
Heute vor 40 Jahren ereignete sich eine Tragödie, die letztlich den europäischen Fußball zu einem aalglatten Sport mit Eventcharakter gentrifizierte: Es gab 39 Tote im Brüsseler Heysel-Stadion.
Irgendwann zogen Familien in Hochglanzstadien ein. Der Fußball wurde gentrifiziert. Vorher war er die Domäne der Männer. Im Laufe der Neunziger änderten sich die Umstände. Diese Entwicklung ging von England aus. Und das hatte Gründe. Die Stadien wurden verändert, Stehplätze wurden immer seltener und verschwanden dann komplett. Die Ticketpreise stiegen stark an. Nun waren nicht mehr junge Männer die Zielgruppe der Vereine, sondern Väter mit Kindern und gesamte Familien. Denn ins Stadion zu gehen sollte ein Event für alle sein: Für Vater, Mutter und Kinder.
Angeschoben wurde diese Gentrifizierung des Fußballs durch einige tragische Zwischenfälle. Bis Anfang der Neunziger sprachen britische Eliten vom Fußball als einen Sport für Rüpel. Nur der Pöbel ließ sich beim Fußball sehen. Dass die Queen 1966 beim WM-Finale zwischen England und Deutschland anwesend war, galt als absolute Ausnahme. Fans waren in den Augen der wohlhabenden Schichten nur brutale, emotional verkommene Wilde. Als im April 1989 im Hillsborough Stadium in Sheffield unzählige Fans unter dem Druck nachströmender Massen immer mehr an die Gitter des Fanblocks gedrückt wurden, schaute die Polizei auf der anderen Seite dieser Gitterstäbe ungerührt zu. Das war nur möglich, weil Anhänger des Fußballs damals grundsätzlich als Gesocks betrachtet wurde.
29. Mai 1985: FC Liverpool gegen Juventus Turin
1989 waren die britischen Vereine schon seit vier Jahren in allen Wettbewerben des Europapokals gesperrt. Vorausgegangen war dem eine Tragödie, die sich am 29. Mai 1985 im belgischen Brüssel ereignete. Dort stieg das Finale des Europapokals der Landesmeister. Kenner wissen, dass das der Vorläufer der heutigen Champions League war. Damals war der Sieg in diesem Wettbewerb schon der wichtigste Titel, den ein Fußballer auf Klubebene erreichen konnte. 1985 standen sich der englische Meister und Titelverteidiger FC Liverpool und der italienische Campeone Juventus Turin gegenüber. Juventus trat mit dem besten Fußballer dieser Epoche an: dem französischen Mittelfeldspieler und Spielmacher Michel Platini. Damals war er schon zweimal zum besten Fußballer Europas gewählt worden. Im Dezember 1985 folgte seine dritte und letzte Auszeichnung.
Die Briten hatten noch eine Rechnung offen an diesem Tag im Heysel-Stadion in der belgischen Hauptstadt. Im Jahr zuvor spielte der Klub im Finale gegen den AS Rom. Finalort: Zufälligerweise die Heimstätte des Gegners, Rom. Liverpool gewann im Elfmeterschießen. Aber auf der Tribüne machten die Tifosi Jagd auf britische Fans. Rücksichtslos schlugen sie auf die Gäste ein. Ein Jahr später war dieses Erlebnis noch nicht vergessen. In Brüssel drehten sie den Spieß um. Die Engländer bewarfen zunächst die Menschen im benachbarten Fanblock mit Gegenständen. Eigentlich sollte dieser Block neutrale Fans beherbergen. Aber in Brüssel gab es eine große italienische Gemeinde. Deshalb befanden sich im Nachbarblock viele Juventus-Anhänger.
Beide Blocks waren durch einen Zaun getrennt. Der hielt aber nicht lange Stand. Die Fans des FC Liverpools stürmten den eigentlich neutralen Block. Die Tifosi wichen zurück und ließen sich ans Ende des Blockes drängen. Polizei und Sicherheitspersonal bekamen die Lage nicht in den Griff. Ganz am Ende des Blockes wurden die um ihr Leben laufenden Fans gegen eine Mauer gedrückt, die infolge des Druckes einbrach. Das Heysel-Stadion war ein veraltetes und baufälliges Bauwerk. An diesem Tag wurde das den Fans zum Verhängnis. Menschen liefen über am Boden liegende andere Menschen hinweg. 39 Menschen starben an diesem Tag. Die meisten der Todesopfer erstickten.
