Jung und begabt sein und … Nina Simone

Nina Simone
David Becker, Los Angeles Times, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Wenn einmal die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben wird, wird sich ein eigenes Kapitel mit der bemerkenswerten und talentierten Sängerin namens Nina Simone (1933–2003) befassen müssen.

Ein Buchauszug.

In keiner solchen Geschichte wird es Worten, egal wie geschickt gesetzt oder meisterhaft geformt, gelingen, die Brillanz dieser Frau zu erfassen. Es müssten auch Tonaufnahmen hinzugefügt werden, damit den Lesern die Gnade zuteilwird, ihren Kontra-Alt – dunkel, voll, reichhaltig wie die Erde kurz vor Anbruch des Frühlings – zu hören.

Außerdem wird eine Sammlung ihrer Liedertexte nötig sein, damit niemand die Worte verpasst, die sie wagte, in Musik zu gießen und zum Leben zu erwecken, mit einem Zorn, einer Leidenschaft, einem schieren künstlerischen Mut, der uns auch Jahre und Jahrzehnte nach der Erschaffung dieser Lieder immer noch überwältigt. Sie war eine ganz große Künstlerin in jedem Sinn dieses Worts, aber sie war viel mehr als das, was dieser Begriff heute suggeriert. Sie war ebenso stolz, kaiserlich, majestätisch und wunderbar arrogant wie der verstorbene Jazzgroßmeister Miles Davis zu seinen besten Zeiten.

Biss und Mumm und Stolz und Verlangen

Ich erinnere mich noch an ihren Auftritt bei einem mittäglichen Freiluftkonzert im Bell Tower der Temple University Ende der 1970er Jahre. Sie sah mit nervöser Gereiztheit auf die Menge, nicht aus Furcht vor den möglichen Fallen ihres Auftritts, sondern aus kaum verhohlenem Ärger, weil nur hunderte und nicht tausende Menschen zusammengekommen waren, um sie zu hören.

Sie sang Lieder mit Biss und Mumm und Stolz und Verlangen… und Wut. Starker, tiefer, bis in die Knochen reichender Wut darüber, wie armselig das Leben für Afrikaner in Amerika war. Ihr »Mississippi Goddamn« – Gottverdammtes Mississippi – war eine Hymne, die nicht nur die Bürgerrechtsbewegung, sondern auch die Schwarze Befreiungsbewegung anspornte: »Ihr müsst nicht neben mir wohnen, gebt mir nur meine Gleichheit!«, forderte sie. Ihre Lieder konnten auch zart sein, Liebeslieder an die vielfältige Art der Schönheit und Beseeltheit Schwarzer Frauen, wie in ihrem berühmten Song »Four Women«, Vier Frauen, das von den verschiedenen Gemütslagen und Hautfarben ihrer Schwestern erzählte. Simone trug den Turban schon Jahrzehnte, bevor Erykah Badu das tat, und spazierte königlich wie eine nubische Prinzessin in der Welt herum, eine Prinzessin, zu der sie dann tatsächlich wurde.

Obwohl sie im Süden der »Rassentrennung« unter dem Jim-Crow-Regime geboren wurde, machte sie sich nie die von der Apartheid geforderte stille Duldung zu eigen und prangerte in ihrer Kunst und ihren Interviews deutlich das Unrecht an, unter dem ihre Leute litten. Als Nixon ans Ruder kam, sagte sie ihrer Heimat Adieu und wanderte – wie eine Generation anderer brillanter Schwarzer Amerikaner, so auch der Schriftsteller Richard Wright, die die Gehässigkeit, Gemeinheit und rassistischen Demütigungen dieser Zeit nicht ertragen konnten – nach Frankreich aus, um dort in Würde leben zu können. Als sie die USA in den 1970er Jahren verließ, erklärten einige Kritiker ihre Karriere für so gut wie beendet, doch große Künstler haben ebenso wie großartige Musik die Angewohnheit, wieder aufzuerstehen.

