Totalitarismus ohne Diktator

Frauen in Gasmasken, Symbolbild Totalitarismus
n/a, Public domain, via Wikimedia Commons

Nicht der Führer schafft das System – das System produziert den Führer. Zwischen Konzernmacht, PR, Nationalismus und moralischem Etatismus entsteht eine Herrschaft, die sich demokratisch gibt und doch tief in private wie politische Lebensbereiche eingreift. Ein scharfer, provokativer Text über Macht, Ideologie und die Illusion politischer Kontrolle im 21. Jahrhundert.

Sheldon Wolin zeichnet das verstörende Porträt einer neuen Machtform: eines „umgekehrten Totalitarismus“, der ohne charismatische Diktatoren auskommt und gerade deshalb umso stabiler ist.

Ein Buchauszug.

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Im klassischen Totalitarismus resultierte die Eroberung der totalen Macht nicht aus einer Verkettung unbeabsichtigter Folgen; sie war das bewusste Ziel derjenigen, die eine politische Bewegung anführten. Die mächtigsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren in hohem Maße personenbezogen, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass jede einen dominanten, überlebensgroßen Führer hatte, sondern jedes System war in besonderer Weise die Schöpfung eines Führers, der ein Selfmademan war. Mussolini, Stalin und Hitler haben nicht nur ihre eigenen Rollen erfunden; sie haben die Organisationen ihrer jeweiligen Diktaturen buchstäblich aufgebaut. Jedes System war untrennbar mit seinem Führer oder seinem Duce verbunden. Der umgekehrte Totalitarismus verfolgt einen ganz anderen Weg: Der Führer ist nicht der Architekt des Systems, sondern sein Produkt. George W. Bush hat den umgekehrten Totalitarismus ebenso wenig geschaffen, wie er ein Flugzeug auf die USS Abraham Lincoln gelenkt hat. Er ist ein willfähriges Ziehkind von Privilegien, von Unternehmensverbindungen, ein Konstrukt von PR-Assistenten und von Parteipropagandisten.

Die klassischen totalitären Regime, Stalins Russland, Mussolinis Italien und Hitlers Deutschland, waren in erster Linie die Schöpfung eines charismatischen Führers und ohne dessen Handschrift undenkbar. Der umgekehrte Totalitarismus hingegen ist weitgehend unabhängig von einer bestimmten Führungsperson und benötigt kein persönliches Charisma, um zu bestehen: Sein Vorbild ist der »Kopf« eines Unternehmens, der öffentliche Vertreter des Unternehmens. Von den klassischen Diktatoren starb nur Stalin, während er noch an der Macht war, wobei seine Diktatur das Jahrhundert nicht überdauerte. Im umgekehrten System ist der Führer ein Produkt des Systems – nicht sein Architekt. Es wird ihn überdauern. Während Hitler, Mussolini und Stalin die Hauptverantwortlichen für Pläne waren, die letztendlich auf katastrophale Weise über das Ziel hinausschossen, liefern diejenigen, die das nominelle Staatsoberhaupt der Supermacht (das Äquivalent zum Geschäftsführer) beraten, die Hybris, die Möglichkeiten mit Fähigkeiten verwechselt und die Ressourcen gröblich unterschätzt, die benötigt werden, um das grandiose Ziel der Welthegemonie zu erreichen.

Wir erleben etwas Neues

Ein prominenter Washingtoner Intimus, der sich durch seinen Einfluss und seine engen Verbindungen zum inneren Kreis der Bush-Regierung auszeichnet, erklärte, er freue sich schon auf den Tag, an dem die Regierung gnadenlos zusammengeschrumpft sein werde, sodass ihre erbärmlichen Überreste in einer Badewanne oder (die Versionen variieren) in einer Toilette hinuntergespült werden können. Unabhängig von ihrem Schlagwortwert beinhaltet diese Fantasie entweder die Vorstellung, dass auch das Militär den Weg anderer wesentlicher politischer Institutionen gehen wird oder dass die Streitkräfte bestehen bleiben, während die anderen Institutionen weggespült werden. Da in beiden Fällen nichts über die Struktur der Macht der Konzerne ausgesagt wird, überdauert sie vermutlich, gleichsam vom Erfolg umspült und von einem nunmehr privatisierten Militär geschützt. Derartige Fantasien lassen die Tatsache ungeheurer Verteidigungsausgaben außer Acht, die von einer aggressiven Außenpolitik, glühendem Nationalismus und einem Militär begleitet werden, das, anders als die deutsche Wehrmacht, in ihrer Verachtung für unternehmerische Wertvorstellungen, bequem mit Corporate America koexistiert. Seien Sie also vorsichtig, was Sie da runterspülen.

