Weshalb finden sich Spuren von hunderten Giftstoffen in menschlicher Muttermilch? Wie kommen Pestizide in die Rinde von Bäumen, die Kilometer weit weg von jedem Acker stehen? Was macht Glyphosat in unserem Urin? Als Lektor habe ich an einem Buch mitgearbeitet, in dem über dreißig Autor*innen das wahnsinnige System unserer pestizidgetriebenen Landwirtschaft erklären, und damit auch unsere stetige Vergiftung durch Lebensmittel.
So eine Pandemie hat auch ihre guten Seiten. Mir zum Beispiel hat sie den Terminkalender freigeräumt. Ohne die Zeit, die mir das Coronavirus „geschenkt“ hat, wäre die Arbeit an diesem Buch niemals zu schaffen gewesen. Das liegt auch daran, dass das Vorhaben, ein umfassendes Werk über die Geschichte und die Auswirkungen der synthetischen Pestizide zusammenzustellen, in der Entsehung ständig größer wurde. Viele Autor*innen, die die Bio-Stiftung Schweiz um Beiträge gebeten hatte, warfen mit ihrer Expertise und letztlich mit ihren Texten immer neue Fragen auf. Natürlich beantworteten sie auch die ihnen gestellten Fragen, sie bearbeiteten ihre Themenfelder. Aber die ragten eben in benachbarte Felder hinein. Die Themen vertieften sich, es wuchsen ihnen Arme, die nun auch noch betrachtet werden wollten. Es war, wie es oft ist, zumal im Bereich Umwelt und Ökologie: Je genauer man hinschaut, desto komplizierter wird es. Weil natürlich alles mit allem zusammenhängt und alles sich gegenseitig beeinflusst und bedingt. Aber das ist doch Binse! Das wussten wir schon vorher, oder? Oder dann doch nicht so ganz genau, nicht bei diesem Thema.
Hundertachtzig Jahre Agrarchemie
Es ist schon ein sehr grundsätzlicher Unterschied, ob man sich ab und an mit einem Thema beschäftigt, hie und da mal etwas liest oder dazu hört, oder ob dieses Thema Tage und Wochen, am Ende Monate füllt. Ich hatte mich mit unserem jahrzehntelangen, überaus leichtfertigen Umgang mit den Pestiziden ausführlich beschäftigt, bei vielen Recherchen dazu Gespräche geführt und Studien gelesen, und doch habe ich mit jedem Beitrag, den ich für das Buch durchgesehen habe, Neues gelernt.
Als mir Lars Neumeister dann aber darlegte, dass der Siegeszug der Agrochemie 1840 mit einem Buch von Justus Liebig über die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie begann, wurde mir klar, dass eben diese Chemie über die Äcker kam, als die Menschen noch nicht einmal wussten, dass die Böden ihrer Äcker belebt sind, und dass Milliarden von Helfern unter ihren Füßen die Äcker fruchtbar halten, indem sie Naturdünger und Streu zu Humus umbauen. Raoul Heinrich Francés Grundsatzwerk über das Leben im Boden, das die biologische Bodenforschung überhaupt erst begründete, erschien 1922. Da war die Chemie schon mehr als achtzig Jahre auf den Feldern unterwegs. Und niemand wollte überhaupt wissen, was sie über ihre direkte Wirkung hinaus anrichtet. Was teilweise bis heute so zu sein scheint. Sonst hätte nicht Johann Zaller, dem wir die Einführung in „die vielfältigen nicht beabsichtigten Auswirkungen der Pestizide“ im Buch verdanken, der erste sein können, der sich mit den konkreten Wirkungen von Glyphosat auf das Bodenleben beschäftigte. Der Ökologieprofessor an der Universität für Bodenkultur in Wien hat die Aussage der Agrochemiekonzerne überprüfen wollen, dass das Pflanzenvernichtungsmittel Glyphosat, das seit mehr als vierzig Jahren ausgebracht wird, das Bodenleben nicht schädige. Mit dem Totalherbizid behandelte Äcker legen eine andere Vermutung nahe, der aber offenbar nie jemand nachgegangen war. Deshalb konnte Johann Zaller keineswegs auf eine lange Reihe von Studien zurückgreifen, die seit 1974, seit der Markteinführung von „Roundup“ durch Monsanto, eigentlich hätte entstanden sein müssen. Diese Studien gab es nicht. Die Arbeitsgruppe um Zaller betrat also Neuland und musste feststellen, dass das Bodenleben, das den Humus aufbaut, dabei Kohlenstoff im Boden speichert und unsere Äcker fruchtbar macht, massiv geschädigt wird.
