Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich

Universittät von Bir Zeit
Dan Hadani / Dan Hadani collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection, The Palestinian University of Bir Zeit (FL45757660), CC BY 4.0

Aziz Shehadeh war in seinem Leben vieles: engagierter Anwalt, widerständiger Aktivist, einer der ersten und furchtlosesten Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung und politischer Gefangener. Und er war der Vater des Bestseller-Autors Raja Shehadeh. In jungen Jahren war Raja noch nicht in der Lage, den großen Mut seines Vaters zu erkennen und dieser wiederum sah sich nicht im Stande die Ambitionen des eigenen Sohnes zu würdigen. Als Aziz 1985 direkt vor seinem Haus ermordet wird, verändert dieses Ereignis das Leben seines Sohnes für immer.

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In seinem eindringlichen Memoir verarbeitet Raja Shehadeh die komplexe Beziehung zu seinem Vater, die bis dato ungeklärten Umstände von dessen Ermordung und liefert zugleich eine unvoreingenommene Historie der Besatzung Palästinas. Ein Buch, das sowohl von persönlicher als auch gesellschaftspolitischer Relevanz ist und zu Recht auf der Shortlist für den National Book Award stand. Ein Auszug aus dem Buch »Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich«.

Was ist der Grund für meine Erinnerungslücken? Wie kommt es, dass seine ungerechte Inhaftierung unter so harten Bedingungen meinen Vater für mich nicht zu einem Helden gemacht hat? Warum habe ich nie zu ihm aufgeschaut oder gewürdigt, was er ertragen musste?

Heute akzeptiere ich die beunruhigende Erkenntnis, dass meine Haltung meinem Vater gegenüber nie von Bewunderung geprägt war. Ich machte keinerlei Anstalten, ihn über seine Erfahrungen im Gefängnis zu befragen oder die politischen Kämpfe nachzuvollziehen, die er geführt hat. Ich schlug mich auf die Seite meiner Mutter und dachte, wie sie, dass er zu hastig und töricht war, sich in solchen Aktivitäten zu verstricken, die ihn letztlich in Schwierigkeiten brachten. Mit anderen Worten, ich gab hier dem Opfer die Schuld, sei es für seine Verbannung aus dem Land, für seinen Aufenthalt in Al-Dschafr oder für das Scheitern seiner politischen Bemühungen, mit denen er immer dickköpfig gegen den Strom zu schwimmen schien und die schlussendlich dazu führten, dass er stetig unbeliebter und isolierter wurde. Da ich kein Verständnis für die Gründe seines Handelns hatte, gab mir auch keine der Konsequenzen Anlass dazu, meinen Vater für seinen Heldenmut zu bewundern, mit dem er sich dem Regime widersetzte und die rigorosen Haftbedingungen in der unbarmherzigen Wüste ertrug. Ich verstand ja kaum, warum er sich überhaupt in Gefahr begab.

Der Aktivismus des Vaters

Auch später, als ich in meinen Memoiren über ihn schrieb, geschah dies häufig aus der Sicht meiner Mutter. Sie war der Maßstab, an dem ich seinen Wert gemessen habe. Ich wusste sehr wenig über das Stück Geschichte, das er schrieb, nichts über seinen Kampf für die Rückführung der palästinensischen Flüchtlinge oder gegen das perfide Regime in Jordanien. Viel häufiger hörte ich von den Bemühungen meiner Mutter, die sich für ihn einsetzte und zwischen verschiedenen jordanischen Beamten hin und her pendelte, um seine Freilassung zu erwirken. Sie war es, die mein Mitgefühl für die Entbehrungen weckte, von denen ich glaubte, dass mein Vater sie verursacht hatte. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, dass Jordanien sich mit Israel verschworen hatte, um sich Palästina anzueignen, aber ich wusste nichts von den Einzelheiten oder von den tapferen Versuchen meines Vaters, all dies zu bekämpfen, wofür er einen so hohen Preis zahlte. Ich war in das Familiendrama verwickelt, was meinen Blick auf die Situation verfälschte. Ich hatte keine eigenen oder unvoreingenommenen Gedanken zu all dem, sondern wurde von meiner Mutter und ihrem Misstrauen gegenüber der Politik sowie ihrer kritischen und missbilligenden Haltung gegenüber dem Aktivismus meines Vaters beeinflusst. Dadurch entstand eine große Kluft zwischen uns. Ich hatte meine eigenen unreifen, auf sentimentalen Hollywood-Dramen basierenden Vorstellungen davon, wie es zwischen Vater und Sohn zugehen sollte, und machte keine Anstalten, meinen Vater zu verstehen. Jetzt, wo ich weiß, wie viel wir gemeinsam haben, ist mein größtes Bedauern, dass wir eigentlich hätten Freunde sein können.

Wie die meisten Frauen mit wagemutigen Ehemännern, die sich der Gefahr aussetzen, wollte meine Mutter natürlich nicht, dass ihr Sohn es ihrem Mann gleichtut. Also versuchte sie, mich so zu erziehen, dass ich mich von Gefahren fernhielt und mich auf geistige Abenteuer konzentrierte. Sie bereicherte meine Fantasie mit ihren fesselnden Erzählungen und wies mir unbewusst den Weg hin zu dem Schriftsteller, der ich heute geworden bin.

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Ein Kommentar

  1. Dieser Artikel spricht eine sehr wichtige Frage an, die m.M.n viel zu selten diskutiert wird :
    Unter welchen Umständen wird der Kampf gegen Unrecht unmoralisch ?

    Aziz Shehadeh war Familienvater und stand vor der Wahl : Widme ich alle meine Kraft dem Wohlergehen meiner Familie oder dem Freiheitskampf ?
    Aziz Shehadeh hat sich für Letztgenanntes entschieden, und ich persönlich halte diese Entscheidung für falsch.
    Für Menschen die in weiser, pessimistischer Voraussicht keine Familie gegründet haben sieht die Sache völlig anders aus :
    Diese Menschenkategorie hat die Wahl zwischen Freiheitskampf und ungezügeltem Hedonismus bzw. – je nach Chartertyp – mönchischer Askese/Quietismus.
    Diese Wahl ist für die betreffenden Personen eine Schicksalsfrage und entsprechend schwer zu beantworten.
    Mich würde brennend interessieren, wie Ihr Urteil in dieser Sache lautet.

    Im Voraus vielen Dank für Ihre Antworten.

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