nun Clausewitz genutzt, um uns die merkwürdigen Wendungen der ersten Wochen des Krieges zu erklären. Er hätte zumindest registrieren müssen, dass in persona von Boris Johnson eine weitere Kriegspartei in Kiew eintraf.

    Der offenkundige Wille, diese verräterischen (?) ersten Wochen des Krieges aus dem Gedächtnis zu löschen, ist einfach atemberaubend und Le Vigans Text insofern so interessant wie eine durchschnittliche Seminararbeit.
    Bedauerlich ist auch, dass dieser Abschnitt des Textes bisher keinem Leser aufstieß.

    1. @ Besdomny

      Hach, an Sie habe ich vorhin gedacht. Ich hatte gehofft, dass Sie übernehmen und den Text weiter auseinandernehmen würden. Danke, dass Sie die Kärrnerarbeit zu erledigen helfen. Denn da finden sich ja auch noch so Perlen wie:

      und dass die Minsker Vereinbarungen (2014) nicht eingehalten wurden

      Ja, wer hat die denn nicht eingehalten? Wer hat die denn unterlaufen? Wozu dienten die eigentlich wirklich? Warum gab es eigentlich nochmals welche „(2015)“? Und wer waren die “OSZE-Berater” im Frühjahr 2014 (kamen im Text nicht mal vor, sind aber interesssant, wenn man von Clausewitz mehr gelesen hat)?

      Zur Hitler-Passage will ich gar nicht anfangen, vielleicht habe ich die (maschinelle) Übertragung da auch nicht verstanden und ans Original will mich nicht machen.

      Wie geschrieben – man könnte stundenlang so weiter machen, aber ich will heute noch kochen (und nicht unbedingt vor Wut)…

      1. “Zur Hitler-Passage will ich gar nicht anfangen, vielleicht habe ich die (maschinelle) Übertragung da auch nicht verstanden und ans Original will mich nicht machen.”

        Um die “Hitler-Passage” zu verstehen muss man einfach nur den erwähnten Autor Paul Rassinier nachschlagen. Ich erlaube mir mal das Angelesene kurz wiederzugeben.
        Rassinier saß zwischen 1943 und 1945 im KZ Buchenwald ein und weil in diesem KZ keine Massenvernichtungen mit Zyklon-B durchgeführt wurden (es gab bekanntlich “nur” Genickschussanlagen) hielt er Berichte über Massenmorde in KZ-Gaskammern wenn nicht für für Erfindungen, so doch zumindest für maßlose Übertreibungen (und publizierte diese These 1948). Schließlich waren in Buchenwald ja “nur” 56.000 Häftlinge umgebracht worden.
        Dieser Mann war so rechthaberisch bzw. kleingeistig, dass er sich nicht nur nicht überzeugen ließ, dass es mindestens zwei Typen von Konzentrationslagern gab, sondern, einmal in Konflikt geraten, mit dem Nimbus des KZ-Häftlings ausgestattet neue Fronten aufmachte. Siehe u.a. die “Hitler-Passage”.

  8. Die deutsche, teils maschinelle, Übersetzung ist Teil des Problems denn Clausewitz‘ Definition des Krieges als »Fortsetzung politischer Beziehungen« ist nicht mehr im geringsten mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar. Ein guter Zeitpunkt an Kants’ »Zum ewigen Frieden« zu erinnern und Aussagen wie »die (…) rationale Dimension von Krieg und Politik, die auf Kalkül beruht, immer mit einer irrationalen Dimension die auf Subjektivität beruht« als das zu entarnen was es ist: Ein ewig gestriger, vielen Geisteswissenschaften inhärenter Bellizismus (Kriegsverherrlichung), dem dogmatischen Befürworten militärischer Handlungen, einer ideologischen Befürwortung oder Relativierung des Krieges oder der Neigung, internationale Konflikte grundsätzlich durch militärische Gewalt lösen zu wollen und daraus keine Konsequenzen zu ziehen.