Was wir hier erleben, ist in der Tat etwas Neues: eine konservative Form des Etatismus, der zwar Sozialausgaben gegenüber ablehnend ist, sich aber eifrig in allerpersönlichste Angelegenheiten einmischt: sexuelle Beziehungen, Ehe, Fortpflanzung und familiäre Entscheidungen über Leben und Tod. Der Fall Terri Schiavo bot die mustergültige Kostprobe einer konservativen Version von Etatismus. Der von Republikanern dominierte Kongress wurde eilig zu einer Sondersitzung einberufen. Dr. Frist, der Mehrheitsführer im Senat, bot sein professionelles Urteil aus der Ferne an. Der Präsident flog zurück nach Washington. Evangelikale und katholische Gruppierungen belagerten die Medien, den Kongress und die Legislative in Florida – und all dies für eine Person, die nach medizinischer Einschätzung hoffnungslos hirntot war. Bemerkenswert war nicht der spezielle Fall, sondern die stillschweigende Bedrohung durch die rasch mobilisierte öffentliche und private Macht und den orchestrierten Eifer. Intelligent Design?

Sheldon S. Wolin

Sheldon S. Wolin (1922—2015), Demokratietheoretiker und Politikwissenschaftler, lehrte politische Theorie am Oberlin College, an den Universitäten von Kalifornien, Berkeley, Santa Cruz und Los Angeles, der Princeton University, der Cornell University und der Oxford University. Zu seinen Schülerinnen zählte Judith Butler. Er war der Gründungsherausgeber des Journal of Democracy. Wolin schrieb in seiner politischen Theorie der Demokratie einen flüchtigen Charakter zu und betonte die zentrale Kraft lokaler Formen der politischen Beteiligung als Gegengewicht zu den totalisierenden Tendenzen staatlicher Macht.
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23 Kommentare

  1. Heute ist Merzens großer Tag als Führer Europas und die MSM jubeln schon aus allen Kanälen.
    Die Gebietsabtretung soll er den Ukrainern schon verboten haben.
    Die „Friedensgespreche“ werden mal wieder zerredet, DE sei Dank.
    Bleibt die Frage warum Trump die überhaupt daran teilnehmen läßt.
    Amen!

    1. Ich bin trotzdem begeistert. Früher hätten die *Außenminister* von Staaten über Krieg und Frieden verhandelt. Klassische Diplomatie, wie seit Jahrhunderten. Stattdessen haben wir einen europäischen Kindergarten, der dem „bösen Russen“ die Diplomatie verweigert. Die tatsächlichen Friedensverhandlungen laufen zwischen einem Kumpel und dem Schwiegersohn von Trump und einem Geschäftsfreund von Putin. Der Chef von BlackRock hat sich ebenfalls eingeschaltet. Man könnte herzhaft lachen angesichts der Absurdität der Lage.

      1. Absurd ist glaube ich das falsche Wort. Merz und seine Kollegen halten sich für mächtig wichtig, aber wie sie schon schreiben, die tatsächlichen Verhandlungen führen Andere. Die Politiker sind schlechte Laienschauspieler, die ein wirklich schlechtes Politiktheater aufführen, welches folgenlos ist. Die Entscheidungen treffen offenbar Andere. Wozu brauchen wir diese eigentlich machtlosen Kastraten? Dem Wohl des deutschen Volkes, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden, das Grundgesetz zu achten und so weiter tun sie ja offenbar nicht. Teuer und nutzlos. Ich glaube insgeheim wissen die das auch, und schlagen deswegen so autoritär um sich bei der leisesten Kritik.

    2. heute Morgen in der Berliner Zeitung gelesen….

      „So ist in vielen Pressetiteln gerade zu lesen, Merz habe bereits einen diplomatischen Erfolg verbuchen können, da sich am Sonntag eine hochrangige amerikanische Delegation mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Kanzleramt traf. Tatsächlich jedoch hatte Merz, wie aus Regierungskreisen verlautete, über eine kurze Begrüßung hinaus NICHT an den Gesprächen teilgenommen. Er stellte damit faktisch lediglich die Räumlichkeiten für das Treffen zwischen Ukrainern und Amerikanern zur Verfügung, ohne selbst an den Verhandlungen beteiligt zu sein. Die Amerikaner nehmen die Deutschen offenbar noch nicht als ernst zu nehmende Akteure wahr, sondern eher als Gastgeber. Merz und Deutschland erscheinen damit mehr als Organisatoren denn als Verhandlungspartner, man könnte dies auch als Blamage interpretieren.“

      Merz wurde also nicht zu den Verhandlungen zugelassen, das ist gut so! Hoffentlich stimmt das auch?

