Klassenkampf nach unten

Arbeitslose, große Depression
Mark Benedict Barry, CC0, via Wikimedia Commons

Inflation? War da was? Wie die Bundesregierung Gutverdienende begünstigt und Geringverdiener und Bürgergeldbezieher gegeneinander ausspielt.

Viel Lob hat die vielgescholtene Ampel in der Qualitätspresse für ihre Bürgergeld-Pläne geerntet. Zu der Frage, ob die Neuregelungen wirklich geeignet sind, Haushaltslöcher zu stopfen und mehr Menschen in Jobs zu vermitteln, schweigen sich die Kommentatoren weitgehend aus. Die meisten Kommentare kreisen vielmehr um die vermeintliche Befriedigung des gesunden Volksempfindens durch schärfere Sanktionen und weitere Schikanen für Bürgergeldempfänger, die nicht bereit sind, den nächstbesten Drecksjob anzunehmen.

So glaubt Hajo Zenker von der Mitteldeutschen Zeitung zu wissen, dass „viele Bürger, die einer Arbeit nachgehen, das Bürgergeld als Zumutung empfinden …, weil Nichtstun nach Ansicht vieler mittlerweile viel zu gut vergütet wird, zudem auch durch die Übernahme von Miete inklusive der Heiz- und Betriebskosten“. Alexander Michel vom Südkurier stellt die steile These auf, dass die SPD, die „Partei der Arbeiter und kleinen Leute“, deshalb so viele Wählerstimmen verloren habe, weil sie die Bürgergeld-Sätze erhöht „und beim Fordern starke Abstriche gemacht“ habe. Dadurch sei bei ihren Anhängern der Eindruck entstanden, „dass man mit Steuergeldern den an Arbeit wenig Interessierten ein Ruhekissen zahlen wolle“.

Friede den Steuerhinterziehern, Krieg den „Bürgergeld-Schlawinern“

Offensichtlich hat die anhaltende Kampagne von Unionspolitikern und Wirtschaftsvertretern Früchte getragen, nicht nur bei Gering- und Normalverdienern, die Neid auf die ach so gepamperten Bürgergeldempfänger empfinden, sondern auch bei pseudo-volksnahen Journalisten, die sie dazu anstacheln. Groß war die Freude auch bei Nikolaus Blome. Auf Spiegel.de jubilierte der frühere „Bild“-Politikchef: „Hurra! Hartz IV ist zurück“. Vom Bürgergeld, „zweimal stattlich erhöht und nahezu jedweder Ambition entkleidet, Arbeitslose schnell in Arbeit zu bringen“, bleibe nur der Name. Endlich werde die „Missbrauchsvermutung“ wieder „scharf gestellt“ und „die Verfolgung aller Bürgergeld-Schlawiner, die nebenher schwarzarbeiten … an den Zoll delegiert.“ Ganz großartig findet Blome auch, dass Bürgergeldempfänger ihr Schonvermögen künftig wieder schon nach sechs statt nach zwölf Monaten aufbrauchen müssen. Wie auch, dass als leicht vermittelbar geltende Bürgergeldbezieher nun jeden Monat beim Jobcenter antanzen sollen, denn „da draußen sind an die zwei Millionen Stellen frei“. Dass die Sanktionen verschärft werden, eine Pendelzeit von bis zu drei Stunden als zumutbar gelten und „Totalverweigerer“ mit Ein-Euro-Jobs an die Kandare genommen werden sollen, findet Blome natürlich ebenfalls dufte.

Vor allem aber, so scheint es, gefällt Blome die Begründung für die geplanten Neuregelungen. In dem vom Finanzministerium veröffentlichten Papier zur „Wachstumsinitiative“ der Regierung heißt es dazu: „Seit Jahren werden die sozialen Transferleistungen kontinuierlich weiterentwickelt. Um die Akzeptanz der Leistungen zu erhalten und um mehr Betroffene in Arbeit zu bringen, ist es erforderlich, das Prinzip der Gegenleistung wieder zu stärken.“ Blome übersetzt dies wie folgt: „Was die arbeitenden Steuerzahler über die Bürgergeldsätze der Langzeitarbeitslosen und die fürsorgliche Milde im Umgang mit ihnen dachten, das war den Ampelverantwortlichen bislang ziemlich schnurz. Das Wörtchen ‚Leistung‘ gab es nur mit dem Präfix ‚sozial‘. Doch fortan wird ‚Gegenleistung‘ robust ausgetextet.“