Warum sehen die Landwirt*innen eigentlich nicht, dass sie mit der Agrochemie die natürliche Fruchtbarkeit ihrer Böden schädigen? Ein ehemaliger Landwirtschaftslehrer erklärt das, indem er die pestizidgesteuerte Ausbildung erläutert, die die Landwirt*innen durchlaufen. Der Einsatz synthetischer Pestizide und Dünger macht sie scheinbar unabhängig vom Bodenleben und auch sonst von allen anderen Helfern, wie Insekten und Vögeln. Entsprechend können die Flächen maschinengerecht ausgeräumt und vergrößert werden. Und damit verschwinden auch die Rückzugsgebiete der Tiere in der Agrarsteppe, die Hecken und Gräben und Wegsäume. Ohne synthetische Pestizide wäre die heutige Form der Industrielandwirtschaft nicht möglich. Bei einem Ausflug auf einen Truppenübungsplatz auf der Suche nach dem letzten Rückzugsort der Heideschrecke lernen wir dann, dass das Bauernland ehemals der Garant für biologische Vielfalt war. Vor ihrer Industrialisierung erschuf die Landwirtschaft Biodiversität geradezu. Die synthetischen Pestizide und Kunstdünger haben sie zu deren Vernichter gemacht.
Heute kämpfen wir überall mit den Hinterlassenschaften der Agrochemie. Immer feiner werden die Messmethoden, auf immer mehr Wirkstoffe und Rückstände werden die Grenzwerte ausgedehnt, und doch erscheinen uns jene, die uns von Amtswegen vor den Gefahren durch Pestizide schützen sollen, allenthalben wie moderne Inkarnationen des Sisyphos. Ich hoffe, der Umweltchemiker Christian Stamm, der uns Einblicke in seine Arbeit gewährt, nimmt mir den Vergleich nicht übel. Schließlich kann auch er nicht verhindern, dass wir heute über dreihundert Schadstoffe in der Muttermilch finden können. Überflüssig zu sagen, dass die da nichts zu suchen haben. Wie sie dorthin gelangen können, wird klar, wenn wir erfahren, dass wir offensichtlich die Pestizide als Rückstände in Lebensmitteln nicht nur mitessen, sondern dass wir sie auch einatmen. Dass sie überall durch die Luft fliegen, haben Forscher an Rückständen in der Rinde von Bäumen nachgewiesen, die weit von Äckern entfernt stehen. Auch in weltweit gesammelten Honigproben fanden sich Pestizidrückstände.
Lasst alle Hoffnung fahren
Es gab einen Punkt bei der Arbeit an diesem Buch, da wollte ich nicht mehr. Nicht mehr lesen, nicht mehr weitermachen. Ich stellte mir nun selbst auch jene typische Frage, die mir zuvor schon meine Lieben gestellt hatten: Wenn Du das gewusst hättest, hättest Du dann zugesagt, dieses Lektorat zu übernehmen? Ich beantwortete die Frage mit Ja, dachte aber gleichzeitig darüber nach, ob ich mir selbst mit rhetorischen Antworten wirklich weiterhelfe. „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren“, berichtet Dante Alighieri, stehe über dem Tor zur Hölle, und die liege im Inneren der nördlichen Erdhalbkugel. In diesem Inneren, war mein Eindruck, befinden wir uns längst.
Wir wissen zum Beispiel, dass gerade die Schwächsten, die Kinder, noch im Mutterleib, am ehesten Langzeitschäden davontragen können, wenn sie Pestiziden und ihren Rückständen ausgesetzt sind, wie sie im Körper ihrer Mütter kursieren und dann, nach der Geburt, in deren Milch. Dennoch werden Kinder in den Tests, die neue Pestizide vor der Zulassung durchlaufen müssen, schlicht nicht berücksichtigt. Und auch all die Krankheiten, die sich Erwachsene einfangen können, werden von den Testmethoden nicht erkannt, weil ihr Raster einfach zu grob ist. André Leu, der Autor des Buches Die Pestizidlüge kommt in seinem Beitrag über die Zulassungspraxis für Agrochemie schlicht zu dem Schluss: „Alle gegenwärtig bei Menschen vorkommenden Krebsarten werden mit der gängigen Testmethode nicht erkannt!“ Das sind Sätze, die Depressionen auslösen können. Zumindest im Zusammenspiel mit weiteren ähnlich kategorischen Feststellungen anderer Autorinnen.
Wenn uns vorgeführt wird, mit welchen Methoden Glyphosat wider alle Bedenken auf dem Markt gehalten wird, wenn wir gezeigt bekommen, wie die Zulassungsbehörde aus den Studien der Hersteller abschreibt oder sie schlicht eins zu eins kopiert, wenn wir erfahren, wie das eigentlich verbindliche Verursacherprinzip ausgehebelt wird, und wenn wir dann noch vorgerechnet bekommen, wie viele Milliarden mit der Vergiftung der Welt verdient werden – dann erscheint der Höllenspruch Dantes mehr und mehr als sinnfällige Handlungsanweisung. Ja, dann bin auch ich, ein eigentlich unverbesserlicher Optimist, geneigt, alle Hoffnung fahren zu lassen.
Ganz am Schluss des zweiten Kapitels, das das ganze Panorama der Weltenvergiftung bis hinein in ihre letzten Winkel vorführt, kommt dann ein Lichtblick: Der niederländische Unternehmer Volkert Engelsmann rechnet uns vor, dass die pestizidgetriebene Industrielandwirtschaft eigentlich pleite ist und nur durch Subventionen und unfaire Preise noch am Leben gehalten wird. Bei Einführung einer Echtkostenrechnung in der Landwirtschaft wäre Bio schon heute günstiger für uns alle. Na gut: wäre, könnte, müsste. Eine sehr konjunktivische Hoffnung.
Vision Zukunft
Dann aber folgt endlich das dritte und letzte Kapitel des Buches: „Das Zukunftsbild“. Da werden die Alternativen aufgezeigt, die es schon gibt, die schon funktionieren. Da erzählen die Pioniere des Gutes Rheinau von ihren Anfängen, von den Fährnissen der Umstellung der Staatsdomäne und ihrem Erfolg. Da erfahren wir vom Humusaufbau, von der Rückkehr der biologischen Vielfalt, von neuen Getreidesorten, neuen Reben. Wir lernen Händler kennen, die noch oder wieder die Werte des guten Kaufmanns hochhalten. Und wir erfahren, dass es das längst gibt: Ein Land, das komplett umgestellt hat auf biologische Landwirtschaft. Und das übrigens, ohne dass es jemandem schlechter geht oder gar jemand hungern muss. Nun gut, es ist ein Bundesstaat Indiens und damit weit weg von der europäischen Profitmaximierung. Aber auch dort waren die Agrochemiemultis zugange und haben versucht, die Umstellung zu verhindern.
Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, zu Lebzeiten auch bekannt als „Schmidt-Schnauze“, hat einmal gesagt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Die Visionen dieses Buches sind der Arzt, der mir geholfen hat, die schwere Kost der ersten beiden Kapitel zu verdauen. Deshalb meine Leseempfehlung: Wenn es Ihnen am Anfang schwer wird, die geballte Trostlosigkeit der inzwischen fast zwei Jahrhunderte währenden Vergiftung zu ertragen: Lesen Sie im dritten Kapitel, wie wir das Leben auf unsere Äcker zurückbringen können!
Mehr zum Buch: www.dasgiftundwir.ch