Bürgerskinder und Kinderbürger

Kindergärtnerin betreut Kinder
Bundesarchiv, Bild 183-20350-0003 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Man will an das Geld des Zuschauers, traut ihm aber nicht mehr zu, dass er selbst denken kann. Auch der Film bevormundet unentwegt.

Maude Chardin ist fast 80 Jahre alt. Und sie freundet sich mit dem 20-jährigen Harold Chasen an. Beide sind Außenseiter. Harold kommt aus gutem Hause und weidet sich am Tod. Ständig inszeniert er sein Ableben, sehr zum Leidwesen seiner Mutter. Maude ist eine verschrobene Seniorin, die das Leben genießt und so unkonventionell auftritt, als sei sie noch in ihren Zwanzigern. Anschluss an die Gesellschaft hat die extrovertierte ältere Dame nicht.

Andeutungen und Gedankenschwere

Harold und Maude gehört zu den Klassikern des Kinos. Cat Stevens‘ Soundtrack lässt sich auch heute noch gut lauschen. Der Film ist ein modernes Märchen. Er ist eine Hymne auf die Individualität. If you want to sing out, sing out. And if you want to be high, be high. Nach dem Motto lebt Maude. Nicht fragen, einfach machen. Ausleben. Die alte Dame nimmt Harold an ihre Hand und genießt das Leben, als gäbe es kein Morgen. Keinen Tod, der auf sie lauert. Ohne falsche Rücksicht in den Tag hinein zu springen, macht ihre Existenz aus. Später erwächst aus dieser Konstellation eine Liebe gegen alle Konventionen.

Ganz schlau wird man als Zuschauer aus ihr nicht. Sympathisch ist sie einem natürlich. Aber ist die Gute verrückt? Das fragt man sich unwillkürlich. Bis es diese eine Szene gibt, in der Maude den Ärmel zurückstülpt und man einer tätowierten Nummer gewahr wird. Sie ist also eine Überlebende eines Konzentrationslagers. Das erklärt einerseits alles, macht die Gier nach Leben verständlich. Andererseits belastet diese Erkenntnis den Film nicht.

Denn die Einstellung ist wenig effektheischend. Sie ist fast scheu. Regisseur Hal Ashby entschied sich dagegen, diesen Moment, der begreiflich macht, was diese Frau antreibt im späten Herbst ihres Lebens, nicht zu sehr aufzuladen. Da gibt es keinen Rückblick, der den Film unterbricht. Keine Unterbrechung, die zeigt, wie sehr diese Frau gelitten haben muss. Darüber macht der Film wenig Aufsehens. Nur die Nummer, ein trauriger Blick Maudes, der gleich wieder in Lebensfreude abgleitet. Dass diese radikale Lebensbejahung eine Rolle ist, versteht man in diesem Moment auch ohne Seht her! zu rufen.

Ashby traut den Zuschauern zu, dass sie das selbst begreifen. Für die heutige Generation der Filmschaffenden ist das nicht selbstverständlich. Sie blenden gerne ab und fahren zurück in die Vergangenheit, um dem Betrachter nochmal haarklein deutlich zu machen, was geschehen ist. Diese Abblendungen in die Vergangenheit haben hier und da eine große Wirkung und bringen den Film ästhetisch und inhaltlich voran. Man denke hierbei an Coppolas zweiten Paten. In neueren Produktionen häuft sich diese Praxis sehr zum Nachteil der Gesamtkomposition. Sie dienen auch nicht dem Werk, sondern wollen etwas herauskehren.

Döp-döp-döp verboten!

Nämlich das Grauen, das dem Protagonisten widerfahren ist. Eine Maude käme heute nicht mehr so zurückhaltend aus der Szene. Man ginge mit ihr zurück in die Vergangenheit, sähe sie im KZ. Hungern, arbeiten, ihre Eltern, Kinder oder ihren Partner verlieren. Der gesamte Horror wäre gut sichtbar für den Betrachter. Und damit bevormundet von der Regie, die nicht glaubt, dass der Zuschauer von alleine versteht, was die Situation uns sagen will. In Harold und Maude bleibt vage und ist gleichzeitig konkret, was der alten Frau widerfahren ist. Eine Neuauflage würde diesen Moment auflösen und den Rezipienten einbläuen, wie er den Charakter zu sehen hat.

Das ist eine beliebte Praxis in diesen verrückten Tagen. Zuschauern und Bürgern dauernd vorab schon mitzuteilen, wie die Situation ist und wie man mit ihr umzugehen hat, ihnen nahezulegen, wie sie zu denken und zu fühlen haben, all das bestimmt den Diskurs an allen Ecken. Zum Beispiel auch nach Sylt. Nun sollen auf allen Volksfesten und auf jeder Kirmes Gigi D’Agostinos L’Amour toujours nicht mehr gespielt werden. Der Song selbst ist unverdächtig. Einige junge Leute haben auf diese Melodie Deutschland, den Deutschen! Ausländer raus! gesungen. Damit das nicht wieder passiert, verbietet man den Song gleich ganz.

Die Sprachregelungen, die manche nun durchsetzen wollen, sind von derselben Qualität. Stets geht es um Bevormundung. Weil man dem Bürger nichts mehr zutraut. Damit der nichts Doofes anstellt, geht man eilig mit Regelungen, Verboten oder Warnungen voran. Das geht getreu dem Motto, dass Bürger dumme Wesen sind, die nicht in die Verlegenheit des Selbstdenkens kommen sollten und besser eine Betreuung benötigen.

Gesellschaft als Kindergarten

Das Kino bildet die Wirklichkeit ab. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch Regisseure heute selten etwas im Vagen lassen. Einer wie Hitchcock wäre heute fast undenkbar. Der Zuschauer könnte dann selbst beginnen zu denken. Wenn er dann das Leid Maudes nicht so denkt, wie der Regisseur es sich gedacht hat, könnte er falsche Schlüsse ziehen. Welche? Das ist irrelevant. Schon die Gefahr, dass er falsch abbiegen könnte im Denkprozess macht Sorgen. Dem baut man vor.

Aus diesem Grunde piepst es auch, wenn man sich im Auto nicht anschnallt. Es gibt nicht nur eine Gurtpflicht. Das reicht nicht mehr. Der Bürger braucht eine Nanny. Gesellschaft ist demnach nicht mehr als Raum zu verstehen, in dem mündige Bürger selbst Entscheidungen treffen. Sie ist ein Kindergarten. Und die Bürger sind Kinder. Staat, Politik, Medien und Kunst verstehen sich diesem Sinne nach als Erziehungsberechtigte.

Maude hätte das vielleicht auch als ihr Motto betrachtet: Wenn du nicht angeschnallt sein willst, sei nicht angeschnallt. Sie nahm das Bürgerskind unter ihre Fittiche und brachte ihm bei, sich nicht als Kinderbürger behandeln zu lassen. Natürlich birgt es Risiken, wenn man den Gurt nicht anlegt. Inklusive schwerer Verletzungen und Tod. Bürger dürfen das falsche wollen und denken. Das ist die eigentliche Freiheit innerhalb der Grenzen, die Gemeinwesen haben. Die Nanny sieht das ganz anders. Sie verbietet den Kleinen das Falsche. Sie meint es gut mit einem. So gut, dass es einem schlecht wird.

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13 Kommentare

  1. Die Bürger sollen mit den heutigen (Möchtegern-)Sprachregelungen nicht betreut, sondern totalitär hingebogen werden. Das Gendern beispielsweise ist eine Gesinnungsgrammatik, die mit irgendwelchen Anliegen und Problemen der Frauen überhaupt nichts am Hut hat. Verwendet wird es fast nur in der Blase der Grünen, von Pseudolinken, Kulturbetrieblern, ungebildeten Flaschen, die dadurch zeigen wollen, daß sie politisch stramm auf Linie sind. Die Gesinnungsgrammatik hat die Funktion wie die Regierungsaufmärsche “gegen rechts”: man zeigt “Haltung”.
    Natürlich steckt hinter dem Zensurwahn auch dümmlichste Zimperlichkeit. “N-Wort” statt Neger (im Deutschen seit Jahrhunderten die neutrale und korrekte Bezeichnung für Schwarze, in der gesamten Dichtung) ist genauso lächerlich und blödsinnig wie jene Mode im viktorianischen Zeitalter als man statt Hose “Beinkleid” sagen sollte.
    N-Wort. Blöder geht es wirklich nicht mehr.
    Politische Korrektheit ist bloß eine Erfindung dummer alter Jungfern (die auch männlich sein können).

  2. Ich schließe mich an das Lob des Artikels hier an. Auch mich nervt die ständige Bevormundung erwachsener Menschen in Deutschland, die zudem immer behauptet sie würde die Menschen in Deutschland nicht bevormunden, dabei ist es jedem Menschen mit gesundem Menschenverstand, der noch nicht annähernd von den modernen Nannys bzw. Gouvernanten, sonnenklar, dass hier eine Infantilisierung von “Otto-Normal-Bürger/-.in” stattfindet.

    Andere Beispiele gefällig? Ich, als älterer Leser von Literatur – queerbeet durch alle Themen, die mich interessieren – nehme dies auch schon in Büchern wahr, die zur aktuellen Zeit passen – die Verlage passen sich eben auch an, und schreiben den Lesern dann das selber Denken gleich mit “Warnhinweisen…” auf “schädigende Inhalte” der Literaturwerke ab……ist mir schon seit mindestens 4 Jahren aufgefallen. Früher war das anders, da überließ man dem Leser eben noch des selber urteilen über den Inhalt zwischen zwei Buchdeckeln, dann kam die Bewerterei beim Online-Buchhandel – via Leserrezension – dazu.

    Tja, und nun eben gleich als Vorwort beim gedruckten, oder E-Book…..etc., damit der Käufer/die Käuferin sich schon VOR dem Lesen des Buches das selber Denken abgewöhnen kann, und aufgrund des Preisdrucks schließen sich – leider muss ich anmerken – immer mehr Verlage dieser nervigen Nanny-Strategie im Buchhandel an…..

    Gruß
    Bernie

    1. Man könnte noch als weiteres Beispiel der Infantilisierung und Verdummung erwachsener Menschen die Überregulierung und das Wesen der deutschen Straßenverkehrsordnung nennen.
      Wenn man einmal im europäischen Ausland mit dem Auto oder Motorrad unterwegs war, weiß man, was damit gemeint ist.

  3. Heutzutage muss – so kommt es mir vor – zwanghaft jeder Film mit dem Thema Unterdrückung von Minderheiten her kommen. Wenn das vom Thema nicht passt, wird das irgendwie eingebaut. Ein Romeo wäre in heutiger Zeit ein Transmensch oder eine Frau, die Julia wäre eine lesbische Frau, König Hamlet schwul oder Bipoc…
    Für mich ist wokes Denken nur eines: Ideologie.

    1. Hallo Gunther, da schließe ich mich gerne an will aber nur ergänzen, dass dieses “betreute Denken” wesentlich älter ist als du, und viele andere hier, eventuell denken.

      Man kann es nicht oft genug betonen bzw. Wiederholen die “Hollywood-Industrie” hat schon früher die globalen Filmfans wie kleine Kinder behandelt, die nicht selber denken können – oder wie ich früher hier mal zu einem anderen Artikel anmerkte – würde man die realen Zustände längst vergangener Zeiten, und Zivilisationen, darstellen wäre kein einziger Hollywoodfilm unter FSK 18 zu haben, nicht einer 😜👎

      Gruß
      Bernie

  4. da gab es mal ein Gespräch zwischen Oliver Stone und Herrn Putin, in einer Sektion sagte der russische Präsident, das die USA über keine Kultur verfüge!
    Wie soll man in Deutschland heute ihre Kultur bewerten?
    Als Land der Dichter, Erfinder und sonstiges, sehe ich aus der Ferne nur noch Ruinen.
    Die versprochenen blühenden Landschaften sind noch da, aber ihre versprochenen Inhalte waren leer und heute um ein etliches leerer. Kultur zu pflegen benötigt eine Gesellschaft die sich ihrer Kultur bewusst ist und Politiker die diese hochhalten.
    Die heutige Kultur ist Nihilismus und wird täglich mit diesen Stoff abgefüttert.

  5. Apropo Erwachsene als Kleinkinder behandeln – die Coronakrise ist unvergessen.

    Eine Aufarbeitung ist auch meinerseits dringend notwendig, da gerade im Arzt-; Pharma – und Gesundheitswesen der berühmte, und oft medial herbei gewünschte, “mündige Patient” – mangels ärztlichem Fachwissen beim Patienten – eine Ausnahmeerscheinung sein dürfte.

    Übrigens, ich zähle mich auch zu den unmündigen Patienten☺️, bin aber seit Corona doch – ein bisschen – vom Glauben in die “Götter in Weiß” abgekommen 👍👴

    Gruß
    Bernie

  6. Ich konnte vor kurzem einem Life-Style-Linken-Clown, der das divers-pseudolinks-neoliberale Evangelium predigte, lauschen: als Geisteswissenschaftler könne er “um die Ecke” denken. Das stimmt, weil es ihm zuvor (transatlantisch) hingebogen wurde…😂

  7. In den aktuellen Filmen wird grimassiert und rumgestikuliert wie in Stummfilmen, nur wird leider dazu auch noch pausenlos gequasselt, und Komik ist, wenn blöde Witze gemacht werden. Zwischentöne gibt es nicht mehr. Kürzlich habe ich nach vielen Jahren im TV wieder einen wirklich witzigen Film gesehen. “Ein Mann sieht rot”. Charles Bronson sitzt in einem leeren Zugabteil und lockt die “Ratten” mit einer Einkaufstüte an, immer derselben, und die Lebensmittelpackungen sind sorgfältig von Fingerabdrücken gereinigt, erfährt man später vom commissioner, der auch erklärt, dass man mit einer Einkaufstüte harmlos wirkt und wahrscheinlich Geld dabei hat. Und nach kurzer Zeit tauchen “Ratten” auf. Man sieht dem Rächer schon beim Betreten des Abteils die unterdrückte Vorfreude an. Und dann peng peng peng liegen die Ratten auf dem Boden und winden sich noch ein bisschen. Und erst im Nachhinein fällt einem auf, dass diese spannende Szene in Wirklichkeit einfach saukomisch ist. Es wird nicht viel geredet und keine Botschaft verkündet. Die Kritik streitet seither, ob es sich um ein Plädoyer für Selbstjustiz oder einen Unterhaltungsfilm handelt. Der Film wurde indiziert und dann wieder freigegeben. Des Nachdenkens müde meint ein Kritiker: “Als Thriller ist ´Ein Mann sieht rot` jedoch sehr gut umgesetzt.”

      1. Ich finde es auch verhältnismäßiger, wenn sich unbewaffnete Ordner abstechen lassen müssen, bevor die Polizei Schusswaffen einsetzt. Das ist sozusagen die Mannheimer Lösung, die aber auch nicht immer glücklich ist. Aber eigentlich ging es mir um die filmischen Mittel.

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