Erst schürt man Ressentiments, dann beruft man sich darauf

Ungefähr so wird es wohl auch gemeint sein. Nur werden die Bürgergeldsätze eben nicht deshalb jährlich angepasst, um den Leistungsempfängern ein noch angenehmeres Leben zu ermöglichen, sondern weil das Grundgesetz den Staat zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet. „Leider“, würde Blome wohl sagen, wie all die anderen, die sich nun freuen, dass den „Arbeitsverweigerern“ wieder die „Daumenschrauben“ angezogen werden. Ob das „Nachsteuern“, wie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) es nennt, wirklich nennenswerte Einsparungen bewirkt oder gar mehr Arbeitslose dauerhaft in Arbeit bringt, spielt für die Befürworter der Rückabwicklung des Bürgergelds keine Rolle. Vielmehr geht es darum, die Ressentiments der „fleißigen kleinen Leute“, der „Normalbürger“ oder „arbeitenden Mitte“ zu bedienen, jene Ressentiments, die man selbst mit fortwährender Hetze gegen Bürgergeldbezieher immer wieder wachruft und am Köcheln hält.

Es sind immer wieder die gleichen Geschichten, die sich anscheinend nach wie vor gut verkaufen: über das Lotterleben junger Hartzer, die noch nie gearbeitet haben; über arme Rentner und fleißige Geringverdiener, die sich über die ach so hohen Bürgergeld-Sätze empören, statt über die Unternehmer, die sie ausbeuten und die Politik, die das zulässt; und über verzweifelte Bäckermeister und Restaurantbetreiber, die kein Personal finden, obwohl sie sogar den Mindestlohn zahlen. Neuerdings sollen Bürgergeldbezieher auch noch an den steigenden Mieten schuld sein. So informierte Gabor Steingart im Focus kürzlich darüber, dass die Jobcenter häufig auch hohe Mieten akzeptierten und oft überdurchschnittlich hohe Mieten zahlten. Damit treibe der Staat die Mieten. Was leicht zu erklären ist, da knapp die Hälfte der Bürgergeldbezieher Ausländer sind, von denen sich viele noch nicht allzu lange in Deutschland aufhalten dürften. Halbwegs erträgliche Mieten zahlt aber in den meisten Städten nur, wer einen sehr alten Mietvertrag besitzt.

Wenn Wuchermieten Geringverdiener vom Arbeiten abhalten

Dorothea Siems, Ressortleiterin Wirtschaft bei der „Welt“, glaubt erkannt zu haben, dass auch das Wohngeld die Menschen vom Arbeiten abhalte. Gelesen hat sie das in einem Interview mit dem Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Sein Beispiel zitiert sie nun bei jeder Gelegenheit. Zuletzt drückte sie es wie folgt aus: Es lohne sich für eine „vierköpfige Familie mit einem Erwerbseinkommen von 3000 Euro brutto“ in München nicht, mehr zu arbeiten. Denn „bei einem kräftigen Gehaltssprung auf 5000 Euro blieben unter dem Strich lediglich 30 bis 40 Euro mehr in der Kasse, weil dann auch 1000 Euro an Wohngeld wegfallen und man außerdem mehr Steuern und Sozialabgaben zahlt.“ Auf die Idee, dass eventuell die hohen Mieten das Problem sein könnten, kommt Siems natürlich nicht, genauso wenig wie Steingart oder Fuest. Denn die regelt ja „der Markt“. Zudem sind hohe Mieten aus neofeudaler Sicht doppelt gut: Sie belohnen die sogenannten Leistungsträger der Gesellschaft – beispielsweise für die Leistung, ein Haus in München statt eines in Chemnitz geerbt zu haben – und sie erhöhen den Anreiz der weniger Begüterten, mehr zu arbeiten und helfen damit, die Löhne niedrig zu halten. Wenn da nur diese leidigen Sozialleistungen nicht wären.