  9. Was nun ganz fehlt: die Rückwirkung des Krieges auf die Politik. Er zwingt alle, sich entscheiden zu müssen zwischen zwei Parteien, ohne Zwischenposition.

    Das gilt schon eine Stufe tiefer. Als die Rote Armee Fraktion den ersten Schuss abgab, wollte sie damit sagen: ihr müsst euch jetzt entscheiden. Entweder seid ihr für uns oder gegen uns. Die Gegenseite reagierte genau so: für uns oder gegen uns. Die RAF hatte sich maßlos überschätzt und jetzt saß der Staat am längeren Hebel. Er verlangte eine eindeutige Ablehnung der RAF und kriminalisierte damit Positionen, die zuvor möglich gewesen waren. Großes Eigentor.

    Ganz ähnlich im Ukrainekrieg. Putin hat den ersten Schuss abgegeben, wenigstens nach der herrschenden Doktrin. Auch er sagte damit, dass man jetzt entweder für oder gegen ihn sein muss. Da nun die ganze Welt den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt, wurde er in der UNO mit großer Mehrheit verurteilt. Aber würde es dem Westen gelingen, den Rest der Welt in ein Sanktionsregime zu zwingen? Der Westen konnte sich nichts anderes vorstellen, hatte damit aber seine Position überschätzt. Er gab den Ländern des Südens die Möglichkeit, kollektiv Nein zu sagen, was diese dann auch taten. Sie wollen jetzt BRICS und Entdollarisierung.

    Was ich sagen will: die Hauptwirkung eines Krieges besteht nicht in den Ereignissen auf dem Schlachtfeld. Sondern in der politischen Wirkung auf die Nichtkämpfenden. Deren Haltung ist die entscheidende.

  10. Der Unterschied zwischen der Gegenwart und der Zeit von Clausewitz besteht ja nicht nur darin, dass der Bereich des Krieges in seiner “weiten Version” (Sanktionen, Unterwanderung, Hackerangriffe, Störung der Energieversorgung, Sabotage, verdeckte Aktionen, Finanzierung von Umstürzen usw.) enorm zugenommen hat, sondern auch darin, dass Krieg in seiner “eingeschränkten Version” (also in seiner militärischen Variante) viel mehr als früher moralisch aufgeladen wird.

    Dass JEDER Krieg eine Folge der Machtansprüche der ohnehin schon Mächtigen ist, die eben etwas oder noch etwas mehr kriegen(!) wollen, das war vor 200 oder 300 Jahren sowieso jedem klar. Im Gegensatz zu heute wurde es auch nicht verheimlicht oder durch moralische Mäntelchen zu kaschieren versucht. Die Kategorien Gut und Böse wurden in der Regel nicht bemüht.
    Höchstens kramte man noch irgendwelche umstrittenen alten Erbansprüche aus der Schublade hervor wie es etwa Ludwig XIV tat, als er nach 1680 die bis dahin deutschen Regionen Elsaß und Lothringen seinem Königreich einverleibte oder Friedrich d. Große, als er 1740 in das habsburgische Schlesien einmarschierte.
    Der Feind wurde nicht verteufelt, er blieb als Gegner mit einem selbst auf einer Stufe. (Bei den Kriegen an den Grenzen zwischen verschiedenen Kulturerdteilen wurde der Krieg allerdings von beiden Seiten enthemmter geführt, z.B. in den Türkenkriegen zwischen etwa 1500 und 1800.)

    Seit spätestens 1914 hat sich das mit der Verteufelung aber geändert. Sofern Mächte sich heute überhaupt zu der militärischen Form des Krieges mit einem etwa gleichrangigen Gegner entschließen – was seltener geschieht als früher – wird der Gegner zum Bösen schlechthin. Entsprechend wird Putin heute mit Hitler verglichen und dem Teufel sowieso.

