Der Biologismus rechtfertigt Machtgefüge. Dabei gibt es solche und solche Biologisten. Gemein ist ihnen die zuweilen reaktionäre Unfreiheit.
Als Biologismus bezeichnet man gemeinhin die Deutung und Legitimation sozialer Strukturen und Machtverhältnisse anhand biologischer Gegebenheiten. Biologismus ist eine Ideologie, die Menschen stereotype Rollen und Eigenschaften zuschreibt basierend auf der tatsächlichen oder angenommenen Beschaffenheit ihrer Körper. Damit befindet sich der Biologismus gesellschaftlich auf der gleichen Ebene der Machtausübung wie andere Formen kollektiver Zuschreibungen, die zur Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Abwertung von Gruppen dienen, und bildet die Grundlage für Sexismus und Rassismus. Auch Antisemitismus weist Anteile von Biologismus auf.
In konservativen und religiösen Diskursen wird Biologismus oft als Naturalismus oder »natürliche Ordnung« verklärt. Die Synonyme »natürlich« und »selbstverständlich«, »naturally« und »of course« sind sprachliche Zeugen dieses Denkens. Die Natur als nicht hinterfragbare »heilige« Schöpfung dient als Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien als naturgegeben oder gottgewollt, somit unveränderlich und inhärent »richtig«. Bestrebungen, biologistisch begründete Verhältnisse zu ändern, wären folglich unnatürlich, Sünde oder Gotteslästerung.
Ein wieder anzustrebender paradiesischer Urzustand?
Religiöse Vorstellungen über einen solchen natürlichen Urzustand, rein und unverdorben, sind aber bestenfalls als spirituelle Metapher zu verstehen. Nostalgie, das Bedürfnis nach Ordnung, Tradition, Stabilität, Regeln, die a priori gelten und nicht verhandelt werden müssen, die Sicherheit vorbestimmter Lebenswege, wenig Interesse an Veränderungen, Kulturpessimismus und letztlich schnöde Machtansprüche – all das sind Motivationen für Biologismus. Er ist eine konservative Ideologie, und wie jede Ideologie seinem Wesen nach dogmatisch und selektiv. Die »Schöpfung« ist für Biologisten nur dann heilig, wenn es ihnen zum Vorteil gereicht.
Biologistische Erklärungsmuster verkennen, dass (nicht nur die belebte) Natur als ein evolvierendes System nicht von einem »Schöpfer« nach dessen moralischem Wollen geformt ist, und ihre Anfänge uns nicht hinreichend bekannt sind, um daraus einen wie auch immer gearteten »gewollten«, wieder anzustrebenden »paradiesischen« Urzustand herleiten zu können. Man müsste ihn willkürlich festlegen, dann wäre er weder natürlich noch gottgewollt. Aber selbst wenn man einen Urzustand, eine »natürliche Ordnung«, als gegeben annehmen würde, hätten wir ihn verlassen müssen, um unserer Natur zu folgen und uns zu entwickeln. So wie die menschliche Gesellschaft sich ständig wandelt, sind die Prinzipien von Entstehen und Vergehen in die Natur eingeschrieben.
»Denn alles, was entsteht, vergeht«
Im Gegensatz zu biologistischen Denkweisen ist die Natur kreativ, sofern man ihr denn Eigenschaften zuschreiben mag. Ständig neue Formen bildend und wieder verwerfend, entzieht sie sich jedoch durch die Langsamkeit dieser Prozesse unserer direkten Beobachtung und erscheint dem »gesunden Menschenverstand« als ein stabiles System in einem »natürlichen« Gleichgewicht. Tatsächlich existiert ein solches Gleichgewicht nur sehr bedingt. Die Natur unterliegt dem ständigen Wandel – dies ist ihre Natur.