Das Spiel wurde aber angepfiffen. Mit anderthalb Stunden Verspätung. Den Spielern teilte man angeblich nicht die ganze Wahrheit mit. Deswegen traten sie an. Juventus Turin gewann durch ein Elfmetertor von Platini. Der jubelte euphorisch über seinen Treffer. Das verziehen ihm viele Fans nie mehr. Jahre später erklärte er, dass das ein Fehler gewesen sei. Das deutsche Fernsehen hatte sich da schon ausgeklinkt. Die Bilder von der Überreichung der Trophäe wirken heute befremdlich. Lauter glückliche Spieler und Funktionäre sind auf ihnen zu sehen. Einige Meter weiter offenbarte sich das Chaos. Leichen wurden zugedeckt, Verletzte aus dem Stadionrund gebracht und der gestürmte Fanblock sah aus wie ein Kriegsschauplatz.
Nach dem Spiel
Der 29. Mai 1985 war ein beschämender Tag. Die UEFA zeigte sich komplett herzlos. The Show must go on. Nicht mal Leichenberg konnten den Verband dazu bringen, dieses Finale abzublasen. Die italienische Mannschaft erzählte nachher, dass ihr Vereinspräsident bereit war, seine Mannschaft nichts aufs Feld zu schicken. Aber Verbandsfunktionäre drohten mit einer Niederlage am runden Tisch, Liverpool würde dann zum Sieger erklärt. So weit ging die Solidarität mit den toten Fußballfans dann doch nicht.
In Großbritannien wurden später einige der Aufrührer verurteilt. Und es entflammte eine Debatte darüber, wie verkommen die Anhänger der großen Klubs mittlerweile seien. Die ersten Hooligans trafen sich damals zu Schlägereien vor den Stadien. Die Gewaltbereitschaft war stark angestiegen. Heysel schien zu bestätigen, dass Fans grobschlächtige Schläger waren. Es entsprach der Wahrheit, dass es gewaltbereite Anhänger gab. Thatcher-England machte daraus aber eine Klassengesellschaft. Die brutalen Haudraufs seien allesamt Angehörige der Arbeiterschicht, wurde kolportiert. Sie würden ihre Wochenenden in Stadien zubringen und ihren Lohn versaufen. Dann käme eines zum anderen und sie explodierten. Wie in Heysel. Und wie vier Jahre danach in Sheffield. So sagte man damals. Aber eigentlich gab es keine Gewalt in Sheffield, nur zu viele Fans für zu wenig Platz im Stadion. Dass Polizeibeamte um ihr Leben kämpfende Zuschauer nicht in den Innenbereich des Stadions ließen, als die 1989 an die Gitter gedrückt wurden, war der reinste elitäre Dünkel. Die rüde Arbeiterschicht wollte es doch so, war das Gefühl damals. Sie trage den Krieg ins Stadion und müsse jetzt die Konsequenzen tragen.
Die Vereine standen vor einem Dilemma. Ihr Ruf war, bedingt durch die Anhängerschaft, die kollektiv für Wilde erklärt wurden, ziemlich schlecht. Neue Fans mussten her. Der Fußball sollte ein teures Produkt werden, das andere Zuschauer anzieht. Durch die Skandale und die populistische Debatte gegen die arbeitende Mittel- und Unterschicht, hatte man nun ein starkes Motiv, um den Fußball auf der Insel neu zu gestalten.
Der Fußball wurde gentrifiziert
Nach der internationalen Sperre mauserte sich die Premier League zur teuersten Liga der Welt. Auch weil sie sich neoliberalisierte. Die Katastrophen, eben auch die Mutter aller Tragödien, dieser Bürgerkrieg in Heysel-Stadion, machte es den Verantwortlichen einfacher, den Fußball aus den Händen der Malocher zu reißen, um ihn einem anderen Publikum schmackhaft zu machen. Sitzplätze konnte man mit höheren Eintrittsgeldern absetzen. Und so verschwanden Stehplätze. Die ersten VIP-Lounges entstanden außerdem. Je mehr Arbeiter aus dem Stadion verschwanden, die man für die Gewalt verantwortlich machte, desto mehr Leute aus der reichen Mittel- und Oberschicht kamen nun zu den Partien.