    Diese moralische Aufladung aller großen Kriege seit 1914 erschwert ihre Beilegung. Das ist der wichtigste Punkt! Dies einerseits wegen der ausufernden riesigen Kosten moderner Großkriege, die nach einem Siegfrieden verlangen lassen (weil man sonst pleite ist) und andererseits, weil man doch mit dem personifizierten Bösen unmöglich gemeinsam am Verhandlungstisch sitzen kann. Wer mit dem Bösen verhandelt, der widerspricht ja in gewisser Weise seiner eigenen vorangegangenen Propaganda und macht sich moralisch schuldig. Die moderne Variante der Kommunikation mit dem besiegten Feind ist denn auch folgerichtig die Gerichtsverhandlung.

    Große Kriege werden daher seit gut hundert Jahren meist bis zur Aufgabe einer Seite oder bis zur regelrechten Kapitulation geführt. Eine solch extreme und absolute Art der Kriegsführung war in Clausewitz´ Zeiten sehr selten. Mir fällt gar kein Beispiel ein. Damals endeten die Kriege in Verhandlungen und mit territorialen oder finanziellen Zugeständnissen einer Seite.

    Der Niedergang des Verhandlungswesens in modernen Kriegen ist vermutlich einer der wichtigsten Unterschiede zu früher. In diesem Sinne sind große militärische Konflikte heute etwas, was eben nicht mehr (wie früher) der bloß etwas brutaleren Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln entspricht. Die großen Kriege sind gleichsam zugleich moralisiert und entpolitisiert. Ja, sie geraten zeitweise ein Stück weit sogar zu einem Pausieren der Politik und entwickeln Eigendynamik. Gleichzeitig erleben wir ein Auftauchen von extremen Vorstellungen und von der Bereitschaft, Kriege ins geradezu Apokalyptische zu steigern. Als bisherige Höhepunkte solchen Denkens kann man wohl den “Nerobefehl” von Hitler und Goebbels Reden von der “Götterdämmerung” anführen.

    Die Folgen dieser Moralisierung und Verhandlungslosigkeit bestehen also in der Verlängerung, Intensivierung (z.B. Einbeziehung der Zivilbevölkerung, größere Zerstörungen) und Brutalisierung sowie der geographischen Ausweitung von größeren militärischen Konflikten und außerdem auch in immer härteren und brutaleren “Friedensregelungen” nach der Niederlage einer Seite.

    So waren vor 1900 etwa großräumige Bevölkerungsvertreibungen (wie z.B. nach 1915 im osmanischen Armenien oder 1945 in den ehemaligen deutschen Ostgebieten) unüblich. Auch die zielgerichtete Ausmordung von Zivilisten (z.B. Holocaust, Einsatzgruppenmorde in Russland, gewollte Feuerstürme nach Flächenbombardements in von Zivilisten bewohnten Großstädten) wurde zumindest in den Kriegen zwischen den europäischen Mächten nicht praktiziert.
    Im Grunde erleben wir einen Rückfall in archaische Kriegsformen der Antike oder noch älterer Zeiten. Alle Völkerrechtsbestrebungen (z.B. Haager Landkriegsordnung 1899/1907) haben daran nichts ändern können.

  11. Der Unterschied zwischen der Gegenwart und der Zeit von Clausewitz besteht ja nicht nur darin, dass der Bereich des Krieges in seiner “weiten Version” (z.B. Sanktionen, Unterwanderung, Hackerangriffe, Störung der Energieversorgung, finanzierte Aufstände/Putschversuche, verdeckte Aktionen von Geheimdiensten) enorm zugenommen hat, sondern auch darin, dass Krieg in seiner “eingeschränkten Version” (also in seiner militärischen Variante) viel mehr als früher moralisch aufgeladen wird.