30 Jahre danach

1993 kam Point of No Return heraus, das US-Remake des französischen Films La Femme Nikita von 1990. Darin spielte Bridget Fonda eine drogensüchtige junge Außenseiterin, die sich an einem missglückten Raubüberfall beteiligt, der mit einem Tötungsdelikt endet. Daraufhin wird sie von einem undurchsichtigen Spionagedienst rekrutiert, mit dem sie für die Regierung arbeitet. Die Hauptfigur spielt, wenn sie allein ist, im Hintergrund stets Nina Simone-Platten, was ihre Launenhaftigkeit illustrieren soll. So erlebte eine Generation junger Kinogänger das Wunder und die Kraft der großartigen Stimme Simones.

Wo sind die Simones der heutigen Generation? Sie sind da … vielleicht im Schatten, aber sie sind da. Vielleicht haben sie Angst, so viel zu geben wie ihre vor kurzem verstorbene Vorfahrin. Denn sie wissen, dass sie sehr viel geopfert hat, um die Lieder zu singen, die ihr großes Herz bewegt haben. Eine solche Aussicht ist zweifellos furchteinflößend.

Und dennoch fragt man sich, wen von der verrückten Schar man noch kennen oder gar verehren wird – 30 Jahre nach der heutigen Zeit? Wie viel von dem, was heute produziert wird, findet seinen Weg in die Herzen oder bringt die tiefe Glocke des Wiedererkennens in der Seele zum Schwingen? Wer wird vom Wunder, vom Schrecken, von der Schönheit und dem Wahnsinn des Lebens der Schwarzen in diesem neuen Jahrhundert singen?

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11 Kommentare

  1. Danke für den ergreifenden Nachruf! So schön mit so viel Gefühl geschrieben, ging direkt ins Herz! 💗✌️ Inhaltlich frag ich mich tatsächlich, was hat Bestand von der überwiegend oberflächlichen Geräuschkulisse des musikalischen mainstream, da wird irgendsoein Müll aus irgendeiner ‚Wolke‘ heruntergeladen, noch ein paar ‚motherfucker‘ dazu gequäkt und als der ‚ultimative Scheiss‘ vermarktet, es nervt eigentlich nur noch!

    1. Lennon hat ja zwei musikalisch und textlich differierende Versionen gemacht und eine Collage zusammen mit Yoko Ono und das „out in“ generell öfter thematisiert: „the inside is out and the outside is in“ oder
      „Always, no sometimes, think it’s me
      But you know, I know when it’s a dream
      I think I know, I mean a yes
      But it’s all wrong
      That is, I think I disagree“
      damit ist die menschliche Ambiguität wunderbar eingefangen. Nina Simone hat Lennon also nicht gut verstanden, was ihr Anliegen jedoch nicht schmälert.

  2. Wer Nina Simone nicht kennt, hat eine ganze Kultur verpasst!
    Danke, lieber Mumia Abu-Jamal, danke, liebes Overton!

    Gucke ihre Aufnahme von Sinnerman, und die Sache ist völlig eindeutig. Barack Obama – als public speaker of the black poeple – sagte, dass ‚Sinnerman‘ von Nina Simone zu seinen 10 Lieblingsliedern gehört. Wer diese Aufnahme auf Youtube ansieht, weiß auch warum:

    https://www.youtube.com/watch?v=r57J0jPyZRs – die ganze Aufnahme gucken, bis zum Ende!

    Warum sind uns Blues-Liebhabern diese Aufnahmen von dieser bedeutenden Nina Simone so lange vorenthalten worden?
    Ich habe – nach Mumia Abu-Jamals Artikel – 4-5 Stunden mit Nina Simone auf YouTube verbracht, darunter meist Aufnahmen mit 1 Million Aufrufe und mehr – auch genug Äußerungen von ihr gehört, in denen sie sich positiv auf Dr. Martin Luther King bezieht. Ebenso wie übrigens auch auf Nelson Mandela. Ihre Mutter war eine Methodistenpredigerin, es ist völlig klar, dass Nina an der Gospelkultur bereits als Kind aktiv mitgewirkt hat. Ein Riesentalent, früh bemerkt und früh gefördert. Zur Religion sagt sie klipp und klar:

    Die Musik ist mein einziger Gott.