Etliche biologistische Thesen wurden längst durch die moderne Archäologie, Biologie, Neurologie oder einfach durch die Realität des gesellschaftlichen Wandels widerlegt. Aber das tradierte Denken, die stereotypen Vorstellungen über die Rolle der Biologie sind seit Jahrtausenden so eng verwoben mit unserer Kultur, dass es bereits immenser Anstrengung bedarf, sie überhaupt dingfest zu machen, geschweige denn zu hinterfragen oder zu ändern.
Biologie ist relevant, die Trennung von der Soziologie ist unabdingbar und sprachliche Präzision die Voraussetzung für interdisziplinäre Forschung.
Bis in die 1990er Jahre hinein war es in westlichen Emanzipationsbewegungen noch Konsens, dass biologistische Zuschreibungen die Gleichberechtigung von Menschen und ihre freie Entfaltung behindern. Die Rolle des Biologismus bei der Fortschreibung von Machtstrukturen war bekannt, die Frage »Cui Bono?« gestellt und beantwortet worden. Klargestellt war, dass Biologismus zwar den Bonus eines simplen intakten Weltbildes liefert, das sich auf Gott, die Natur oder eine imaginierte Steinzeit beruft, aber die Gesellschaft und vor allem das Individuum in seiner Freiheit und Autonomie einschränkt und verschiedensten Diskriminierungen aussetzt, beziehungsweise in den Stand versetzt, andere zu diskriminieren. Eine freie Gesellschaft, die das Individuum in seiner Selbstbestimmtheit respektiert und es nicht per se dem Kollektiv einverleiben will, müsste konsequenter Weise auch Biologismus ablehnen.
Auf dem Weg heraus aus biologistischen Denkmustern hat die Moderne große Fortschritte zu verzeichnen. Niemand könnte heute noch in der westlichen Welt ein Buch mit dem Titel »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« veröffentlichen, Frauen öffentlich die Fähigkeit zum Autofahren, das Recht, Hosen zu tragen oder Fußball zu spielen, absprechen, geschweige denn ihnen Kopftuch, Burka oder sexuelles »Wohlverhalten« vorschreiben.
»Progressiver« Biologismus
Gegenüber dem konservativen, teils sogar reaktionären Biologismus, der auf Seiten der scheinbar »natürlichen« Mehrheit die »unnatürlichen« Minderheiten und vor allem Frauen adressiert, um sie in seine (nicht ihre!) Schranken zu verweisen, positioniert sich nun ein postmoderner, »progressiver« Biologismus auf Seiten von ausgewählten Minderheiten. Er argumentiert mit genau den gleichen ad-hoc-Annahmen und wissenschaftlich nicht belegten Behauptungen, um seine Position zu untermauern. Beide Biologismen postulieren, geschlechtsspezifisches Verhalten und mithin letztlich das Machtverhältnis in der Gesellschaft, sei angeboren. Es verändern zu wollen, würde die Menschen ins Unglück stürzen, ja in den Suizid treiben.
Und während die Traditionalisten das vermeintlich »richtige« Sein, das Gender, noch ursächlich der weiblichen Reproduktionsbiologie zuschrieben, man denke nur an den Begriff Hysterie, verorten die Postmodernen das Gender in der vorgeblichen Biologie des Gehirns. Erstere zwangen Abweichler zu angepasstem Verhalten. Letztere haben diese zu ihrer Zielgruppe erklärt und behandeln sie mit Hormonen und angleichenden Operationen. Das Ziel ist jedoch identisch: Genderkonformität.
Beide Richtungen wenden sich faktisch gegen die Emanzipationsbestrebungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Denn sie stellen das momentan vorherrschende, aus der Biologie heraus nicht ableitbare Verhältnis nicht in Frage, sondern leiten es lediglich anders her. In beiden Fällen wird es deterministisch mit dem Körper begründet, der Einfluss der Kultur bleibt unangetastet.