    Dass JEDER Krieg eine Folge der Machtansprüche der ohnehin schon Mächtigen ist, die eben etwas oder noch etwas mehr kriegen(!) wollen, das war vor 200 oder 300 Jahren sowieso jedem klar. Im Gegensatz zu heute wurde das auch nicht verheimlicht oder durch moralische Mäntelchen zu kaschieren versucht. Die Kategorien Gut und Böse wurden in der Regel nicht bemüht.
    Höchstens kramte man noch irgendwelche umstrittenen alten Erbansprüche aus der Schublade hervor wie es etwa Ludwig XIV tat, als er nach 1680 die bis dahin deutschen Regionen Elsaß und Lothringen seinem Königreich einverleibte oder Friedrich d. Große, als er 1740 in das habsburgische Schlesien einmarschierte.
    Der Feind wurde dabei aber nicht verteufelt, er blieb als Gegner und Konkurrent mit einem selbst auf einer Stufe. (Bei den Kriegen an den Grenzen zwischen verschiedenen Kulturerdteilen wurde der Krieg allerdings von beiden Seiten enthemmter geführt, z.B. in den Türkenkriegen zwischen etwa 1500 und 1800.)

    Seit spätestens 1914 hatte sich das mit der Verteufelung aber geändert und sollte auch so bleiben. Sofern Mächte sich heute überhaupt zu der militärischen Form des Krieges mit einem etwa gleichstarken Gegner entschließen – was seltener geschieht als früher – wird der Gegner zum Bösen schlechthin. Entsprechend wird Putin heute mit Hitler verglichen und mit dem Teufel sowieso.

    Diese moralische Aufladung aller großen Kriege seit 1914 erschwert ihre Beilegung. Das ist der wichtigste Punkt! Dies geschieht einerseits wegen der ausufernden riesigen Kosten moderner Großkriege, die nach einem Siegfrieden verlangen lassen (weil man sonst pleite ist) und andererseits, weil man doch mit dem personifizierten Bösen unmöglich gemeinsam am Verhandlungstisch sitzen kann. Wer mit dem Bösen verhandelt, der widerspricht ja in gewisser Weise seiner eigenen vorangegangenen Propaganda und macht sich moralisch schuldig. Die moderne Variante der Kommunikation mit dem besiegten Feind ist denn auch weniger der Friedensvertrag als vielmehr der Gerichtsprozess.

    Große Kriege werden daher seit gut hundert Jahren meist bis zur Ermattung und Aufgabe einer Seite oder bis zur regelrechten Kapitulation geführt. Eine solch extreme und absolute Art der Kriegsführung war in Clausewitz´ Zeiten sehr selten. Mir fällt gar kein Beispiel ein. Damals endeten die Kriege in Verhandlungen und mit territorialen oder finanziellen Zugeständnissen einer Seite.

    Der Niedergang des Verhandlungswesens in modernen Kriegen ist vermutlich einer der wichtigsten Unterschiede zu früher. In diesem Sinne sind große militärische Konflikte heute etwas, was eben nicht mehr (wie früher) der bloß etwas brutaleren Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln entspricht. Die großen Kriege sind moralisiert, tendieren mehr als früher ins Emotionale, teils auch ins Irrationale und zeigen nicht selten ein Defizit an politischer Initiative. Gleichzeitig erleben wir ein Auftauchen von extremen Vorstellungen, von Vernichtungswünschen und von der Bereitschaft, Kriege ins geradezu Apokalyptische zu steigern.