In den Achtzigern konnte man ein Spiel der ersten englischen Liga für zwei Pfund verfolgen. Ein Saisonticket kostete damals nicht mehr als 70 Pfund. Eher weniger. Schon 20 Jahre später zahlte man bis zu 50 Pfund für den Eintritt zu einer Partie, ein Saisonticket konnte bis zu 1.000 Pfund ausmachen. Der Durchschnittspreis für ein Spiel liegt heute bei 125 Pfund. Der Fußball wurde also gentrifiziert. Heute sitzen dort Familien. Das Spiel ist bei dem Event oft nur Nebensache. Vorher traf man besonders Männer im Stadion. Dort konnten sie den Stress ihres Alltages abbauen. Auch ohne sich zu prügeln. Sie waren laut, unflätig und leidenschaftlich. Der Fußball war ihr Ventil. Einige wenige sorgten für Exzesse. Und das erleichterte es, die Bestrebungen, den Fußball zu einem Hochglanzprodukt zu machen, Wirklichkeit werden zu lassen.
Fußball war nicht der Sport der armen Leute. Ursprünglich spielten ihn reichen Boys aus Internaten. Später gründeten sich Arbeitervereine, die gegen den Nachwuchs reicher Eliten antraten. Arbeiter sorgten in England dafür, dass sich der Amateurismus schnell erledigte und das erste Profitum einführte. Das war in den Neunzigern der 19. Jahrhunderts. Die Sprösslinge der Reichen brauchten keinen Profistatus, um täglich trainieren zu können. Sie arbeiteten ohnehin nichts. So wurde Stück für Stück aus dem Elitenspiel eine Sportart für die Arbeiter. Für den Pöbel, wie die Eliten sagten. Bis sie sich das Spiel zurückholten. Heute vor 40 Jahren wurde für die Rückholung ein wichtiger Grundstein gelegt. Und dies, indem die Grundsteine der Blockmauer im Heysel-Stadion nachgaben und Menschen in den Tod rissen. Von England aus ergriff die Gentrifizierung den gesamten europäischen Fußball. England ist eben doch das Mutterland dieses Sports.
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Soccer Mom’s
Kollateralschäden so geht Fußball-Krieg https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fballkrieg
Damit sind wir wieder im alten Rom, vor 2000 Jahren.
Mit einem kleinen Unterschied, die Armen durften damals kostenlos rein.
Die Situation der Arbeiterschaft im England 1985?
Da war Maggi Thatcher in Höchstform.
Das neoliberale Gift der „Hexe“ hat ganze Arbeit geleistet und bot reichlich sozialen Sprengstoff.
@ Chefkoch01
Heute, vierzig Jahre später, bekommt Maggies dürre Wiedergängerin und Meisterschülerin den Preis des Sachsenschlächters, den wohldotierten.
Zufälle gibts….
Mir könnte man Tickets für die begehrtesten Spiele schenken, ich würde sie nicht nutzen.
Lieber schaute ich einem Rasen beim Wachsen zu!
Brot und Spiele: Die Abgründe des kommerzialisierten Fußballbetriebes
23.10.2017
Paris Saint-Germain legt 222 Millionen Euro für einen jungen Brasilianer hin. Doch das Fußballvolk, gierend nach Unterhaltung jeder Art, trägt seine bitter verdienten Groschen in die Arenen der Kommerzballgesellschaften und ihrer herangezüchteten Gladiatoren.
von Flo Osrainik
Was zu viel ist, ist zu viel. Und 222 Millionen Euro Ablöse bei einem Gehalt von rund 100.000 Euro – nicht im Jahr, am Tag – für einen jungen Brasilianer namens Neymar, der unter anderem schon eine Luxusjacht im Wert von 8 Millionen US-Dollar, zahlreiche Luxuskarossen, Immobilien oder Diamantohrringe besitzt, sind zu viel, auch wenn er den Ball unendlich lange danteln oder schnell wie der Blitz damit rennen kann. So ungefähr meint das jedenfalls Uli Hoeneß, der sich selbst mit dreistelligen Millionenbeträgen und Balldantlern auskennen sollte.
Dem Fußballer Javi Poves aus Spanien reichten im Jahr 2011, da war er 24, hingegen zehn Minuten Profifußball für Sporting Gijon in der Primera Division, um sich angewidert vom „kapitalistischen Fußball-System“, wie er damals sagte, abzuwenden. Einst spielte er, wie so viele, Fußball aus Liebe zum Spiel. Er kündigte seinen Vertrag, um Geschichte zu studieren und soll kein Geld mehr von Sporting entgegengenommen haben. Das vom Klub zur Verfügung gestellte Auto gab er zurück, da es sich falsch anfühle, zwei Wagen zu haben.