Wie die Stigmatisierung von Sozialleistungsempfängern den Staatshaushalt entlastet 

Womit wir wieder am Dreh- und Angelpunkt der Debatte angelangt wären: „Leider“ lassen sich die Bürgergeld-Regelsätze kaum senken, ohne Ärger mit dem Bundesverfassungsgericht zu riskieren, auch wenn Unions- und FDP-Politiker, neoliberale Ökonomen und Journalisten nichts lieber wäre als das. Doch mit allerlei Schikanen und Sanktionen wird sich der eine oder andere schon dazu bewegen lassen, sich in den Niedriglohnsektor einzugliedern oder sich aus dem Bezug abzumelden, lautet wohl das Kalkül. Letzteres zumindest ist gar nicht so unwahrscheinlich, ist doch die Zahl der Menschen, die auf ihnen zustehende Sozialleistungen verzichten, ohnehin viel höher, als man vermuten würde, da nur selten darüber berichtet wird. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass mehr als ein Drittel der Anspruchsberechtigten auf das Bürgergeld verzichtet. Unter den Rentnern, die Anspruch auf ergänzende Grundsicherung haben, sollen es sogar 60 Prozent sein. Insofern ist die Stigmatisierung von Bürgergeldempfängern auch ein Beitrag zur Senkung der Sozialausgaben. Allein die Rentner, die keine Grundsicherung beantragen, sparen dem Staat nach DIW-Berechnungen rund 2 Milliarden Euro pro Jahr. Überdies sind Rentner und Geringverdiener, die tatsächlich weniger in der Tasche haben als Bürgergeldbezieher, die ideale Klientel, um den Groll gegen Arbeitslose und Aufstocker anzufachen.

Der aber ist Gold wert, um zu verhindern, dass das untere Drittel der Gesellschaft exklusive der Bürgergeldbezieher – die ohnehin kaum wählen gehen – auf dumme Gedanken kommt und höhere Löhne, eine wirksame Mietenregulierung oder eine Wohnungsbauoffensive, die den Namen verdient, fordert. So stellt man sich also dumm und tut so, als würde man nicht begreifen, dass die Bürgergeldsätze kräftig steigen mussten, weil die Inflation kräftig gestiegen ist, und dass die Jobcenter ihren „Kunden“ notgedrungen mehr für Miete und Heizkosten überweisen müssen, wenn selbige immer weiter ansteigen. Und so gibt man also vor, es würde einem um die soziale Gerechtigkeit gehen, die verletzt werde, wenn das „Lohnabstandsgebot“ außer Kraft gesetzt wird.

Sozialpolitik nach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben

Ginge es wirklich um soziale Gerechtigkeit, würde ein anderes Thema heiß diskutiert, über das so gut wie gar nicht berichtet wurde, außer – ausgerechnet – von der „Welt“: Knapp die Hälfte der Arbeitnehmer hat von ihrem privaten Arbeitgeber oder als Beamter vom Staat seit Oktober 2022 eine Inflationsausgleichsprämie erhalten. Im Schnitt wurden rund 2150 Euro ausgeschüttet. Von den Haushalten, die über ein Nettoeinkommen von mehr als 4000 Euro im Monat verfügen, erhielten mehr als zwei Drittel die Prämie. Von den Haushalten, die mit weniger als 2000 Euro im Monat klarkommen müssen, erhielten sie nur etwa 30 Prozent. Mehr als drei Viertel der Tarifbeschäftigten erhielten die Inflationsprämie, unter den Beschäftigten ohne Tarifvertrag waren es nur 35 Prozent. Selbstständige gingen sowieso leer aus. Kurz gesagt, erhielten vor allem Gutverdiener, die ohnehin größtenteils in den Genuss kräftiger Gehaltssteigerungen gekommen sein dürften, obendrauf noch eine Inflationsprämie. Die meisten Geringverdiener hingegen, für die die reale Inflation, aufgrund der enormen Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie, deutlich höher ausfällt, erhielten nichts. Rein theoretisch hätte der Staat diesen Geringverdienern zwar direkt eine Einmalzahlung überweisen können, aber wie schon bei der Energiepauschale und beim Klimageld ist das ja leider, leider in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit.

Ähnliche Beiträge:

35 Kommentare

      1. Schon klar aber Ablösung der Herrschenden Klasse und Errichtung einer Klassenlosen Gesellschaft wird nur durch eine Revolution gehen. Revolution neudeutsch „Deligitmierung des Staates“ ist aber von Faeser verboten worden. Und durch Kalendersprüche allein hat sich noch nie eine „Herrschende Klasse“ freiwillig den Platz geräumt.