      1. „heute Morgen in der Berliner Zeitung gelesen…

        Tatsächlich jedoch hatte Merz, wie aus Regierungskreisen verlautete, über eine kurze Begrüßung hinaus NICHT an den Gesprächen teilgenommen. Er stellte damit faktisch lediglich die Räumlichkeiten für das Treffen zwischen Ukrainern und Amerikanern zur Verfügung…“

        „Merz wurde also nicht zu den Verhandlungen zugelassen,“

        Sie sollen vielleicht nicht so viel Lügenpresse von Ex-SED-STASI-Leuten konsumieren…

        https://table.media/europe/analyse/ukraine-verhandlungen-merz-ist-zu-europas-primus-inter-pares-aufgestiegen

        1. bitte die Berliner Zeitung nicht mit der BZ verwechseln!
          Wenn Sie Informationen ueber die SED Taetigkeit der Eheleute Friedrich haben, dann bitte eine Quelle,

              1. „Jetzt werde ich nur noch die Springer Presse, den Spiegel etc lesen, will mich ja weiterbilden!“

                Warum so bescheiden in der Futur I -Form? Weiter unten haben Sie schon um 17.01 zu Protokoll gegeben:

                „Seit 14:30 Berliner Zeit sollen, so berichtet die Bild-Zeitung,…“

  2. Spätestens nach heute – nach den ganzen überaus erquicklichen ‚Ergüssen“ und „Standortbestimmungen“ zu Frieden und Freiheit auf der Scheibe dürfte es doch wahrlich angebracht wenn nicht notwendig erscheinen, dem ganzen Affenzirkus ein finales Ende zu verpassen. Muß ja nicht unbedingt per ’nuclear war‘ sein, ‚for the planets own security‘ aber mehr als zu empfehlen! Nur so kann doch gewährleistet werden, dass – ähnlich dem Jurassic park – sich nicht noch einmal Kreaturen ausbrüten lassen wie die von Führer-Kanzlern oder Sekretär-Generalen (zu letzterem unbedingt – falls noch nicht geschehen – die ‚Rede‘ hier auf OM geflissentlich z.K. nehmen).

  3. Undemokratische Systeme ohne Diktator werden repräsentative Demokratie genannt. Bei jeder Wahl gibt der Bürger seine Rechte an Personen ab, die nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. So entstehen daraus Oligarchien, aber die wenigsten begreifen das

  4. „Seit 14:30 Berliner Zeit sollen, so berichtet die Bild-Zeitung, im Bundestag bei vielen Abgeordneten und Fraktionen der Internet-Zugang gestört sein. Die Störung dauert noch an. Auch das Intranet des Bundestags sei betroffen.
    Die Störung wurde von der Bundestagsverwaltung bestätigt, aber es gab noch keine Angabe, wann das Netz wiederhergestellt sein soll.“ das ist RT eine Eilmeldung wert!
    Ich wette der …………..wars!

    1. Nein, ich bild(e) mir jetzt nichts ein, aber nachdenklich stimmt es mich doch. Um 14:19 habe ich hier auf OM die Übersetzung der Rutte-Rede hier eingestellt. Sollte das vielleicht einen shit-storm unter den Abgeordneten ausgelöst haben? Wundern würde mich das doch wirklich nicht, durften sie doch endlich einmal erfahren haben, was genau dieser Pursche denkt, plant und vorhat.

  5. Das Kapital regiert, nicht der Diktator.
    Das war auch schon früher so, aber durch den Neoliberalismus, der wirklich alles dem kapitalistischen Verwertungszwang unterwirft, braucht man nur noch eine Marionette, die jederzeit austauschbar ist.
    Einfach weil es jetzt eine weltumspannende globale Architektur der Unterwerfung ist, die uns alle knebelt.
    Staatenübergreifend, nicht wähl und schon gar nicht abwählbar.
    Die Superreichen bestimmen jetzt wo es langgeht.
    Ihre Lobbyisten sitzen sei mehreren Dekaden überall in den Gremien und schreiben die Gesetze die die Funktionselite in Form von herangezüchteten Politikern völlig ohne Skrupel umzusetzen hat.
    Die Medien sind ebenfalls fest in ihrer Hand, die praktisch jede Information nur noch gefiltert wiedergibt.
    Bald, dann auch KI gestützt und vollautomatisch durch E-ID und CBDC´s in privater Hand, hat der ganze Staat dann eigentlich nur noch einen rein illusorische repräsentative Form.
    Die Zeit des Konsums ist endgültig vorbei.
    Es wird deindustrialisiert, überwacht, kontrolliert, manipuliert und am Ende versklavt
    Die Elite möchte nämlich die letzten verbleibenden Ressourcen zukünftig nicht mehr mit uns teilen.
    Das ist der Plan der herrschenden Klasse und wenn ihr das nicht wollt, dann müsst ihr all diese Leute beseitigen, sonst beseitigen sie uns, weil sie uns eben auch nicht mehr brauchen.

