Was für ein fantastisches Wort, das über sich hinausragt! Man kann die Bedeutung physisch und vor allem psychisch spüren – gerade in diesen Noch-Corona- und Fast-Weltkriegszeiten. Man ist müde, und eben nicht nur das eigene Material. Man will nichts mehr davon wissen, man hat genug davon. Man kann die Spannungsrisse hören, die mit der Materialermüdung einhergehen.
Mit diesem Namen hat Dietrich Brüggemann seinen Roman betitelt. Bei der Buchvorstellung im Westendverlag am 21. Oktober 2022 sind mir drei Dinge aufgefallen:
Das Buch ist sehr dick und ich schrecke für gewöhnlich bei so viel Stoff zurück. Aber dann hat mich bereits eine Passage mitgerissen, die Dietrich Brüggemann vorgelesen hatte: Die Beschreibung einer Autofahrt. Sie war zum Schreien lustig und gekonnt. Denn es ist verdammt schwierig, ein eigentlich hundsgewöhnliches Ereignis so aus seiner Banalität zu befreien. Mit jedem Satz spürt man hingegen, dass es eigentlich einen Weltkrieg im Kleinen illustriert. Der eigentliche Sinn einer Autobahn, eines Autos ist völlig verloren gegangen: Es geht nur noch um Egoshooting, um den Rest-Sinn im Leben: Überholen, koste, was es wolle.
Die zweite Sequenz dieses Abends betraf die Frage an Dietrich Brüggemann, wie er die Kriegskanonen gegen die Videoclips zu Corona-Zeiten überstanden bzw. verkraftet hat. Es ging um die Clip-Serie:
#allesdichtmachen (aus dem Jahr 2021)
Seine Antwort wir überraschend verletzungsfrei – auch wenn man den Selbstschutzfaktor nicht unbeachtet lassen darf. Wie ging er mit den Vorwürfen um, er sei „Drahtzieher“ einer bösartigen Verschwörung gegen die „Solidargemeinschaft“. Er und seine MitstreiterInnen hätten die Opfer, die KrankenpflegerInnen, die Corona-HeldInnen (im Billiglohnsegment der Gesundheitsindustrie) verhöhnt und dem Spott ausgeliefert?
Für ihn sei es weniger darauf angekommen, nun ganz rational alle Vorwürfe zu widerlegen. Er habe große Zweifel, dass es um einen argumentativen Diskurs ginge. Im Gegenteil, man wollte diesen unter allen Umständen verhindern. Also kann die Aufklärung nur darüber gelingen, dass man die Vorwürfe bis zur Kenntlichmachung maximiert, also die Affekte, die hier angesprochen werden, bis zur Ermüdung überreizt.
Also genau die Methode, der sich viele der Clips bedient hatten. Einen Clip der Schauspielerin Kathrin Osterode möchte ich besonders in Erinnerung rufen. Denn in diesen vielschichtigen Corona-Ausnahmezuständen war ganz wenig witzig! Aber dieser Clip hat mich zum Weinen gebracht.
Kathrin Osterode sitzt zuhause, in ihrem Homeoffice auf der Coach. Alles wirkt jung und modern, aufgeräumt und clean. Sie will die Corona-Regeln einhalten, sie will sie auch in ihr Familienleben integrieren. Sie ist, das spürt man sofort, eine aufgeschlossene, ganz coole Mutter, die nun zu uns spricht:
„Für viele ist das Virus ja abstrakt. Für Kinder ist es das aber ganz besonders. Damit sich aber auch meine Kinder verantwortungsvoll verhalten, haben wir bei uns zuhause die Inzidenz-Regel eingeführt. Jeden Morgen schreiben wir hier den gültigen Inzidenzwert auf diese Tafel, um das Ganze für die Kinder spürbar und erlebbar zu machen. Und deshalb hat dann dieser Wert (sie macht nun das Licht dieser Schautafel an) auch ganz konkrete Auswirkungen auf das, was wir als Familie dürfen und eben nicht. Ab einem Wert von 100 gibt s zum Beispiel sofort Fernseh- und Internetverbot. Ab einen Wert von 80 gibt es lediglich keine Süßigkeiten und nur einmal am Tag raus. (…) Und wenn dann hier irgendwann einmal eine 30 steht, dann – das ist fest versprochen – dann machen wir alle zusammen eine Fahrradtour. So. Und damit das aber auch möglich wird, gibt es eben ab einem Wert von 150 kein Abendessen. Ab einem Wert von 200 Isolation im eigenen Zimmer und ab einem Wert von 250 wird das erste Kind zur Adoption freigegeben. Ab einen Wert von 300 dann das zweite. (Die alles opfernde Mutter macht eine kurze Pause) Bitte, bitte helfen auch Sie, dass ich meine Kinder behalten darf.“
Ich konnte mich wegschmeißen vor Lachen. Das fanden andere so gar nicht witzig. Dabei machte ich eine besondere Beobachtung, die bereits weit über Corona hinauswies:
Es waren nicht die Folgsamen, die es gewohnt sind, auch widersinnige Anweisungen zu befolgen, die so dermaßen empört über diese Clips waren. Die damit seit Jahrzehnten zu leben haben, konnten lachen, sogar über sich selbst, weil sie es gewohnt sind, in diesem Irrsinn zurechtzukommen – schon lange vor Corona.