        1. Genau das wollte ich damit andeuten.
          Es geht hier spätestens seit dem 12.4.2020 ums Überleben.
          Die herrschende Klasse hat uns durch Bill Gates eine Kriegserklärung zukommen lassen.
          Der Krieg heißt „Reich gegen Arm“, wie schon seit tausenden von Jahren.
          Neu daran ist, das er seit dem Frühjahr 2020 ganz offen geführt wird, da die Reichen gar keinen Hehl mehr daraus machen, dass sie uns krank machen, krank halten, töten und einen kleinen Rest versklaven wollen.
          Wir sollten uns auch endlich von diesem Anspruch trennen, dass wir (wer auch immer neuzeitlich damit gemeint ist) moralisch besser als die Imperialisten sind.
          Denn, wenn die herrschende Klasse und der Kapitalismus in voller Gänze mit all seinen barbarischen Strukturen beseitigt ist, wäre überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen für einen echten Neuanfang.
          Die werden uns alles nehmen, den Individualverkehr, also unsere Autos, die Reisemöglichkeiten, unsere Behausungen, ja, sogar unser Essen wollen sie durch künstliche Fleischfabriken ersetzen.
          Schauen sie sich mal an, wo die Oligarchen jetzt ihr Geld investieren, in künstliche Fleisch und Impfstofffabriken.
          In Brüssel beraten sie gerade, ob man nicht Badewannen für Neubauten ganz verbieten sollte,
          So weit ist es gekommen.

  1. Meine Antworten: Neoliberalismus, unterwanderte Gewerkschaften, total korrupte Parteien, totaler Nepotismus usw., usw., usw. – Und eine recht total verdekadentete bürgerliche Zivilgesellschaft.

    „Die schnellstmögliche Herbeiführung eines größtmöglichen Weltwohles muss das oberste Ziel allen Denkens und Handelns in ziviler Bürgergesellschaft, Politik, Staat, Wirtschaft und Wissenschaft sein. Nur auf dieser Basis lässt sich der Planet Erde für viele Folgegenerationen erhalten.“ ( RW ) – Wen interessiert das? So gut wie niemanden!

    1. – Wen interessiert das? So gut wie niemanden! –
      Und wenn man das erst mal erkannt hat, lohnt es sich eben nachzurechnen, ob Bürgergeld nicht doch das bessere Einkommen ist. Zumal es Kollegen und Vorgesetzte gibt, die einem Überflüssigerweise auch noch den Gedanken zu Arbeiten, vergällen.

    2. Da schliesse ich mich an, ich glaube auch alle Parteien, Gewerkschaften usw. sind von Neoliberalen unterwandert. Es spielt gar keine Rolle mehr welcher Partei man die Stimme gibt. Die Konzerne möchten die Macht übernehmen und ihren Liberalismus leben, während für uns die Diktatur wartet. Habe immer noch die kleine Hoffnung die Rettung könnte von den BRICS Staaten kommen.

      Ein guter Artikel zum Thema
      „Entkoppelt. Kapitalismus und Demokratie im neoliberalen Zeitalter“

      Wer den ganzen Artikel lesen möchte https://www.schader-stiftung.de/themen/kommunikation-und-kultur/fokus/grundfragen-der-sozialwissenschaften/artikel/entkoppelt-kapitalismus-und-demokratie-im-neoliberalen-zeitalter/

      Oder die Zusammenfassung;
      Ich fasse zusammen. Die Abkopplung des Kapitalismus von der Demokratie und der Demokratie vom Kapitalismus hat viele Facetten. Zentral ist die schon seit Jahrzehnten in Gang befindliche Entmachtung des demokratischen Nationalstaats als sozialer Ort marktkorrigierender Politik im Prozess der sogenannten „Globalisierung“, der Ablösung der Einbettung von Märkten in Staaten durch Einbettung der Staaten in Märkte. Kulturell begleitet wurde dies von der Ausbreitung eines neuen Einheitsdenkens, das eine politische und gesellschaftliche Neuordnung nach Maßgabe kapitalistischer „Wettbewerbsfähigkeit“ und einen „marktkonformem“ Umbau der Demokratie vorbereitete und rechtfertigte. Hierzu gehörte und gehört eine ideologische Kampagne zur Diskreditierung von Demokratie als einer „unterkomplexen“ Regierungsform, die den Herausforderungen einer „komplexer“ werdenden Weltwirtschaft intellektuell und entscheidungstechnisch nicht gewachsen sei, weshalb demokratisierbare nationale Regierungen nicht-demokratisierbarer global governance Platz machen müssen. Zugrunde lag dem eine Umdefinition der Demokratie von einer Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu einem Instrument effizienter „Problemlösung“.

