Tod mit dem Turban

Kabul bei Nacht
Danial, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Es gab eine Zeit, in der in Afghanistan kein Krieg herrschte – und ein Serienmörder die Bürger Kabuls in Angst und Schrecken versetzte. Eine Spurensuche.

Lange bevor ich zum ersten Mal nach Afghanistan reiste, blätterte ich in der Onlineausgabe des SPIEGEL als mir ein historischer Beitrag über das Heimatland meiner Eltern auffiel. „Als in Kabul Hippies tanzten“, titelte das Nachrichtenmagazin in nostalgischer Manier. Natürlich kannte auch ich diese Zeit aus Erzählungen. Es waren die Jahre, in denen meine Eltern ihre Jugend erlebt hatten. Ich wuchs mit den schönen Geschichten aus jenem kriegslosen Afghanistan, das es heute nicht mehr gibt, auf.

Es war die Ära des letzten Königs, Mohammad Zahir Shah, der manchmal allein durch die Stadt spazierte, um sich nach dem Wohl seiner Bürger zu erkundigen. Doch für einen kurzen Moment wurde der rosige SPIEGEL-Beitrag düster. Eines der Bilder auf der Fotostrecke zeigte einen stämmigen Mann mit Karakul-Mütze und Schnurbart – kurz vor seiner Erhängung. Es handelte sich um Abdul Jabar, den womöglich ersten und berühmtesten Serienmörder Afghanistans. Während ich las, dass ihm mehr als 300 Morde zugeschrieben wurden, fiel ich fast aus den Wolken. Ein derart brutaler Killer im idyllischen Kabul meiner Eltern und mir wurde noch nie von ihm erzählt? Ich war schockiert.

Der Turban: ein Symbol für Ehre, Respekt und Stolz

„Ich hatte von ihm gehört und deshalb manchmal Angst, allein durch die Straßen zu gehen“, erinnerte sich etwa meine Mutter, als ich sie auf Abdul Jabar ansprach. Als der Mörder in der afghanischen Hauptstadt, die damals aufgrund ihrer Größe ziemlich überschaubar war, wütete, war sie ein Kind. Meine Mutter ging in die Habibia-Schule im Westen der Stadt, in der gefühlt nahezu das gesamte afghanische Bildungsbürgertum Abitur gemacht hat. Mein Vater hingegeben besuchte die deutsche Amani-Oberschule, und er hatte damals noch mehr Angst als meine Mutter. Denn Abdul Jabar Opfer waren hauptsächlich junge Männer, unter ihnen auch einige Minderjährige, aus ärmeren Schichten. Er lockte sie meist mit Arbeitsversprechen an abgelegenen Orten, um sie zu vergewaltigen und im Anschluss zu ermorden. Auffällig war auch die Tatwaffe, die Jabar benutzte:  Die Turbanschleifen des Opfers.

Damit brach Jabar mehrere Tabus innerhalb der patriarchalen Gesellschaft des Landes. Zum einen gab es die Vergewaltigung, die das männliche Opfer entwürdigte. Zum anderen wurde dieser Akt vom Mörder „gekrönt“, da er nicht zu irgendeiner Mordwaffe griff, sondern ausgerechnet den Turban seines Opfers benutzte, um den Mord auszuüben. Ein Turban gilt in Afghanistan bis heute als unantastbar. Er ist ein Symbol für Ehre, Respekt und Stolz. Dass der Täter ihn für solch ein Vergehen beschmutzte und damit verdeutlichen würde, wie wenig ihm seine Opfer wert seien, war für die damaligen Beamten an den Tatorten besonders schockierend.

Dennoch war man ratlos und wusste nicht weiter. Es fehlte nicht nur an forensischen Mitteln und anderweiten Arbeitsressourcen, sondern auch an Zeugen und allgemeinem Interesse. De facto hätte fast jeder erwachsene Mann in Kabul eine solche Tat ausführen können, und zwar aus den verschiedensten Beweggründen. Rache, Ehrenmord, Raubmord oder ein klassischen Sexualdelikt. Praktisch alles kam in Frage. Hinzu kam: Wer interessierte sich schon für das Opfer? Es handelte sich in vielen Fällen um Tagelöhner aus dem Nirgendwo, meist Mitgliedern der unterdrückten Hazara-Minderheit, deren Jungs und Männer in die Städte zogen, um Arbeit zu finden. Dass dieser Umstand später eine wichtige Rolle spielen würde, war den Kabuler Polizisten zum damaligen Zeitpunkt noch unklar.