Aber die „Neuen“, die jetzt zur Mehrheit dazugehören (wollen), die genauso und doch anders/divers darin sein wollen, fühlen sich davon angesprochen. Sie spüren den Stachel, sie wissen, was sie einmal wussten, sie wissen, was sie hinter sich gelassen haben.
Unter diesen „Neuen“ sind eben auch viel zu viele Linke, die eigentlich bestens zurechtkommen, auch mit Übertreibungen. Ganz beliebt ist unter linken Gegendemonstrant*innen zum Beispiel die Parole „Impfpflicht für Aluhüte“. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es gegen diese autoritäre Parole lauten und deutlichen Widerspruch gab.
Doch es gab und gibt dabei einen gewaltigen Unterschied: Die Video-Clips #alles dichtmachen – nie wieder aufmachen hatten einen erkennbar spielerischen Charakter.
Die Parole „Impfpflicht für Aluhüte“ als staatstragender Akt gegen Demonstrationen von GegnerInnen der Corona-Maßnahmen war ernst gemeint.
Man wird ihn spüren lassen, was es heißt, hier nicht freiwillig und selbstoptimiert mitmachen … zu dürfen
Dietrich Brüggemann, der „Drahtzieher“ dieser Corona-Intervention kann auch heute schreiben, was er will. Er kann auch einen Roman wie den hier erwähnten schreiben. Dieser Roman kann auch gut sein, wie ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung befand. Aber man wird ihm die Beteiligung an diesen Clips nie verzeihen. Schon gar nicht, weil er trotz des entfachten Sturms der Empörung und der vielfachen Drohungen, die Beteiligten auf die „schwarze Liste“ (öffentlich-rechtlich-privater Anstalten) zu setzen, nicht klein beigegeben hat.
Und das tat er ohne Übertreibung sehr gut: Der „Tagesspiegel“ engagierte wie ein zweitrangiger Geheimdienst eine „Recherchegruppe“, die herausfand, was herausgefunden werden sollte: Die Video-Clips seien ein Machwerk von „rechts-offenen“ Teilnehmern und Dietrich Brüggemann sei der Chef dieses Unternehmens. Dietrich Brüggemann schaffte es, den „Tagesspiegel“ dazu zu bringen, eine Gegenrede zu veröffentlichen, in der er unter anderem ein Geheimnis lüftete:
Die Suche nach „Hintermännern“ geht ins Leere, suchen Sie lieber nach den Vordermännern, und da müssen Sie nicht suchen, die stehen vor Ihrer Nase. Ich habe mich genau deswegen mit einem Video an der Aktion beteiligt, obwohl ich kein Schauspieler bin: Ich wollte eben nicht der strippenziehende Hintermann sein, der dann von eifrigen Journalisten mit Gegen-Rechts-Tunnelblick ans Licht gezerrt wird, sondern ein öffentlich sichtbarer Vordermann. Und nein, fundamentale Kritik an unserem schlecht funktionierenden „Lockdown“ ist nicht „Querdenken“ und nicht „rechts“, sondern eine sehr legitime Position, die von schätzungsweise vielen Millionen Menschen hierzulande geteilt wird, und der AfD spielt man allenfalls dann in die Hände, wenn man all diese Menschen mit dem Hinweis mundtot macht, sie seien „rechts“ oder „rechtsoffen“ oder „Verschwörungstheoretiker“ oder was auch immer.
Diese Richtigstellung wird an dem verteidigungslosen Medien-Urteil nichts ändern. Im Gegenteil: Man wird ihn spüren lassen, was es heißt, hier nicht freiwillig und selbstoptimiert mitmachen … zu dürfen.
Wie schnell das geht, findet sich auch in der Erwiderung:
Die deutschsprachige Presse (also auch in Österreich und der Schweiz) hat den Rufmordversuch fröhlich abgeschrieben, und man darf gespannt sein, ob sie diese Klarstellung auch abschreiben. Für den Roman, den ich allmählich mal weiterschreiben sollte, muß ich mir einen neuen Verleger suchen, denn der bisherige möchte den Vertrag möglichst diskret auflösen, hätte gern den Vorschuß zurück, bezieht sich dabei explizit auf den Tagesspiegel und hielt es nicht für notwendig, vorher mit mir zu reden.
Schon allein deshalb werde ich den Roman lesen.
Wer das Buch bereits gelesen hat, kann uns gerne ein paar prägnante Eindrücke zukommen lassen.
Quellen und Hinweise:
Webseite von „alles dichtmachen – nie wieder aufmachen“: https://allesdichtmachen.de/
u.a. Jörg Bundschuh: https://www.youtube.com/watch?v=9Obs9Pz-IXs
u.a. Nadja Uhl: https://www.youtube.com/watch?v=3yENiy9TnuE
u.a. Volker Bruch: https://www.youtube.com/watch?v=sOCi3B9wJ5U
u.a. Kathrin Osterode: https://www.youtube.com/watch?v=nxN7fnJNCK0
Was machen wir hier eigentlich? Dietrich Brüggemann: https://wolfwetzel.de/index.php/2021/06/14/was-machen-wir-hier-eigentlich/
Alles dichtmachen – Ein tolles Schauspiel mit Michel*ine als Hauptdarsteller*in, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2021/04/26/alles-dichtmachen-ein-tolles-schauspiel/
Ähnliche Beiträge:
- Dietrich Brüggemann: “Ich war selber immer links, finde die Linken aber immer autoritärer”
- “120 Jahre alt zu werden, ist keine Utopie mehr” – Interview mit Dietrich Grönemeyer
- Lügen durch Weglassen
- »Getarnte Nazis erkennt man am Beifall von anderen Nazis«
- Pistorius ist ein Angstmacher, und Angst ist ein Gehirntöter
Brüggemann zu lesen kommt noch…
Aber Herr Zimmermann
https://www.jandavidzimmermann.com/post/abgr%C3%BCndige-solidarit%C3%A4t
hat sehr gut beschrieben wie das mit der Solidarität, auf der einen Seite Corona und dann auf der anderen Seite der Ukraine getrieben wird.
Danke für diesen Hinweis!
Die wirklich beste Bemerkung ist für mich diese:
„Solidarität hat ein Doppelgesicht: je mehr sie den persönlichen Lebensbereich betrifft, desto geringer ist sie. Mathematisch gesagt: die Solidarität nimmt mit wachsender Entfernung linear (manchmal auch quadratisch) zu und umgekehrt.“ (Erich Ledersberger)
Auch von mir vielen Dank für den Hinweis, Herr Zimmermann fast das Elend treffend zusammen.
Auf der Wikipedia-Seite zu #allesdichtmachen sind die Aktionsteilnehmer, welche ihre Videos meist auf öffentlichen Druck zurückgezogen haben, mit einem roten X markiert.
In der Hochzeit der RAF wurden auf den Fahndungsplakaten die festgenommenen – oder getöteten – Terroristen auf ganz ähnliche Weise “markiert”…
Ja, das Kreuz ist dasselbe
Nochmal in Gänze:
Ja, das Kreuz ist dasselbe. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man Menschen mit einer Waffe (RAF) zum Feind macht oder jemanden, der “nur” eine andere Meinung hat.
Meinungen können manchmal gefährlicher sein als Schießprügel. Und schwieriger zu bekämpfen als die Meinungsträger.
Dafür wurden im Mittelalter die Scheiterhaufen angezündet, als man das erkannte. Heute nur noch selten so öffentlich und stinkend, da kommt die Meinungsträgervernichtung mit vornehmen Formulierungen daher.
Meine Hochachtung für Dietrich Brüggemann (und auch die anderen Mitmacher von #AllesDichtmachen)!