Immer auf den letzten Drücker, oft schon in der Nachspielzeit, erst dann, wenn scheinbar gar nichts mehr geht. Die Rede ist nicht vom Fußball, sondern von der Gesetzgebung. Da neigen die Regierungen und die Parlamente zur Prokrastination, zum pathologischen Vertagen von Entscheidungen. Vor allem dann, wenn es um unsere Gesundheit und die unserer Umwelt geht.
Im Deutschen Bundestag und im Bundesrat waren es die letzten Sitzungen vor der Sommerpause und damit auch vor dem Ende der Legislaturperiode, in denen das sogenannte Insektenschutzpaket verabschiedet wurde. Auf EU-Ebene war es die letzte Chance, noch während der portugiesischen Ratspräsidentschaft die Gemeinsame Agrarpolitik GAP in die nächste Subventionsperiode zu retten. Und in beiden Fällen waren es Mogelpackungen, die Gesetzeskraft erlangten.
Letzte Ausfahrt: Nirgendwo
Das hat Methode. Und die stammt zu einem Gutteil aus Deutschland. Zur Vollendung entwickelt von Wolfgang Schäuble, damals Bundesfinanzminister und damit der Politiker, ohne den nichts ging in der Eurokrise ab 2010. Deutschland war am wenigsten betroffen von der Krise, hatte das dickste Finanzpolster und den kurzen Draht zur EZB. Im dauerhaften Krisenmodus wurde damals die Nachtsitzung zum Interventionsmittel gemacht. Man traf sich nach Börsenschluss in Brüssel und verhandelte die Nacht durch, um dann am nächsten Morgen vor Börsenbeginn mit der nächsten gemeinsamen Maßnahme vor die Mikrofone und Kameras zu treten, um „die Märkte zu beruhigen“. Was dann verkündet wurde, war zumeist „alternativlos“. Das Unwort des Jahres 2010 kam aus dem Munde Angela Merkels. Dass es alternativlos blieb, dafür sorgte ihr Finanzminister. Wenn ihr das nicht wollt, ja dann „isch over!“, sagte Wolfgang Schäuble.
Seitdem sind nun über zehn Jahre vergangen. Die Finanzkrise ist einstweilen Vergangenheit. Was geblieben ist, sind die Nachtsitzungen und die Entscheidungen im letzten Moment.
Ohne die Methode „Letzter Drücker“ lässt sich kaum sinnvoll erklären, weshalb Angela Merkel vormittags im Bundestag ihre wohl letzte Regierungserklärung abgibt und sich dann erst abends mit den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat in Brüssel trifft. Um nach dem Abendessen eine Sitzung zu beginnen, bei der es erwartbar hoch hergeht. Um dann am nächsten Morgen mit den obligaten Ringen unter den Augen vor die Presse zu treten und zu sagen: Mehr war nicht drin! Ihr seht ja, wir haben hart gerungen, wir haben uns alles abverlangt. Aber jetzt lasst uns in Ruhe, wir müssen schlafen. Das Klima, die Umwelt, die Gesundheit, das Soziale – retten wir ein anderes Mal. Gute Nacht!
Systemverschiebung
In Sachen Umwelt und Agrarwende ist die Prokrastination, das krankhafte Verschieben, nun schon so lange Methode, dass es langsam eng wird. Nein, eigentlich ist es schon längst eng geworden. Viel Zeit haben wir nicht mehr, um die Artenvielfalt und die Ernährungssicherheit zu retten und den Klimawandel einzudämmen.
Jeder Kapitän weiß, dass in einer kritischen Situation nur entschlossen hartes Ruderlegen hilft, um die Kollision abzuwenden. Das heißt in der Seefahrt übrigens das Manöver des letzten Augenblicks. Das wird dann eingeleitet, wenn es für alles andere zu spät ist. Unsere Politikerinnen und Politiker leiten in solchen Momenten aber nichts weiter ein als den ultimativen Kompromiss. Und der ist dann, weil die Zeit ja drängt, meist an Faulheit, oder besser an Fäulnis, nicht zu überbieten.
So war das bei der Einigung auf die sogenannten Eco-Schemes der nächsten Subventionsperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Da wurden so viele der Subventionsmaßnahmen für die Landwirtschaft grün angestrichen, dass die Grünen dem Kompromiss nicht mehr zustimmen wollten. Aber die Mehrheit steht. Dafür, dass zum Beispiel die Unterstützung von Bergbauern jetzt per se als Klimapolitik gilt. Dass das zu nichts führt, hat der Europäische Rechnungshof der EU gerade attestiert. Alle bisher schon als Klimapolitik deklarierten Maßnahmen in der zu Ende gehenden GAP-Periode hatten keinerlei klimaschützende Wirkung. Die Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft sind teilweise sogar gestiegen. Da half es auch nichts, dass die EU-Kommission schon in der letzten Subventionsperiode rund hundert Milliarden Euro als Einsatz für den Klimaschutz etikettierte. Das Klima interessiert sich nicht für Etiketten.
Und das bienenkleine deutsche Insektenschutzpaket, das nach vielen Änderungen und Verwässerungen zum Päckchen wurde und das der Bundesrat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause dann doch noch abgesegnet hat, rettet uns die Insekten auch nicht. Das Recht zu Töten bleibt den konventionellen Landwirten auf ihren Äckern erhalten. Nur in Schutzgebieten darf nicht mehr ganz so viel gespritzt werden und an Gewässern muss ein Streifen giftfrei bleiben. Aber nur, wenn die Bäche und Flüsse relevant sind.
Also bitte, liebe Libellen, Köcherfliegen, Wasserläufer, sucht euch zum Überleben relevante Bäche. Und liebe Grashüpfer und Heuschrecken, sucht die Schutzgebiete. Aber, wem sage ich das, es gibt sie ja kaum noch, diese Insekten, von denen früher viele Vögel lebten, die es auch kaum noch gibt. Von den fast sechshundert Wildbienenarten, die in Deutschland leben, stehen die Hälfte auf der Roten Liste. Und wir verabschieden ein bisschen Spritzschutz in Schutzgebieten. Die Bundesumweltministerin freut sich, dass etwas zu verkünden ist, was immer noch Insektenschutzpaket heißt, auch wenn nicht viel mehr drin ist als heiße Luft. Und die Bundeslandwirtschaftsministerin freut sich, dass sie und ihre Agrarlobbyisten im Bundestag es einmal mehr geschafft haben, die Landwirtschaft vor dem Giftverzicht zu retten.
Es funktioniert bestens, das System der politischen Prokrastination. Es wird so lange funktionieren, bis wir die Obstbäume mit der Hand bestäuben müssen, wie das in China bereits der Fall ist. Und die meisten der Verschieber und Verdränger, die dafür Verantwortung tragen, können sich Hoffnung auf ihre Wiederwahl machen. Oder?