Multimillionäre in den Weltstädten, Sklaven auf Katars Baustellen
Aber ganz offensichtlich sieht man das weder in Paris noch bei den unterhaltungsbedürftigen Zuschauern des durchkommerzialisierten Fußballs in Resteuropa so. Auch ein frei von Moral handelnder Investor wie Nasser Al-Khelaifi wird dem nichts abgewinnen können. Der katarische Präsident von Paris Saint-Germain dürfte in den Pariser Banlieues womöglich genauso wenig soziale Missstände erkennen wie ein Franz Beckenbauer in Katar Sklaven auf den Baustellen für die Fußballweltmeisterschaft der FIFA.
Kann sein, dass sich der „Kaiser“ vor Ort nur von Geschenken seiner Gastgeber blenden ließ. Vielleicht wusste Beckenbauer auch nicht, dass Sklaven in absoluten Monarchien wie in Katar keine Eisenketten mehr tragen, denn heute gibt es Bankkonten, die einfach leer bleiben können. Auch müssen moderne Gladiatoren keinen Tod mehr fürchten und dürfen sich nach Eintritt des Rentenalters, also spätestens mit Ende 30, den Kopf darüber zerbrechen, was mit der restlichen Lebenszeit anzufangen ist.
Der Zusammenhalt der Sklaven, Lohnsklaven oder auch Arbeiter wurde jedenfalls schon früh, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aufgebrochen, indem man die anfangs erfolgreichen Interessenvertretungen der Arbeiter zerschlug. Dafür begann man früh, Werkklubs zu gründen. In Deutschland zum Beispiel bei Bayer, Wacker, Carl Zeiss, Volkswagen und Opel. International war Gleiches etwa bei Royal Arsenal (FC Arsenal), Lancashire and Yorkshire Railway (Manchester United), Philips (PSV Eindhoven), Pommery (Stade de Reims), Peugeot (FC Sochaux) oder Parmalat (AC Parma) der Fall. Auch entstanden zahlreiche weitere Werksteams in West- und Osteuropa (Zenit Sankt Petersburg, BATE Baryssau, Schachtar Donezk) und in anderen Teilen der Welt, ob in Asien (Urawa Red Diamonds, Sanfrecce Hiroshima), Südamerika oder Afrika, um ein Identitätsgefühl gegenüber dem Konzern und gegen andere Arbeiter herzustellen.
https://web.archive.org/web/20171025084301/https://deutsch.rt.com/gesellschaft/59434-brot-und-spiele-abgruende-kommerzialisierten/
Ein paar weitere Worte von drinnen:
Neymar-Irrsinn: Furiose PK von Freiburg-Coach Streich | SPORT1
SPORT1
1.025.044 Aufrufe 03.08.2017
Eigentlich wollte Freiburgs Trainer Christian Streich gar nichts zum Neymar-Wechsel sagen. Daraus wurde aber nichts. Der 52-Jährige nimmt den Transfer zum Anlass für eine Gesellschafts-Kritik.
https://www.youtube.com/watch?v=T8um-gHFcAM
„es ist nicht gut für unsere demokratische ordnung und ich kann das nicht mehr einschätzen!“ heul jammer klöhn. aber mal fragen was geld überhaupt ist, nein sicher nicht! das hätte mit fussball nichts mehr zu tun! lieber drüber reden, dass uns alle die absolute gier droht, weil „sicherheit“. mearsheimer kann das auch: logisch töten sich alle gegenseitig, ist wegen „sicherheit“! ich kann die ganzen deppen einfach nicht mehr ab!
selbst schuld. Ich habe über 30 jahre selbst im verein fussball gespielt und noch heute interessiert mich der profifussball einen dreck. Während die „fans“ auf den rängen sich kaum ein saisonticket leisten können, werden sie im stadion von millionären auf dem spielfeld verarscht. Fussball ist ein sport und als solcher gut – profifussball ist unsinn und vergeudung von gesundheit. Vergesst diese allwöchentlich inszenierungen und unterstützt einen amateurverein – je weiter unten, um so besser!
Die z.T. regelrecht ekelerregende Entwicklung (nicht nur) im Profi-Fußball lässt sich wohl kaum allein durch eine solche ziemlich verkürzte Darstellung bzw. ein vereinfachtes Ursache-Wirkungs-Prinzip erklären.
Da kommen schon noch ein paar weitere Aspekte mit hinzu. Und in diesem Zusammenhang das sogenannte ‚Bosman-Urteil‘ nicht einmal namentlich zu erwähnen, ist schon ein wenig seltsam. Denn dieses war mitverantwortlich für die mittlerweile nur noch als pervers zu bezeichnenden exorbitanten Spieler-Gehälter.
https://www.youtube.com/watch?v=W_uHxX8DQXY
😉