      Strukturell bedeutete und bedeutet Globalisierung eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital einerseits und Arbeit und egalitärer Demokratie andererseits zugunsten des Kapitals. Zu deren Folgen gehörten das Scheitern des Keynesianischen Wachstumsmodells, das national eingegrenzte Kapitalmärkte voraussetzt, und die daraus sich ergebende Entwertung der Demokratie als Produktivkraft. An die Stelle des Keynesianischen Wachstumsmodells trat nach und nach ein neoliberales, „Hayekianisches“, das von umverteilender Demokratie verschont bleiben muss, da es statt durch nachfragepolitische Umverteilung von oben nach unten durch angebotspolitische Umverteilung von unten nach oben funktionieren soll, nämlich durch verstärkte Leistungsanreize mittels Einkommenskürzungen am unteren und Einkommenssteigerungen am oberen Rand der Einkommensverteilung. Die dazu erforderlichen institutionellen Veränderungen, wie „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte, Schwächung der Gewerkschaften und ihrer Streikfähigkeit, Absicherung der Zentralbanken gegen die Einflussnahme gewählter Regierungen, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Umbau der Sozialstaaten in Richtung auf „Aktivierung“ und Verschlankung, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen, verstärkte „Eigenbeteiligung“ der Bürger usw. usw. wurden schrittweise und in unterschiedlicher Sequenz und unterschiedlichem Tempo, aber doch am Ende mehr oder weniger überall in den die neoliberale Revolution durchlaufenden kapitalistischen Demokratien eingeführt, und meist auf gemeinsames Betreiben beider großer Parteien, mitte-rechts wie mitte-links.

      Allerdings verläuft die Abkopplung des neoliberalen Kapitalismus von der Demokratie nicht widerstandslos. Gegenwärtig lassen sich in immer mehr Ländern „von unten“ kommende Versuche einer Wiederinbetriebnahme der demokratischen Institutionen im Dienste einer „Gegenbewegung“ (Polanyi) gegen den beschleunigten kapitalistischen Modernisierungsprozess beobachten. Soweit die sich herausbildenden „populistischen“ Bewegungen und Parteien die auf den Wettbewerbsstaat der „Globalisierung“ zurückgehende nationalistische Deutung von Verteilungskonflikten in kapitalistischen Marktgesellschaften übernehmen, richten sie sich, anders als die Linkspopulisten, nicht nur gegen die staatlichen und wirtschaftlichen „Eliten“, sondern auch gegen andere Nationen und ihre Bürger, insbesondere bei denen, deren sozialer Ort und sozialer Status durch internationalisierte Arbeitsmärkte und Produktionssysteme in Gefahr geraten. Beide Versionen des neuen Populismus, links wie rechts, werden von den etablierten Parteien der „Mitte“, in deren Wählerschaft sie wildern, auf das härteste bekämpft. Dabei kommen neben finanziellen und institutionellen auch kulturelle Ressourcen zum Einsatz, insbesondere aufseiten der alten sozialdemokratischen Parteien, die ihre Klassenbasis gewechselt und auf die mutmaßlichen Gewinner der Globalisierung in der Mittelschicht umgesattelt haben. Dennoch ist die wachsende Zustimmung der Bevölkerung zu national- populistischen Parteien insbesondere in Europa, wo der Verzicht auf nationale Handlungsfähigkeit zugunsten internationaler Markt- und Wettbewerbsfähigkeit am weitesten fortgeschritten ist, heute dabei, den Prozess der „europäischen Integration“ ebenso anzuhalten wie die mit ihm eng verbundenen neoliberalen Strukturreformen, die die nationalen Gesellschaften weiter international durchkapitalisieren sollen. Dass dies im Namen einer Rückgewinnung der Demokratie geschieht, ist die größte gegenwärtige Herausforderung für die Betreiber der zweiten, neoliberalen „Großen Transformation“ und ihre ideologiepolitischen Zuarbeiter, insbesondere auf der ehemaligen Linken.

  2. Das Hauptübel, nämlich der Kapitalismus, läßt sich leider nicht abwählen.
    Doch eins sollte sich die Kapitalistenklasse hinter die Ohren schreiben: Wenn sie nicht bereit sind, etwas abzugeben, wird ihnen bald alles genommen

    1. Nochmal, der Kapitalismus lässt sich nicht zähmen!
      Wer das glaubt, der hat aus der Geschichte nichts gelernt.
      Und abwählen schon gar nicht.
      Man muss ihn samt seiner Protagonisten beseitigen.