    1. Ich finde die russische Methode besser: Ab nach Sibirien ins Arbeitslager mit den Oligarchen und ihrem Gesinde aus Politik, Medien und Kultur.

      Ansonsten guter Beitrag, gratuliere!

    2. Nu klor, erfahren werden wir wohl kaum etwas davon, aber wenigstens wurde es verlautbart. Und es gibt sie also doch!!!
      https://seniora.org/politik-wirtschaft/politik/auf-dem-rossio-roch-es-nach-revolution-in-portugal-fand-am-11-dezember-ein-generalstreik-statt
      Nicht zum ersten Mal erwähne ich hierzu ein japanisches Sprichwort: „der, der den ersten Stein aufhob, war dann der, der den Berg abtrug.“ Fünfzig Jahre ist es her, dass ich erleben durfte, dass es doch schon mal klappen könnte. Eben da, ein Jahr nach Entsorgung des ‚ewigen Diktators‘ , der Startschuss zum Ausrücken – man beachte – von einem katholischen Klostersender aus mit einem kleinen Liedchen „Grandola vila morena“ am 25.4. 74 (ist das ein. Zeichen, Vieresiebz’ge?).Ein Jahr später auch meine Wenigkeit vor Ort. Die landesweiten, täglichen Lautsprecherdurchsagen auf den Dorfplätzen – gestatten, das Revolutionskommandos des Militärs (tja doch, das funzt auch mal!) – obwohl ich sie nicht verstand – verursachten selbst bei mir ein ‚heißes Herz‘.
      Klar, bald darauf war es dann aus die Maus. aber sie hatten erst einmal ihre Müde die internationalen, aufmüpfigen Konterrevolutionäre, Wie man leider erst später erfahren durfte, in der politisch rührigen ersten Reihe auch ein Willy mit seinen Sozen, dabei hätten die es besser wissen müssen. ‚Grandola‘ stand schließlich für …. die Wahl darauf war nicht überraschend. Victor Jara, sein Komponist war ein Jahr zuvor „im ach so sonnigen Fussballstadion zu Santiago de Chile“ (siehe hierzu u.a. Wiki: Heck, Bruno) von einer anderen Sorte putschender Militärs entleibt worden. Besonders mitfühlend sogar, wie weiß Wiki zu vermelden: „Seine Peiniger brachen ihm die Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte.“ 44 Gewehrkugeln sollen dann aber zum Ende gereicht haben. Nein, in Portugal war man doch etwas netter. Der populärste von den Obristen, die das Land dankenswerterweise vom ‚Terror-Diktatoren‘ befreit hatten, brauchte dann auch nur bis kurz vor Lebensende im Kerker dahinzurotten. Aber trotz allem … auch ein Jericho brach nicht nach der ersten Umrundung mit Trommeln und Schalmeien ein.

      Nicht der Diktator also, das Kapital – da hat der Motonome wahrlich recht – ist es, das … oder besser gesagt, die Gier ist es, die – wenn der plebs nicht aufwacht und aufpasst – sich die Macht und nicht nur die Re-gier-ung krallt.

  6. Hinter Hitler oder Mussolini standen ja auch interessierte Kreise. Der aus einfachen Verhältnissen stammende und etwas verwahrloste Veteran des großen Krieges Hitler wurde ja bekanntlich von einer industriellen Gattin eingekleidet und etwas zivilisiert. Stinnes glaube ich? Und dann weiter wurde seine Bewegung ja auch mit Geld gefördert. So ein Flugzeug für seinen Wahlkampf war ja neu und teuer damals. Mussolini ist ja auch nicht aus dem Nichts erschienen. Die anderen faschistischen Diktatoren der damalige Zeit sind ja genauso nicht aus dem Nichts gekommen sondern wurden auch an die Macht gebracht. Von daher haben die Strippenzieher sich einen vielversprechenden Anführer gesucht und diesen dann gefördert. Das Neue ist, daß es diese charismatischen Leitfiguren heute nicht gibt. Die Machtausübung hat das jetzt wegoptimieet in der neuesten Iteration. Stattdessen bekommen wir Langweiler wie Merz oder Skandalnudeln wie Trump ins Fernsehen gesetzt. Oder man nimmt direkt einen ausgebildeten Schauspieler wie in der Ukraine.

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