    Die Folgen der Moralisierung und Verhandlungslosigkeit bestehen in der Verlängerung, Intensivierung (z.B. Einbeziehung der Zivilbevölkerung) und Brutalisierung sowie der geographischen Ausweitung von größeren militärischen Konflikten und außerdem auch in immer härteren und brutaleren “Friedensregelungen” nach der Niederlage einer Seite.
    So waren vor 1900 etwa großräumige Bevölkerungsvertreibungen (wie z.B. nach 1915 im osmanischen Armenien oder 1945 in den ehemaligen deutschen Ostgebieten) unüblich. Auch der zielgerichtete Massenmord an Zivilisten wurde zumindest in den Kriegen zwischen den europäischen Mächten vor etwa 1914 nicht praktiziert. Eine Wiederholung der Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges (z.B. die Massaker bei Eroberung Magdeburgs) wollte man vermeiden. Im 20. Jahrhundert war diese Haltung schon wieder Vergangenheit – so z.B. 1918 beim Einsatz des sog. „Paris-Geschützes“ (Kaliber 21 cm und ohne Zielgenauigkeit), den Einsatzgruppenmorden in Russland, den gewollten Feuerstürmen nach Flächenbombardements in von Zivilisten bewohnten Großstädten in Deutschland, Japan, Korea und Vietnam, V2-Beschuss von London, Atombombenabwürfe. Allerdings hatte auch schon das Bombardement Kopenhagens (1807) durch Großbritannien mit dem Tod von etwa 2000 Zivilisten gezeigt, in welche Richtung die Entwicklung geht.

    Im Grunde erleben wir einen Rückfall in archaische Kriegsformen der Antike oder noch älterer Zeiten, denn die Trennung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten ist dabei zu verschwinden. Alle Völkerrechtsbestrebungen (z.B. Haager Landkriegsordnung 1899/1907) zum Schutz der Zivilbevölkerung haben daran leider nichts ändern können.

    1. @ Wolfgang Wirth

      Ich stimme insofern überein, als dass es nach Ende der Religionskriege im 18. und 19. Jahundert in der Tat eine Phase gegeben hat, in der die Kriege ein wenig “ehrenhafter” geführt worden sind, mit weniger schlimmen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, zumindest zwischen Europäern, wie Sie zu Recht einschränken.
      Das aber hauptsächlich auf die moralische Aufladung in modernen Kriegen zu beziehen, scheint mir ein wenig zu kurz gesprungen, bzw. sollte der Grund für die moralische Aufladung besser erklärt sein.

      Zunächst einmal gab es auch vor 1914 schon ein paar Ausreißer von dieser “Ehrenhaftigkeit”. Z.B. die Burenkriege in Südafrika in dem 10.000de Buren umgekommen sind, teils in Internierungslagern auch Frauen und Kinder, die manchen als Vorläufer von KZs gelten.
      Oder die Balkankriege im Vorlauf des WW1.
      Sonst auf der Welt war es eh viel übler: Die Indianerkriege in USA, der Bürgerkrieg dort mit mehr als 600.000 Toten (auch sehr moralisch aufgeladen). Oder der Koalitionskrieg gegen Paraguay im 2. Drittel des 19. Jahrhunderts.
      ” Nach sechs Jahren Krieg war Paraguay nahezu entvölkert: 60 bis 80 Prozent der Bewohner des Landes waren im Kampf, durch Hunger oder Seuchen umgekommen.”
      Das waren immerhin auch alles europäisch-stämmige Staaten.
      Und Asien und Afrika lasse ich jetzt mal außen vor.