      1. Wenn man jetzt aber ins Jahr 1988 zurückkehrt, also da anknüpft wo man 1989 aufgehört hat (nehmen wir mal an das ginge) dann würde man früher oder später bei einem ähnlichen Punkt landen wie 1989/90 denn es hat im Vorfeld schon viel zu viele Fehler gegeben. Eigentlich müsste man noch weiter mindestens bis 1955 (also vor den XX.Parteitag der KPdSU) oder noch weiter zurück bis zu Lenins Neuer Ökonomischer Politik (1929) zurückreisen. Aber auch das würde alles nicht ausreichen. Man müsste zurück zur Zinnwalder Konferenz (1905) als Lenin die entscheidenden Weichen für die Bolschewiki in der SDAPR gestellt hat. Oder vor dem Gothaer Parteitag der SPD 1860 zurück als schon die ersten Geburtsmakel der angeblichen Arbeiterpartei sichtbar wurden. Oder gleich ganz zurück zu Marx/Engels.

        Was fehlt ist aber trotz aller Studiererei die Verbindung zwischen Theorie & Praxis, also marxistisch-leninistische Theorie einerseits und Proletariat und Bauernstand andererseits. Lenin hat das halbwegs hinbekommen und das war letztlich ausschlaggebend für den Erfolg der Oktoberrevolution 1917. In Deutschland gab es diese Verbindung nie, hier existierte zu Zeiten der Novemberrevolution lediglich die SPD, die die Revolution umgehend verrriet.

  3. Aufffallend in Deutschland ist, dass im Unterschied zu anderen EU-Ländern – ich habe speziell Österreich, Tschechien und Polen im Blick – über die Belastung der unteren Einkommensgruppen durch die Inflation kaum diskutiert wird. Der Mainstream argumentiert mal mit der allgemeinen Inflationsrate, mal nur mit der Kerninflationsrate, mal wird die Inflationsrate auf das ganze Kalenderjahr bezogen, mal auf den Vergleich zum Vorjahresmonat.

    Die Menschen sollen beruhigt werden: Die Inflation ist auf den „russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ zurück zu führen und nur vorübergehend. Tatsächlich lag die Inflationsrate bereits im Dezember 2021 im Vergleich zum Dezember 2020 bei 5,3%. 2022 und 2023 wurde dann gern mit der „verlässlicheren“ (TAZ) Kerninflation argumentiert, die sich aus den Preissteigerung ohne Energiekosten und Nahrungsmittel ergibt. Aktuell – Juni 2024 – stellt man wieder die allgemeine Inflationsrate heraus (2,2%), die niedriger ist als die Kerninflation mit 3%.

    Davon abgesehen gibt es bei der Berechnung des Verbraucherpreisindex offenbar erhebliche Diskrepanzen gegenüber den Erfahrungswerten der Menschen, nicht zuletzt derjenigen mit geringem Einkommen (Warenkorb mit Untergewichtung z. B. der Wohnungskosten, statistische Preisminderung durch vermeintliche Qualitätsverbesserung, usw.). Das ist in Deutschland ein Teil des Glaubwürdigkeitsproblems der regierenden Politik.

    1. – wurde dann gern mit der “verlässlicheren” (TAZ) Kerninflation argumentiert, die sich aus den Preissteigerung ohne Energiekosten und Nahrungsmittel ergibt. –
      Dabei treffen gerade diese Beiden die Einkommensschwachen am härtesten. Die anderen Ausgaben kann man meistens aufschieben.

    2. Wichtig ist, dass es in Polen, Tschechien und Österreich ein relevantes Thema ist.
      In Deutschland im Genderwahn sind die depravierten Bevölkerungsteile ziemlich egal.
      Eine wirkliche Revolution muss von den Abgehängten und Minder-Privilegierten kommen.
      Entscheidend dafür sind die Analysen und Perspektiven.