Dutzende Delikte eines noch unbekannten Täters

„Die Morde häuften sich und der Druck auf die Regierung wurde größer“, erinnert sich Abdul Kadir Mohmand, als ich Jahre nachdem dem Erscheinen des SPIEGEL-Beitrags mit meiner eigenen Spurensuche begonnen hatte. Mohmand stammt aus einer einflussreichen Familie aus dem Norden Kabuls. Heut lebt er im US-Bundesstaat Michigan inmitten von Wäldern und Seen. In Kabul wuchs privilegiert auf und genoss seine jungen Jahre als Sohn des Polizeikommissars Sardar Mohammad Khan Mohmand. Aufgrund seiner direkten Art verscherzte es sich Khan oft mit seinen Vorgesetzten, weshalb man ihn in Randdistrikte verbannte, wo meist nichts los war. Dies änderte sich mit den „Turbanmorden“. Plötzlich häuften sich die Leichen in Khans Zuständigkeitsbereich: Arme Arbeiter, Männer mittleren Alter, einige Jugendliche. Die Angst ging um in Kabul und niemand wusste, wann und in welcher Form das Grauen auftauchte – und wie es aufzuhalten war.

Mitte der Sechziger ging man bereits von dutzenden Delikten aus, die vom damals noch unbekannten Abdul Jabar begangen wurden. Khans Zuständigkeitsbereich rotierte in diesen Jahren, doch immer wieder landete er an den Tatorten in den Bergen. Kabul zog damals, ähnlich wie in den letzten Jahren, die Menschen aus ganz Afghanistan aufgrund von zwei Dingen an: Arbeit und Bildung. Die afghanische Hauptstadt war die einzige, echte Metropolis im gesamten Land. Was dort geschah, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „In Kabul herrschten Aufruhr und Angst. Das erzählten uns jene, die zurückkehrten, um ihre Familien zu besuchen“, erzählt etwa Masoud Qani, der seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt. Als der Mörder in Kabul wütete, war Qani noch ein Kind und lebte in Baghlan im Norden des Landes – hinter dem berühmten Salang-Pass.

Heute dauert die Fahrt nach Baghlan rund vier Stunden, damals waren es mindestens zwölf. Die Nachrichten über den Kabuler Serienmörder erreichten dennoch die afghanische Peripherie. „Viele hatten Verwandte in Kabul und studierten oder arbeiteten dort. Der Verkehr mit der Hauptstadt war auch damals ein reger und die Mundpropaganda konnte niemand aufhalten“, erinnert sich Qani, der sich als Hobbyhistoriker sieht. Seit er in Rente ist, beschäftigt er sich intensiver mit der afghanischen Geschichte. Diese sei in vielerlei Hinsicht nicht ausreichend dokumentiert worden. Hinzu käme, dass viele Dokumente vernichtet wurden oder verschollen sind. Dies betreffe auch die Akte des Kabuler Serienmörders, weshalb man sich hauptsächlich auf zuverlässige Zeitzeugen verlassen müsse.

Die Hazara: ganz unten

Mitte der Sechziger hatte der „Turbanmörder“ Abdul Jabar bereits 150 Männer auf dem Gewissen. Mehrere Familien hatten sich zusammengeschlossen, um Druck auf den König auszuüben. Die meisten von ihnen waren Hazara. Der Monarch stand in einem besonders schlechten Licht, da sein propagiertes „Jahrzehnt der Demokratie“, in dem Frieden und Freiheit dominieren sollten, von einem unliebsamen Mörder gestört wurde. Auch Kommissar Khan und seine Kollegen wirkten gestresster denn je zuvor.  Hilfe gab es sogar aus Deutschland, oder besser gesagt: Sie war bereits da. 1968 trat der bayrische Kriminalrat Paul Günther seinen Dienst in Kabul an. Bereits zuvor waren die Deutschen im Aufbau der afghanischen Polizei involviert. Später wird er sich, vor allem in seiner Heimat, als federführendes Element hinter der Verhaftung des Mörders inszenieren. „Das hatte wenig mit der Realität zu tun. Am Ende war es unsere eigene Polizei, die den Mörder stellte“, behauptet Abdul Kadir Mohmand bis heute.

Letzten Endes war es ein Kabuler Polizeibeamter, der Abdul Jabar auf frischer Tat ertappte und stellte. Überraschenderweise ähnelten die turkisch-mongolischen Gesichtszüge des Mörders jenen seiner Hazara-Opfer. Dieser Aspekt ist ebenso erwähnenswert wie die teils komplizierte und verwobene Geschichte Afghanistans mitsamt seiner zahlreichen Völker und Stämme. Der moderne afghanische Nationalstaat wurde von der Volksgruppe der Paschtunen gegründet. Eine zentrale Rolle im Staatswesen spielten persischsprachige Gruppen wie die Tadschiken, Usbeken oder etwa auch die Qizilbash. In der Hierarchie ganz unten befanden sich die Hazara.