Das Geschlecht nach Belieben anzupassen: Die gleiche reaktionäre Unfreiheit
Dabei wäre ausgerechnet der postmoderne Aktivismus Beweis genug, dass die Biologie eines Individuums wenig bis gar nichts über sein Verhalten, seine Sexualität und sein Empfinden für die eigene Identität abseits der Reproduktionsbiologie aussagt. Doch auch hier ist die biologistische Argumentation zu verführerisch, zu eingängig und letztlich auch zu etabliert, als dass man sie als Ganzes hinterfragen könnte. Und während die Konservativen den Einfluss der Kultur auf das Verhalten fast gänzlich leugnen, leugnen postmoderne Aktivisten große Teile der Biologie.
Die vermeintliche Freiheit, das Geschlecht nach Belieben zu wählen und anzupassen, erweist sich als die gleiche reaktionäre Unfreiheit. Die Freiheit, zu seiner Biologie »unpassende« Interessen, Sexualität oder Verhalten zu haben, ist in beiden Fällen unerwünscht. Und während vormals nur das Verhalten reglementiert wurde, wird nun der Körper an das Verhalten angepasst. Beides zieht lebenslange Probleme nach sich.
Beide Biologismen gehen zu Lasten von Frauen aber auch Homosexuellen. Biologisten jeglicher Couleur negieren den Einfluss der Kultur auf das menschliche Verhalten. Beide postulieren eine Vorbestimmtheit, die behauptete Biologie als unvermeidliches Schicksal und leugnen den immensen Druck der Mehrheit auf das Individuum, sich konform zu verhalten. Beide sind rückwärtsgewandt, antiemanzipatorisch und reaktionär. Egal ob sich konservativer oder progressiver Biologismus durchsetzt, die Rechte von Frauen auf ein freies, selbstbestimmtes Leben werden in beiden Fällen Schaden nehmen und solange die Bestrebungen, Machtverhältnisse zu legitimieren, nicht aus der Wissenschaft verschwinden, sind Biologie und Soziologie in Teilen pseudowissenschaftlicher Aktivismus.
Und wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte.
Natürlich spielt die Biologie eine Rolle, natürlich spielt die Kultur eine Rolle, und natürlich beeinflussen sich diese wechselseitig. Biologie ist weder die alleinige Antwort, noch der Kardinalfehler.
Wer Biologie oder Kultur ausklammert, wird kein zufriedenstellendes Ergebnis erhalten. Und deshalb scheitert hier auch die Autorin, denn letztlich macht sie den selben Fehler, den sie ihrer Gegenseite vorwirft.
Sie versucht auf einen Faktor runterzubrechen, wo zwei nötig sind, und diese beiden sind auch noch untrennbar miteinander verbunden.
rettcher, Du übersiehst, dass beide Seiten die Kultur eben genau mit der Biologie zu rechtfertigen versuchen. Das ist doch die Aussage und nicht “Kultur spielt keine Rolle”.
Nee Thermonukleare Explosion, macht übrigens überhaupt keine Unterschiede. Ob Biologische oder Moralische Zugehörigkeiten! Ich habe ja in der Schule nicht so richtig viel mitbekommen. Aber im Zentrum solcher Explosion gibt’s nur noch Teilchen und Strahlen. Oder wird meine Schwarze Seele irgendwie weiter bestehen.
Frage hier für meine Restlebenszeit ob ich gerade hier Zeit verschwendung begangen habe?
Den Schlusssatz “sind Biologie und Soziologie in Teilen pseudowissenschaftlicher Aktivismus.” möchte ich so nicht unkommentiert lassen, da er in der vorliegenden Formulierung zumindest ungenau, Ernst genommen sogar wissenschaftsfeindlich ist. Biologie als Wissenschaft genommen (als Ansammlung von Wissen um biologische Gegebenheiten) muss freigehalten werden von politisch motiviertem pseudowissenschaftlichen Aktivismus. Der Aktivismus gehört nicht in und zur Naturwissenschaft. Aber was im Artikel gespiegelt wird, ist die Einmischung und der Missbrauch der (Natur)Wissenschaft durch die Politik, getarnt als Aktivismus, ein reaktionärer Impetus des “Wir, die Politiker, bestimmen, was in der Naturwissenschaft zum Wissenskanon gehört”, ein Impetus, der aus den politischen Gesellschaftswissenschaften stammt, wo dies üblich ist und auch dort zur Verdummung und politischen Zwecken dient..