    Und was für eine Musik!

    Nina Simone war eine radikale Bürgerrechtlerin tief aus den Südstaaten (North Carolina), viel radikaler als die Polizei erlaubt, und sie ging – mit beiden Beinen fest in der Gospelkultur ihres proletarischen Künstler-Elternhauses und „ihrer Leute“ – ihr Leben lang als Kämpferin und exzellente Solistin des Blues-Gesangs und -Pianos einen sehr weiten und berühmten Weg bis in ihr Exil nach Frankreich.

    Sie sagt, dass Blues nicht von der Hautfarbe abhängt. Alle, die das Leid der Welt erlebt haben und es – in der Kunst sublimiert – anklagen, um es zu ändern, könnten den Blues haben.

    So lautet für mich die klare Essenz und das Resümee von Frau Simones Äußerungen – eine sehr kluge Frau, die genau so auf dem Punkt spricht wie sie singt, musiziert und auf der Bühne präsent ist!

  3. Komisch, als ich mich in den 1970ern folgende für Blues interessiert habe, war diese Frau Simone – Nina Simone – in den üblichen Sammlungen nicht drin. Warum?

    Zweifellos ist sie ZU GUT. Aber liegt es nur daran? Oder ist sie auch zu politisch?!

    Ich vermute mal, ihre Black Power war für unser linksliberales bis wokes Kulturestablishment zu radikal – und das ist gut so: Jetzt konnte ich die Simone nun endlich als eine Überraschung entdecken!

    In den 1970ern habe ich mich als Jugendlicher viel im Blues herumgetrieben, habe mit Freunden selber die „blue notes“ auf der Gitarre ausprobiert; jeder Jugendsender im Radio, der etwas auf sich hielt, hatte seine Blues-Sendungen; die Plattenläden überall, ob in Frankfurt an der Hauptwache oder im FNAC in Paris und bis in die letzte Kleinstadt, hatten ihre Blues-Boxen – aber Nina Simone war mit Sicherheit nicht dabei. Es gab ohnehin nicht viele Blues-Sängerinnen: Sie wäre nicht zu übersehen gewesen.

    (Den Blues als Jazz zu verballhornen, empfinde ich schon seit Schulzeiten zu etepetete. Die Jazzszene, jedenfalls die mir bekannte weiße Jazzszene, ist seit jeher elitär, ein Distinktionsmerkmal des gehobenen Konsums und komplett unpolitisch. Schon zu unserer Schulzeit waren beide Szenen sehr verschieden. Wo der Jazz versucht, seiner Anämie mit dem Blues frisches Blut zuzuführen, bedeutet dies oft das Ende des Blues. Wobei ich gut verstehen kann, wenn Blues-Musiker im Jazz ihr Geld verdienen. Ich entdeckte nun, dass auch Frau Simone nicht mit dem Jazz identifiziert werden will.)

    Beim Reinhören in den beeindruckenden Schatz ihrer auf Youtube hochgeladenen Musik empfiehlt sich eine Reihenfolge ungefähr nach dem Lebensalter; die frühe und mittlere Nina Simone zuerst. Ihre einzelnen Stücke, die gelungen mitgeschnittenen Live-Auftritte England (1968), Antibe (1969), dann die späteren. Erst am Schluss empfehle ich den Mitschnitt für das Gedächtnis der Menschheit, der im Pantheon der französischen Revolution aufgenommen wurde (dem Exil der Frau Simone, entstanden noch zu Zeiten, da ‚arte‘ auch noch mal seinem öffentlichen Auftrag nachkam): sehr sublimiert, für die Ewigkeit.

    Die Bedeutung dieser Welt-Künstlerin – Nina Simone – ist schon an ihrer Popularität zu sehen: Kaum eines ihrer Lieder erreichte nach ihrem Tod (2003) weniger als eine Million Aufrufe. Ihre bekannten Stücke riefen mehrere Millionen auf YouTube auf. Warum nur sind die uns so lange vorenthalten worden?

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