      Warum es aber nun in Europa im 20. Jahrhundert wieder schlimmer geworden ist, dazu fallen mir noch zwei weitere, wesentliche Einflüsse ein:
      Der aufkommende Nationalismus im 19. Jahrhundert, quasi der neue Glauben der Zeit, führte dazu, dass in allen Gebieten mit nicht “sortenreiner” Bevölkerung, besonders in Mittel-, Ost-, und Südosteuropa, nach Auflösung der Großreiche (bis hin zu Jugoslawien in den 90gern), nationalistische Kriege und Progrome ausbrachen. Aggressiver Unmut konnte sich jetzt an Feinden der Nation ausleben und nicht mehr an Feinden der Religion, wie in früheren Zeiten.
      Ein zweiter wesentlicher Einfluss scheint mir der höhere Wert zu sein, der im Laufe des 19. Jhdt, dem einzelnen menschlichen Leben zugewiesen wurde. Man ging nicht mehr so leicht in den Tod wie früher. Denn das Jenseits hatte ja auch schon ein wenig seiner Strahkraft verloren, insgesamt dachte man etwas “humaner” nun. Die teilweise mit völliger Todesverachtung geführten Ritterkämpfe des Mittelalters oder ähnliche Spielarten des Krieges gehörten nun der Vergangeheit an.
      Nur scheinbar paradoxerweise wurden dadurch die Kriege aber schlimmer und grausamer. Lieber als todesmutig über das Schlachtfeld zu stürmen, grub man sich nun vorzugsweise ein und ließ den Gegner kommen (begann ja schon im Krimkrieg und mehr noch im us-amerikanischen Bürgerkrieg). Und warum sollte man dem Gegner Auge in Auge gegenüber treten, wenn man nun weitreichende Gewehre hatte oder noch besser, sehr weit reichende Geschütze und dann sogar Flugzeuge. So konnte man eigene Verluste reduzieren – dummerweise konnte der Gegner das dann aber auch. Womit die Kriege immer mehr auf Distanz geführt wurden und somit das Töten immer abstrakter wurde und damit maßloser und unmenschlicher. Zivilbevölkerung zu bombardieren war so auch weit weniger “schmerzhaft” für den Ausführenden, umso größer aber die Masse an Toten durch seine Bomben.
      Die Krönung war dann natürlich die Atombombe.
      Fazit: Kriege werden umso grausamer, je weniger Mut ein Soldat braucht um seinen Gegner töten zu können.

      Ich denke das dieser erhöhte Wert des einzelnen menschlichen Lebens am Ende auch einer der Gründe für die erhöhte moralische Aufladung von Kriegen ist. Denn wenn man es schon wagt 100.000sende womöglich in den Tot zu schicken, dann kann man das heute nur noch tun, wenn es wirklich gegen den Teufel höchstpersönlich geht. Ansonsten lässt sich das einfach nicht mehr rechtfertigen.

      Einen weiteren Aspekt möchte ich aber noch anführen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in Europa die Bevölkerungen extrem gewachsen. Teilweise so schnell wie heute in Afrika. Das schürte natürlich den Konkurrenzdruck unter den europäischen Mächten drastisch und auch nationalistische Streitigkeiten. Und man hatte nun eine Unmenge an Menschen für viel größere Armeen zur Verfügung. Von daher nahmen die Kämpfe einen viel größeren Raum ein und betrafen alleine deswegen schon die Zivilbevölkerung viel mehr als vorher.
      Zog früher eine Armee von mehreren 10.000 bis selten mehr als 100.000 Mann durch die Landschaft, auf sehr begrenztem Gebiet, wobei dieses Gebiet dann meist doch einen extremen Schaden nahm, wie auch seine Bevölkerung, so gab es dann im 20 Jhdt. riesige, geschlossene Fronten mit großflächigen Massenangriffen von Millionenarmeen, die logischerweise auch wieder viel mehr Verwünstung unter Land und Leuten anrichteten.

      1. @ Two Moon

        Ihre Gedanken und Hinweise sind interessante Ergänzungen.

        Was Sie über Paraguay schreiben, war mir neu.
        Und ja: im Krimkrieg, im amerikanischer Bürgerkrieg, in den Burenkriegen und in den Balkankriegen wurden bereits Entwicklungen (negativ verstanden) sichtbar, die dann im 20. Jahrhundert eine große Rolle spielen sollten.

        Den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und dem Auftreten von Massenheeren hatte ich bislang wenig beachtet. In diesem Zusammenhang sind übrigens die Forschungen des kürzlich verstorbenen Gunnar Heinsohn interessant. In “Söhne und Weltmacht” hatte er eine Korrelation zwischen einem Jugendüberschuss (“youth bulge”) und innerstaatliher Gewalt und gewaltsamen Konflikten festgestellt.

        Angesichts der niedrigen Geburtenraten im heutigen Europa, in Russland und teils auch in den USA erklärt das auch die vergleichsweise kleinen Heere der Gegenwart. So hätten im Zweiten Weltkrieg die gesamten heutigen ukrainischen Heeresverbände lediglich für einen begrenzten Frontabschnitt von geschätzten 200 – 500 km Länge ausgereicht.