Sie sind mehrheitlich Angehörige des schiitischen Islams und haben eine mongolisch-phänotypische Erscheinung, weshalb sie seit Jahrhunderten Rassismus, Diskriminierung, Vertreibung und Massenmord ausgesetzt sind. Zum Ende des 19. Jahrhunderts ereignete sich ein Genozid gegen die Hazara, der vom damaligen Emir Abdur Rahman Khan initiiert wurde. Eine Aufarbeitung des damaligen Geschehens hat bis heute nicht stattgefunden. Meine Eltern erinnern sich bis heute an Haushaltskräfte, Laufburschen, Diener oder Bauarbeiter, die allesamt Hazara waren.

Tod durch den Strick

Laut Abdul Kadir Mohmand liegt der Verdachte nahe, dass auch Abdul Jabar ein traumatisierter Hazara war, der begann, sein eigenes Volk zu hassen. „Man muss bedenken, dass damals viele Gräuel nie ausgesprochen wurden. Die Hazara hatten praktisch einen Sklavenstatus und wurden auch dementsprechend behandelt. Es war keine Seltenheit, dass reiche Gutsherren sich eine Hazara-Frau hielten und mit ihr Kinder zeugten, die später enteignet oder verbannt wurden“, so Mohmand. War Jabar-e Qatel, Jabar, der Mörder, wie er bis heute genannt wird, das Produkt einer solchen Zwangsehe? Oder hatte er seine Gesichtszüge nur einem genetischen Zufall zu verdanken?

Eine viel konkretere Antwort auf die Motive Abdul Jabars hat der Buchhändler Shams ul-Haqq. Seit mehr als drei Jahrzehnten verkauft er seine Bücher nahe des Großen Basars in Kabul. Ul-Haqq hat den Aufstieg und Fall zahlreicher Regierungen erlebt. Mittlerweile verweilt er unter dem neuen Taliban-Regime und versucht weiterhin, über die Runden zu kommen. In seinen Regalen findet man Marx‘ „Das Kapital“, Che Guevaras Tagebücher oder Hitlers „Mein Kampf“ neben den Biografien afghanischer Warlords und Politiker. Im Grund genommen ist Shams ul-Haqq selbst ein wandelndes Geschichtsbuch, und ein Zeitzeuge, der sich auch an Abdul Jabar gut erinnern kann. „Meine Familie kannte seinen Vater. Wir lebten im selben Stadtteil“, erinnert sich der weißbärtige Buchhändler heute. Afghanistans erster Serienmörder sei kein Hazara gewesen, sondern habe diese gehasst. Der innerafghanische Rassismus sowie sexueller Missbrauch, der auch im damaligen Alltag versteckt stattfand, hätten dabei eine große Rolle gespielt.

So erzählt Shams ul-Haqq, dass Abdul Jabar während seines Armeedienstes von einem höherrangigen Soldaten, der zufällig ein Hazara war, belästigt wurde. „Er wollte ihn zu sexuellen Gefälligkeiten überreden. Abdul Jabar machte nicht mit und ließ sich auch nicht missbrauchen, aber es löste etwas in ihm aus“, sagt ul-Haqq. Der Mörder handelte allein, doch zeitgleich nutzte er die gesellschaftliche Stellung der Hazara zu seinem Vorteil aus. Er wusste, dass er für eine lange Zeit, vielleicht sogar für immer, ungeschoren davonkommen würde, da sich abgesehen von den Hazara selbst niemand für deren getötete Söhne, Brüder oder Väter interessieren würde. Niemand würde sich für die „Schlitzaugen“ oder „Mäusefresser“, wie Hazara meist sogar bis heute verunglimpft werden, interessieren. Abdul Jabar behielt recht mit seiner Annahme. Er konnte ein Jahrzehnt lang vergewaltigen und morden und damit ein ganzes Land in Aufruhr bringen, während an seiner Stelle zwei Mal ein Unschuldiger zum Schafott schreiten musste. Wie viele Menschen Jabar, der Mörder, tatsächlich auf dem Gewissen hat, kann bis heute niemand sagen. Kabuls Umland ist aufgrund der Jahrzehnte des Krieges voll mit verschollenen Leichen. Am 21. Oktober 1971 wurde Abdul Jabar auf Anordnung des Königs Zahir Shah erhängt. Die Vollstreckung gehörte zu den wenigen Todesurteilen einer längst vergessenen Ära.

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2 Kommentare

  1. Ich finde die Erzählung interessant, weil sie andeutet, dass man an ferne Länder mit gänzlich anderen kulturellen und zivilisatorischen Fundamenten nicht die eigenen (westlichen) Maßstäbe anlegen sollte, und insbesondere im Fall Afghanistans all die Erzählungen, die die Wende hin zum von Krieg bestimmten Land erklären wollen, mit Vorsicht genießen sollte.

    Schon der König versuchte das Land mit geduldiger Gewöhnung an moderne Entwicklungen heranzuführen: “Jahrzehnt der Demokratie”. Biss sich aber an den Mullahs die Zähne aus und es wuchs bei jungen Kabulern immer mehr Drang zur Veränderung.

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