  4. Und was bei der ganzen Diskussion immer unterschlagen wird: Die InflationsRATEN mögen sinken. Die Preise aber steigen weiter! Sogar im Jahr Eins nach dem großen Energiepreisschock gab es keine Deflation, sondern weitere 5%+ Inflation auf die Schockpreise des Vorjahres oben drauf…

    Letzten Endes gab es das „Bürgergeld“ mit seinen gelockerten Regeln auch nur, weil wegen der Coronamaßnahmen zigtausende Selbständige plötzlich HartzIV beantragen mußten, da sie ja nicht arbeitslosenversichert waren. Und da die Pandemie nun vorbei ist…

  5. Also ich habe ja gewisse Einblicke in die Arbeitswelt. Beispielsweise einen Pflegedienst, der die Arbeitslosen einstellt. Sie sollen doch bitte, bitte rechtzeitig Bescheid sagen, wenn sie krank sind. Und? Die belieben einfach weg. Tagelang oder ganz. Bin ich als Linker nun verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass derrat asoziales Handeln folgenlos bleibt? Nö, bin icht nicht. Allerdings ohne die Wortwahl dieses Blome zu übernehmen.
    Was wir haben, das Bürgergeld, den Mindestlohn und das 49-Euroticket (um mal ein paar Beispiele zu nennen) ist das absolute Maximum dessen, was derzeit zu haben ist. Muss man da unbedingt auf die Regierung eindreschen? Mit dem Resultat, dass dann der Kanzler Merz heißt. Dann ist alles weg. Aber komplett,
    Der Regierung keine Chance lassen, es richtig zu machen und damit den Rechten zum Erfolg zu verhelfen, das ist seit Jahrzehnten der Fehler der Linken. Früher war sie so stark, dass sie sich das leisten konnte, es gab trotzdem Erfolge. Diese Zeit ist aber endgültig vorbei.

    1. Wie Mann glauben kann diese Politik hat irgendwas mit „linken“ zu tun, geht mir nicht in den Kopf.

      Ich bin gerade eher am überlegen ob die Wortwahl Totalitarismus oder ob man zu diesem Saustall schon waschechte Diktatur sagen kann. Ich jedenfalls habe noch nie linke Politik in Berlin gesehen.

      1. @Tommy
        Ich versuche es nochmal 🙂
        „Ich bin gerade eher am überlegen ob die Wortwahl Totalitarismus oder ob man zu diesem Saustall schon waschechte Diktatur sagen kann. Ich jedenfalls habe noch nie linke Politik in Berlin gesehen.“

        Versuche es mal mit dem Wort „Tyrannei“ damit bist du auf der sicheren Seite XD

      1. Die Hundepfeife_C,
        der Sozial-Revisionisten auf der „Herren-Farm“ (Animalfarm) Alle Tiere sind gleich,
        aber manche sind gleicher, so geht eben der Verschissmuss.

  6. Nun ja, das war wieder ein sehr schöner Artikel. Davon gibt es übrigens sehr viele im Netz.
    Und bewirkt haben sie leider bisher noch nichts. (Artikel dieser Art)
    Sogar der Herr Dr. Ulrich Schneider hat eingestanden das sein Jahrzehnte langes wirken ein versagen darstellt, da die Armutsrate als er anfing viel geringer war als heute. Nunja schwamm drüber….
    Der Herr Jens Berger hat ja eine weitere Auflage seines Werkes „Wem gehört Deutschland“ veröffentlicht und darin festgestellt das wir in den Materiellen Besitzverhältnissen Feudalistische Verhältnisse haben. Dort kann man auch erfahren wer zur echten Mitte der Gesellschaft gehört und wer alles nicht. Ist übrigens ein Spiegel Best Seller, gekauft haben es also viele gelesen wohl eher wenige….
    Und dann gibt es da noch ein Buch von Herrn Michael Andrick „Im Moralgefängnis“ wo er über die Spaltung der Gesellschaft Philosophiert zum Ende gibt es ein paar interessante Sachen zu lesen. Aber er Diagnostiziert den Anfang womit das Buch beginnt mit dem Corona Zeitraum daher bin ich geneigt zu sagen das auch er nur an irgendwelchen irrelevanten Symptomen herum philosophiert. Da er sich aber selbst wie es scheint als Wissenschaftler nicht sehr ernst zu nehmen scheint, hat er den Finalen Spaltungsanfang in der BRD der für alle in Form einer Schocktherapie in der Jahrtausendwende zu finden ist und in den Hartzgesetzen mündete lieber unterschlagen wie so viele die sich für Links halten ebenso.
    Komme ich schnell noch zur Gottheit erhobenen Meinungsfreiheit, auch hier ist der Geburtsfehler nicht in den letzten Jahren zu suchen sondern beginnt mit dem Verbot der KPD hier hat man gleich zu beginn dieser Gesellschaft festgelegt welche Meinungen und Weltanschauungen verboten sind.
    Was mich gleich zum Prozessbeginn der Junge Welt gegen die BRD bringt, bei dem der angebliche Demokratische Rechtsstaat eine Gefahr für seine Existenz sieht wenn von ca. 83 Mio Menschen 20 000 diese kleine Überregionale Tageszeitung lesen. Wenn es nicht so heuchlerisch wäre könnte man sich darüber ja auch kaputt-lachen.
    Ich kann nur jedem empfehle die Zeitung mal auszuprobieren mit einem 2 wöchigen kostenlosen Probe-Abo für einen ersten Einblick und später dann vorausgesetzt es gefällt 75 ausgaben für 75 € um einen längeren Zeitraum zur Meinungsbildung zu haben, und man muss auch nichts wieder abbestellen. Also keine Abo-falle wie bei so vielen anderen, nur mal so am Rande.