        Dass der aufkommende Nationalismus ebenfalls zu der Eskalation der Kriege seit dem 19. Jahrhundert beigetragen hat, kann als sicher gelten. In gewisser Weise bedeutete das dann einen Rückschritt in eine ähnlich fanatische Mentalität wie in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts.

        Ihren Gedanken zum Wert des einzelnen Lebens vermag ich allerdings nicht so recht zu folgen. Im Hinblick auf das Empfinden des einzelnen Individuums würde ich zustimmen, denn angesichts des Schwindens religiöser Vorstellungen und alter Ehrbegriffe wurde der Kriegstod immer mehr zum bloß sinnlosen Verrecken. Andererseits bedeutete dieses Empfinden der einzelnen Soldaten aber nicht, dass sie deswegen von der obersten Heeresleitung geschont wurden. Der Grabenkrieg wurde auch lediglich deshalb unumgänglich, weil aus Sicht der Heeresleitungen ansonsten die Soldaten knapp geworden wären.

        Grausam waren Kriege immer. Ein Bajonettangriff dürfte in dieser Hinsicht nicht so leicht zu übertreffen sein.

        Gruß

      2. Nachtrag zu : moralische Aufladung

        Sie wollten genauere Ausführungen.
        DASS es spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert auch innerhalb Europas eine moralische Aufladung der Kriege gibt, dürfte unstrittig sein. Ich erinnere nur an die übertriebene Kriegspropaganda aus dem Ersten Weltkrieg.

        Als Ursachen nehme ich an:

        1. Aufheizung der Stimmung und des Hasses durch den ausgeprägten Nationalismus der Jahre zwischen 1850 und 1950.

        2. Die moralische Aufladung im Sinne einer bewussteren Kriegsbegründung dürfte auch eine Folge der wichtiger gewordenen öffentlichen Meinung sein. Um 1600 oder 1700 gab es in diesem Sinne noch gar keine öffentliche Meinung und den handelnden Fürsten konnte es im Grunde egal sein, was die Untertanen dachten.
        Um 1900 war der Abstand zwischen Fürsten und Untertanen aber längst nicht mehr so groß wie 200 Jahre zuvor, sodass die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch entsprechende propagandistische Verlautbarungen wichtig wurde, um sowohl die Massenheere als auch die Heimatfront auf Linie zu bringen.
        Dieses auf Linie bringen durch Moralisierung muss auch im Zusammenhang mit den vergleichsweise dramatisch gestiegenen Verlustzahlen (Gefallene, Verstümmelte) gesehen werden, denn angesichts der hohen eigenen Verluste war damit zu rechnen, dass die Kriegsbegeisterung nicht von langer Dauer sein würde.

        3. Tendenz zu moralischen Begründungen angesichts der fortschreitenden Aufklärung und der zunehmenden öffentlichen Kritik an Kriegshandlungen überhaupt, um so den Eindruck zu vermeiden, dass es bloß um nackte Machtansprüche geht. Jeder Krieg musste nun als ein ganz besonders gerechter Krieg (“bellum iustum”) erscheinen. Und dies gelingt natürlich um so besser, je schlimmer, böser und verderbter der Gegner geschildert wird.

        4. Angesicht der enormen Kosten moderner Kriege wurde und wird außerdem der Sieg bzw. der Siegfrieden noch notwendiger als in den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts. Nur ein Sieg konnte und kann die Kosten überhaupt noch decken! Folglich muss ALLES für den Sieg getan werden – auch mental und propagandistisch. Aufkommender Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung und in der Truppe gilt es also durch stets wiederholtes Erinnern an die ganz besonders extreme Bösartigkeit und Unmenschlichkeit des Feindes zu begegnen.

        5. Ein weiterer Grund für die moralische Aufladung der Kriege des
        20. Jahrhunderts dürfte darin liegen, dass es sich vielfach um einen auf internationaler Ebene ausgetragenen ideologischen “Weltbürgerkrieg”
        (Ernst Nolte) handelte. Bürgerkriege tendieren wie Religionskriege meist zu besonderer Erbitterung, zu besonderem Fanatismus. Der Feind ist dann längst nicht nur Gegner, sondern Anhänger einer für moralisch minderwertig gehaltenen Weltsicht.

        1. Ja, Ihrem Nachtrag zur moralische Aufladung kann ich in Gänze zustimmen.

          Zu dem Post davor noch:
          Die Sache mit dem Jugendüberschuss („youth bulge“) ist sicher auch ein Punkt, der bei Kriegen und Konflikten aller Art immer wichtig ist. Menschen, insbesondere die Männer, aber auch die Frauen in mehr passiver Weise, sind in jungen Jahren viel eher bereit ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen.

          Bei meinem Gedanken zum Wert des einzelnen Lebens machen Sie die richtige Einschränkung, dass dieser Wert des einzelnen Lebens für die Oberbefehlshaber oft keine wirklich bedeutende Rolle spielte. Manche ließen Befehle ausführen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Hundertausende in den Tod führten.
          Dennoch mussten sich auch die Oberbefehlshaber mit den geänderten, “humanitäreren” Einstellungen in den Gesellschaften auseinandersetzen. Denn ich denke es ging hier nicht nur um das geänderte “Empfinden der einzelnen Soldaten” sondern um die geänderten Einstellungen in wirklich der gesamten Gesellschaft. Spätestens seit Florence Nightingale im Krim-Krieg und kurze Zeit später auch mit der Entstehung des Roten Kreuzes kümmerte man sich auch besser um die Verwundeten. Vorher waren deren Leiden von geringerer Wichtigkeit gewesen. Nun aber waren Tod und Leiden im Krieg etwas, was gesamtgesellschaftliches Mitgefühl forderte.
          Sich darüber hinweg zu setzen war dann auch für die Oberbefehlshaber nicht mehr so einfach wie in früheren Zeiten. Dennoch wurde diese Hemmung, grausame Logik des Krieges (vor allem je länger der Krieg dauerte) von den Oberbefehlshabern ein ums andere Mal überwunden.

          Ob der Grabenkrieg lediglich deshalb unumgänglich wurde, weil aus Sicht der Heeresleitungen ansonsten die Soldaten knapp geworden wären, da bin ich mir nicht sicher. Der Grabenkrieg kam ja erst in einer Zeit, in der es viel mehr Soldaten gab als früher. Warum hat man dann in früheren Zeiten viel weniger auf solche Verteidigungsanlagen gesetzt?

          Und ein Bayonettangriff war sicher eine furchtbar grausame Sache, aber eben auch zeitlich sehr begrenzt – und wegen des direkten Kontaktes zum Gegner sicher ein so prägendes Erlebnis, dass es die Überlebenden nicht unzählige Male wiederholen können würden. Hätte es nur Bayonettangriffe gegeben, dann wären die Kriege schnell zuende gewesen und die Verluste weitaus geringer. Aber schon ein Scharfschüzte mit seinem Gewehr konnte im WW1 aus großer Entfernung ganz leicht viel mehr Männer umbringen ohne dass er dabei an sein menschliches Maß kam, wie bei einem Bayonettangriff.

  12. Unter demokratischen Verhältnissen ist ein Krieg das Versagen der Politik, das Versagen der Parlamente. Oder man kann auch sagen das Agieren von Kräften in einer ausgehebelten Demokratie. Wann führten echte Demokratien gegeneinander Krieg?

  13. “Die Entschlossenheit ist ein Akt des Mutes in dem einzelnen Fall, und wenn sie zum Charakterzug wird, eine Gewohnheit der Seele.”, auch ein Clausewitz.

    Als ob er die Foristen hier gekannt hätte!

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