Gerade gibt es mal wieder die Arte Doku über Plastik und seine hormonellen Disrupturen, die wahrscheinlich zu den Unfruchtbarkeitsproblemen vieler Menschen führen und die im Tierversuch (gegen die ich im übrigen bin) zur Verweiblichung männlicher Tiere und zur Uneindeutigkeit der Geschlechtsorgane führen.
Man kann also annehmen, dass diese doch nun häufig auftretenden queeren Identitäten z.T. auch durch diesen mittlerweile mehr als dreißigjährigen Einfluss der Chemie- und Kunststoffindustrie mit bedingt sind. Ist das nun als kulturell soziologisch oder als biologisch verursacht zu betrachten?
Es gibt keine machtfreien Zonen. Auch keine machtfreie Naturwissenschaft. Genau so wenig wie ein Denken, das frei von Interessen wäre – die nicht immer wirtschaftliche sein müssen, aber immer auch beabsichtigte und unbeabsichtigte Auswirkungen auf die reale Produktion und Reproduktion haben. Die Rolle von Vernunft und/oder Einsichtsfähigkeit der Menschen wird dabei in den westlich aufgeklärten Gesellschaften regelmäßig überschätzt.
In Zusammenhang mit dem Problemkreis `gender/Geschlecht´ stellt sich aus meiner Sicht vor allem die Frage nach der Unterscheidung von `privat´ und `öffentlich´. Diese wird politisch selten verhandelt. Man geht von der Annahme aus, ein Verhalten, das öffentlich/gesellschaftlich/rechtlich abgewertet/tabuisiert/bestraft wird, sei als persönliche Praxis nicht möglich, enorm erschwert oder sogar nicht vorhanden. Das entspricht nicht der Wirklichkeit.
Ob es hilfreich ist für die Lösung allgegenwärtiger menschlicher Probleme – Hunger, Obdach – immer mehr Begriffe mit der Endung “…ismus” zu versehen und auf solche Art zu ideologisieren, ist mehr als fraglich.
Biologie wird doch schon lange ideologisiert. Das sollte man unbedingt offenlegen und die Ideologie aus der Biologie entfernen, damit sie eine Wissenschaft im eigentlichen Sinn wird.
Es gibt keinen Gegenstand, der sich nicht durch Menschen vernutzen ließe, um Macht eine Berechtigung zu verleihen. Auch die Wissenschaft wird in Dienst genommen. Sie ist einer der fortgesetzten, unvollständigen, weitgehend erfolglosen Versuche von Menschen, der Endlichkeit, Ungewissheit und Unbestimmtheit zu entrinnen, die sie mit allem Lebendigen teilen.
Die Berechtigug für den Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki hat zumindest einer der Menschen, die in Zusammenhang mit diesem Ereignis gedacht, technisch entwickelt, geforscht haben, wenigstens nachträglich infrage gestellt. Sind Menschheit, Wisschaftler und Wissenschaft seitdem weitergekommen, wenn örtliche Gruppen der Ärzte gegen den Atomkrieg zu der Einsicht kommen, die Anwendung neuartiger und ungetesteter Impfstoffe an nicht selbstbestimmungsfähigen Alten sei entgegen dem Nürnberger Kodex gerechtfertigt?
Seit mehreren Jahrhunderten wird das Tötungshandlungen zugrunde liegende Eigentumsrecht mit Zähnen und Klauen moralisch gerechtfertigt. Die Kritik am Eigentumsrecht wird immer leiser, statt lauter – zumindest in Deutschland.