    Im übrigen möchte ich noch anmerken, das von Autoren solcher Artikel meist erwartet und verlangt wird das die die ganz unten in der Gesellschaft angekommen sind und völlig schutzlos gegenüber allen anderen sind, das diese Menschen sich doch endlich mal Organisieren möchten. Etwas was diese Menschen nicht zu leisten im Stande sind da sie mit ihrem überleben vollauf beschäftigt sind, denn sie müssen ja gegen etwa zweidrittel der Gesellschaft in der sie existieren kämpfen d.h. sich zur Wehrsetzen. Denn es besteht die reale Gefahr wie erst kürzlich in Bayern von Wohlhabenden Sozialdarwinistischen Jugendlichen ermordet zu werden aus Langeweile und ähnlichen Trivialitäten.

    Solche Artikel sind schon wichtig um den IST zustand einer Gesellschaft zu Dokumentieren, aber wenn denen die zum Dokumentieren in der Lage sind Veränderungen herbeiführen wollen so müssen sie mithelfen zu organisieren.
    Aber immer neue Artikel zu schreiben oder zu Demos aufrufen bringt gar nichts, das zeigt uns die Vergangenheit ja schon sehr eindrücklich. Im übrigen war die Aufklärung nur deshalb erfolgreich weil sie den leidenden einen Weg aufzeigen konnte das leiden zu beenden. So jetzt habe ich leider wieder viel zu viel geschrieben, ich bedanke mich schon mal für die Ausdauer beim lesen. Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber dann wiederhole ich ja nur was viel schlauere Leute schon in Büchern verfasst haben, man muss sie nur mal lesen.

    1. – wenn von ca. 83 Mio Menschen 20 000 diese kleine Überregionale Tageszeitung lesen. –
      Wichtig dabei ist das die Schafe weiterhin glauben: wer so etwas liest gehört zur Achse des Bösen.
      Wenn man dann Argumentiert und sowas als Quelle nennt hat man schon jede Chance verspielt, ernst genommen zu werden. Daher die unerbittliche Verfolgung, auch des Unbedeutesten unabhängigen Journalismus.

      1. Deshalb wäre es gut, wenn man selbst vorlebt das die Achse des bösen eine Bereicherung sein kann. Zum Beispiel in dem man eine Zeitung abonierst die eben nicht zur „Qualitätspresse“ gehört. In meinem Fall also die Junge Welt, die ich ganz offen und ungeniert lese usw. In Gesprächen verwende dann durchaus gelesene Informationen, nur auf direkter Nachfrage hole ich die Zeitung und gebe sie zum lesen weiter so kann sich jeder ein eigenes Bild machen.
        Ich habe früher viel versucht zu argumentieren, aber das verstärkt nur die Ablehnung weshalb ich es aufgeben habe. So kann man Einschüchterungen ganz einfach unterlaufen und mit etwas Glück erreicht man mehr aktzeptanz.

  7. Ich mag den Rieveler nicht. Selbst wenn er mal im Einzelfall was Vernünftiges sagt. Dafür ist seine Unterstützung für den Genozid in Gaza einfach zu krass.

    1. Man unterstützt Meinungen und nicht Personen, indem man diesen mit Blanko-Vollmacht einen Persilschein ausstellt.
      Indofern kann mam den Autor dafür durchaus loben, wenn man in der behandelten Materie mit ihm überein stimmt.
      Damit ist noch lange kein Bekenntnis zu Meinungen der Autors bei anderen Themen verbunden.

  8. Guter Artikel, der die Wirklichkeit im Umgang mit Jobcenterkunden beschreibt.
    Leider in der Wortwahl teils etwas zu süffisant, was dem Anliegen ein wenig schadet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert