Böse Erinnerungen

Kinosessel
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Warnhinweise und Disclaimer wiegen Betrachter und Rezipienten in einer falschen Sicherheit. In Wirklichkeit sind sie völlig wirkungslos.

Neulich ereiferten sich viele, weil der WDR nun auch alte Folgen von Schmidteinander oder von Auftritten des Komikers Otto Waalkes mit Warnhinweisen versieht. Früher habe man über anderes gelacht, teilt man sinngemäß den Zuschauern mit. Da die meisten früher auch schon da waren, wissen sie das sogar – der WDR glaubt dennoch, ihnen die Welt erklären zu müssen.

Die Absicht dahinter ist, wie stets wenn man vorwarnt, empfindliche Gemütern einen Sicherheitsraum, ja einen Panic Room zu gestatten: Indem sie vorab abschalten können. Nach dem Motto: Wem seine räumlich überproportionierte Existenz schwer zusetzt, dem steht der Sinn vielleicht gerade nicht nach Dickenwitzen.

Szenen, die Nachhall erzeugen?

Immer mehr schließen sich nun der Disclaimeritis der woken Illusion an. Hat das anfangs nur das Kino in puncto stroboskopischer Lichteffekte getan, so zogen Video-on-Demand-Anbieter sukzessive nach. Man wird von Gott und der Welt gewant: Sex, Alkohol- und Zigarettenkonsum, Gewalt mit Sex, Gewalt ohne Sex, rohe Sprache. Anders als bei Stroboskopeffekten haben diese Warnungen aber keinen nachvollziehbaren Effekt – wir kommen gleich darauf zurück.

Die Idee dahinter ist ja unter Umständen edel – wenn es je die Idee war: Damit jemand keinen Rückfall erleidet, erklärt man vorab, dass in dem Film, der gleich beginnt, viel Alkoholika fließt. Jemand, der sich gerade das Rauchen abgewöhnt, soll abschalten können, wenn im Film Nikotin inhaliert wird – nicht, dass ihn am Ende Gelüste ereilen, von denen er fast befreit war.

Und natürlich: Ein Mensch, der in seinem Leben schon mal zum Opfer sexueller Gewalt wurde, soll sich einer Szene entziehen können, die einen solchen Übergriff zeigt – wie, in welcher Intensität, ob nur angedeutet oder in aller minuziösen Ausleuchtung, sei dabei hintangestellt. Wer will jemanden, der durch diese Hölle ging, das Recht absprechen, sich einer solchen Darstellung zu entziehen? Wir grauenvoll muss es sein, wenn so jemand plötzlich beim Betrachten eines Filmes zusammenbricht, einen Flashback erleidet?

Diese Logik mag naheliegend sein, aber sie ist unzutreffend. Flashbacks, die man im Deutschen auch als Nachhallerinnerung bezeichnet, funktionieren nicht so unmittelbar und direkt. Und wie Wolfgang M. Schmitt kürzlich erst thematisierte, weiß das Hollywood eigentlich auch. Die Filmindustrie hat dieses Phänomen schließlich immer wieder aufs Tapet gebracht.

Tee bei Tante Madelaine

Denn es gibt etliche Filme, die sich der Inszenierung von Flashbacks bedienen. Schmitt nennt dabei Hitchcocks »Marnie« – ein bis heute recht stiefmütterlich behandeltes Werk des Masters of Suspense. Das ist freilich nur ein Film, der damit arbeitet – es gibt eine ganze Reihe davon, nicht mal besonders gute. Der Flashback gehört zum Repertoire der Branche, um die Zerbrechlichkeit eines Protagonisten kenntlich zu machen etwa. Charles Foster Kane erinnerte sich nicht an seine Kindheit zurück, weil er Kinder sieht: Eine Schnellkugel erinnerte ihn an einen Schlitten – über Umwege und Biegungen kam Erlebtes hoch. Rosebud …

Selten bis gar nicht stellt sich aber so eine Erinnerung ein, weil zum Beispiel der Überlebende des Holocausts Erniedrigung im Alltag erlebt – es sind Kleinigkeiten, Nuancen, die alles wieder hervorholen. Redensarten, die jemand verwendet etwa – dieselben, die der KZ-Aufseher immer wieder gebraucht hat. Oder wie jemand eine Zigarette hält, lacht, wie sich seine Falten beim Nachdenken formen. Manchmal ist es auch ein Musikstück, das erinnerlich macht – oder ganz banal der Torbogen eines Hauses, der jenem Torbogen gleicht, den man passierte, als man kurz danach Opfer eines Übergriffes wurde.

Oft sind es im wirklichen Leben Gerüche und Geschmäcker, die Erinnerungen heraufbeschwören. Mit olfaktorischen und gustatorischen Faktoren müssen sich Film und Fernsehen noch nicht auseinandersetzen. Sie müssten dann einen Warnhinweis schreiben, der da lautete: Der Geschmack jenes Tees kann Erinnerungen hervorrufen. Welche Erinnerungen genau, weiß man nicht. Erinnerungen sind schließlich individuell. Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« entspinnt sich nach einem Teegenuss – plötzlich versetzte ihn der Geschmack in die Kindheit zurück, denn bei seiner Tante Madeleine hatte er einst stets solchen Tee getrunken.

Was also, wenn man kurz nach dem Trinken einer Tasse Pfefferminztee in einem Raubüberfall geriet, bei dem man niedergeschlagen wurde? Dürfte dann das gustatorische Fernsehen keinen Pfefferminzgeruchsstoff mehr freisetzen?

Film und Fernsehen: Besser abschaffen

Überhaupt fällt noch eine Sache auf: Vor Krankheit im folgenden Film oder der folgenden Serie wird nie gewarnt. Ganz ungeniert präsentiert man den Zuschauern beispielsweise krebskranke Väter und Mütter oder an einer Autoimmunkrankheit leidende Geschwister. Haben den Krebspatienten nicht das Recht, vorgewarnt zu werden? Dürfen sie nicht für ein, zwei Stunden aus ihrem Alltag entfliehen – müssen sie an ihr Leid erinnert werden, weil sie ohne Vorwarnung einen schauspielernden Leidensgenossen vor die Nase gesetzt bekommen?

Der Verdacht kommt auf, dass die, die das Vorwarnen als wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft deklarieren, gar nicht an der Befindlichkeit der Adressaten interessiert sind. Denn sonst müssten sie vor Krankheit und Armut warnen: Auch arme Zuschauer wollen schließlich der Realität entfliehen. Vermutlich geht es ihnen nur um ihre eigene Prüderie – und um woke Bevormundung, wie gehabt.

Die Vorwarnungen vor Stroboskopeffekten, wir kommen nochmal kurz darauf zurück, sind anders gestrickt. Denn wilde Lichteffekte führen tatsächlich und unmittelbar zu epileptischen Anfällen – das funktioniert nach dem Muster Wenn/Dann. Disclaimer zur Gewalt hingegen nicht. Gewaltopfer können gewalttätige Szenen tatsächlich oft aushalten – aber wenn in einer total unscheinbaren Szene jemand die Zigarette zwischen dem kleinen und dem Ringfinger hält, wie eben jener erste Partner vor Jahren, der einen mit der Bratpfanne verprügelt hat, dann hallen Erinnerungen nach.

Wenn es letztlich die Nichtigkeiten sind, die unschöne Erfahrungen und Erinnerungen aufkommen lassen, muss man auch davor warnen. Jede Tasse Tee muss angesagt werden, jede mimische Gesichtsausprägung braucht einen Disclaimer, vor jedem im Film enthaltenen Musikstück muss vorgewarnt werden – weil das aber zu aufwändig ist, bleibt nur eine Möglichkeit: Nichts mehr ausstrahlen, denn alles ist im Verdacht Erinnerungen nachhallen zu lassen. Die Gefahr ist einfach zu unübersichtlich.

Und jetzt haben wir über die Bevormundung und die Aberkennung der Mündigkeit von Zuschauern noch gar nicht gesprochen – aber wenn die Mattscheibe eh schwarz bleiben muss, ist diese Frage ja ohnehin geklärt.

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16 Kommentare

  1. Die Erwachsenen haben mich früher immer vor der Idioten-Laterne und der Gemütsorgel gewarnt!

    Zurecht wie die Demokratieabgabe von 220,36€ im Jahr zeigt!

  2. Es gibt jedoch noch eine zweite, durchaus erwähnenswerte Seite.
    Die der positiven, schönen, in Konsequenz aber möglicherweise negativ nachhallenden, Erinnerungen.
    Bilder, Eindrücke, die mit Kindheit, Leichtigkeit, Freude usw. assoziiert werden (könnten).
    Wenn sich deren gefühlter Verlust potenziert, bestünde durchaus die Gefahr einer z.B. psychisch negativen Auswirkung.

    Daher müsste auch dringend vor zu viel seichter Unterhaltung gewarnt werden.
    Und da in diesem Falle tatsächlich nichts mehr bliebe, kann getrost auf jeglichen Konsum verzichtet werden. Selbst ohne Warnhinweise setzt sich diese Erkenntnis zwar langsam, aber immerhin durch.
    (Aber die Bücher?🤔)

    Heute ist der jährliche Tag des Probealarms; 11.00 Uhr.
    Warum diese Logistik nicht für täglich korrekte und woke Verlautbarungen nutzen?

  3. Vor Menschen die mit einem Messer andere angreifen wird in einem öffentlichen Plätzen nicht gewarnt. Die Polizei wird auf Druck von oben, die Arbeit verwehrt, armes Deutschland.
    Auch gibt es keine Warnhinweise wenn Regierungen in andere Länder einmarschieren. Vor allem werden die Bürger nicht gewarnt, welche fatalen folgen der Lobby den Menschen antut.

  4. “jede mimische Gesichtsausprägung braucht einen Disclaimer”

    Da sind bis auf wenige Ausnahmen wie Caroline Peters oder Andrea Sawatzki die meisten deutschen Schauspieler fein raus.

    Der englische Begriff virtue signaling (Signalisierung der eigenen Tugendhaftigkeit) bringt auf den Punkt, worum es bei vielen Woke-Themen geht.

    Im Kritik-Absatz des Wikipediaartikels, wird bemängelt, dass das Gegenüber mit dem Wort abgewertet werden soll. Wenn man bedenkt, dass der Zweck der Tugendsignalisierung die eigene Aufwertung ist, ein Effekt, der zum Normalstatus führt.

    Ich denke, es wird darauf hinauslaufen, dass die übermäßig Tugendhaften noch eine Weile eskalieren müssen, bis die Mehrheit die Nase voll hat.

  5. Ich denke, alle Kreißsäle sollten mit einer Tafel ausgerüstet werden, auf der steht:
    “Liebes Neugeborene. Willkommen auf der Erde. Warnung: Das Leben auf der Erde birgt Risiken. Betreten nur auf eigene Gefahr!”
    Die Tafel bei jeder Geburt mitten zwischen die Beine der Gebärenden postieren.

    1. Als ich den Artikel gelesen habe, hatte ich sofort den gleichen Gedanken.
      Als Ergänzung: Die Eltern sollten noch eine Verzichtserklärung für Schäden
      durch die Deutsche Politik im Laufe des Lebens dieses neuen Menschen
      und die Zusicherung der Kostenübernahme für das Öffentlich-Rechtliche
      Fernsehen bis zur Beerdigung, unterschreiben.

  6. Danke für diesen Artikel – es soll ja noch Leute geben, die gedruckte Papierbücher lesen, und sogar dort soll das hier beschriebene vorkommen – die Infantilisierung der Gesellschaft schreitet eben voran, oder um es zynisch mit einem alten Bibelspruch – der von den Evangelisten Jesus Christus zugeschrieben wurde – zu sagen “Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, dann steht euch das Himmelreich nicht offen oder so”…..als säkularer Humanist las ich mal eine Interpretation des Satzes vom einem Kirchen- sowie Religionskritiker, der wohl aber auch für dein Beispiel zu passen scheint – Kinder fragen nicht nach, dachte man zu Jesus Zeiten, sie schlucken alles kritiklos, und sind überaus gut formbar – der perfekte “Bürger”/”Bürgerin” eben……in diesem Sinne verstehe ich auch die versuche der Wokeness-Prediger…..und Bevölkerungserzieher in den Mainstream-Medien – man will uns eben wieder in Kinder verwandeln, die im alles schlucken, und rein gar nichts mehr nachfragen bzw. sehr gut manipulierbar sind…..hörige Unteranen/-innen eben……

    Grüße
    Bernie

    1. Die Infantilisierung würde ich dahingehend deuten, das der Staat die komplette Kontrolle über seine Schäfchen erreichen möchte! Die Politisierung über alles, geht von neugeborene bis zu älteren Menschen. In jedem Segment des Daseins herrscht eine beständige Einflussnahme durch alle verfügbaren Kanälen.

  7. Nun sind wir ja formal gesehen eine Demokratie. Wenn es nun eine Bewegung von Betroffenen gegeben hätte, die unter bestimmten gezeigten Szenen leidet und gefordert hätten, diese mit Warnhinweis zu versehen, dann wäre dagegen ja nichts einzuwenden. Nur: diese Bewegung gab es nicht einmal ansatzweise. Irgendwo ganz oben wurde beschlossen, dass das gemacht werden muss, ohne dass irgendwo eine Bedarf signalisiert wurde.

    Der Warnhinweis ist das ideale Instrument des autoritären Charakters, um den Erdball in einen Friedhof zu verwandeln. Das steckt dahinter.

    Ich weiß, es nervt, aber ich komme um ein Lob der 68-er eben nicht herum. Sie, die so viel für den Frieden erreicht haben, wussten, dass sie genau das vermeiden mussten. Der Erdball darf eben kein Friedhof sein, sondern um den Frieden zu erhalten, muss er attraktiv gestaltet werden. Musik, Kunst, Wissenschaft.

    Lässt sich das auch umdrehen? Sind die, die das machen, Kriegstreiber?

    Meine Antwort: ja.

  8. Diese Disclaimer haben doch nur den Zweck Shitstorms zu vermeiden.
    Man sagt einfach vorab etwas und ist dann die Verantwortung los.
    Angst der Redaktionen. Aber wenn es hilft, was soll’s.

  9. Es geht um Angst!! -mache!!
    Vor alles und nix soll der Mensch -seit der Kohler Jahre- Angst haben!
    Und zwar klar propagandistisch -rechts a la Regierungsaffin- gefärbt!

  10. Die Disclaimer etc. haben m.E. einen ganz anderen Hintergrund. Die Justiziare in den Anstalten und Firmen warnen die Verantwortlichen vor möglichen Prozessrisiken. Und die Verantwortlichen wollen vermeiden in Regress genommen zu werden, falls ein Richter ein ungünstiges Urteil spricht und Schadensersatz zuspricht. Diese Verrechtlichung aller menschlichen Lebensbereiche kann man seit Jahren beobachten. Er macht die Welt indes nicht besser

  11. Symptom von Symptomen..
    Wenn man heutzutage seinem Dasein Sinn (Wirksamkeit) verschaffen will, etwas Gestalten möchte, dann treibt es einen in solche Stilblüten. Wäre man mit existentiellen Sachen im persönlichen/örtlichen beschäftigt gäbe es diese Problemsucherei garnicht.
    Diese postmoderne Industriegesellschaft (im alten Westen) hat dem Menschen Freizeit (Arbeitslosigkeit) beschert die er mit der Suche nach “erfüllenden” Aufgaben versieht (u. Einkommensquellen – notwendigerweise).
    Da es aufgrund des Mangels an Gestaltungsraum (die Welt ist komplett verrechtlicht und im Besitz) zwangsläufig zu Übergriffen in “Räume” des Nachbarn kommen muß, ist der Ärger vorprogrammiert.
    Seitdem nun das Digitale die “Fühler” sogar mit Lichtgeschwindigkeit beliebig positionieren kann findet man überall Mißstände auf diesem Planeten um die man sich tägtäglich kümmern müßte (vom Bildschirm aus – remote) und es hoffentlich auch tun wird.. !
    Endlich wird Alles gut.. ;*)

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