Chatkontrolle: Der größte Angriff auf unsere Privatsphäre seit der Vorratsdatenspeicherung

Chatkontrolle stoppen
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Es klingt fürsorglich, fast harmlos. Wer könnte schon dagegen sein, Kinder vor Missbrauch zu schützen? Mit diesem moralischen Schutzschild treibt die Europäische Union derzeit ein Projekt voran, das unsere digitale Welt für immer verändern könnte: die sogenannte Chatkontrolle.

Offiziell soll sie helfen, Bilder und Videos von Kindesmissbrauch im Netz aufzuspüren. In Wahrheit aber bedeutet sie nichts anderes als die Abschaffung privater Kommunikation, wie wir sie kennen.

Denn was geplant ist, sprengt jedes Maß. Künftig sollen sämtliche privaten Nachrichten, ob bei WhatsApp, Signal, Threema oder in der E-Mail, vor der Verschlüsselung auf den Geräten selbst durchsucht werden. Algorithmen würden Fotos, Texte und Videos scannen, angeblich nur nach verdächtigen Inhalten. Doch einmal etabliert, könnte dieses System beliebig erweitert werden. Im Klartext: Die EU arbeitet an einem Mechanismus, der jede Nachricht eines jeden Bürgers präventiv kontrolliert. Das ist nichts anderes als eine digitale Hausdurchsuchung, flächendeckend, anlasslos und dauerhaft.

Ein System, das keine Schlupflöcher mehr kennt

Deutschland und Luxemburg haben sich zwar offiziell gegen den Vorstoß gestellt, Datenschützer warnen vor einem Dammbruch, Bürgerrechtler sprechen vom größten Angriff auf die Privatsphäre seit der Vorratsdatenspeicherung. Doch die Erfahrung mit Brüssel zeigt: Was einmal auf den Tisch gelegt wird, verschwindet nicht mehr. Die Vorratsdatenspeicherung wurde auch nach ihrer verfassungsrechtlichen Schlappe immer wieder neu aufgelegt, leicht modifiziert, umetikettiert, politisch weichgespült. Dasselbe droht nun mit der Chatkontrolle. Heute heißt es noch „nur für Kindesmissbrauch“, morgen könnte es um Terrorismus gehen, übermorgen um „Hassrede“ und bald um jede Form politisch unliebsamer Kommunikation.

Die Heuchelei der EU ist dabei kaum zu überbieten. Auf der einen Seite brüstet man sich mit der DSGVO als weltweitem „Goldstandard für Datenschutz“. Auf der anderen Seite plant man ein System, das den Kern des Datenschutzes zerstört: die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Was auf dem Handy, Tablet oder PC der Bürger passiert, soll künftig kein privater Raum mehr sein, sondern ein überwachten Bereich, in dem Algorithmen alles durchsuchen dürfen. Man verkauft es als Schutz, in Wirklichkeit ist es der Einstieg in eine Überwachungsinfrastruktur, wie sie autoritäre Staaten seit Jahren anstreben.

Natürlich gibt es Profiteure. Die Sicherheitsbehörden sehen sich in ihrem alten Traum bestätigt: Ein System, das keine Schlupflöcher mehr kennt, das jede Kommunikation vorsorglich durchleuchtet, das ausnahmslos alle Bürger in Verdacht stellt. Big Tech darf sich ebenfalls freuen. Denn die Umsetzung von „Client-Side-Scanning“ erfordert gigantische Investitionen in Technik und Infrastruktur. Kleine Anbieter wie Threema oder ProtonMail könnten daran zerbrechen. Apple, Meta und Microsoft hingegen haben die Ressourcen und würden ihre Monopolstellung weiter ausbauen. Unter dem Banner „Kinderschutz“ entstünde so eine Marktbereinigung zugunsten der größten US-Konzerne.

Massenüberwachung durch die Hintertür

Das technische Fundament ist zudem alles andere als zuverlässig. Fehlalarme sind unvermeidlich, wenn Maschinen intime Fotos scannen. Das harmlose Urlaubsfoto vom Strand könnte plötzlich zum „Verdachtsfall“ werden. Gleichzeitig werden Kriminelle immer Wege finden, solche Scans zu umgehen. Leidtragende sind nicht die Täter, sondern die normalen Bürger, deren Kommunikation überwacht, katalogisiert und im Zweifel falsch interpretiert wird. Und noch gefährlicher: Ist das System einmal installiert, wird es nicht beim Kindesmissbrauch bleiben. Jeder Staat, der Zugriff darauf hat, wird es für seine Zwecke nutzen, sei es zur Kontrolle politischer Aktivisten, zum Ausspionieren von Journalisten oder zur Verfolgung unliebsamer Opposition.

Die Parallelen zur Vorratsdatenspeicherung sind unübersehbar. Auch damals versprach man Schutz vor Terror. Heraus kam eine riesige Datensammlung über die gesamte Bevölkerung, die weder Anschläge verhinderte noch Kriminalität ernsthaft eindämmte. Heute wissen wir, dass sie mehr Schaden anrichtete, als sie Nutzen brachte. Genau das wiederholt sich jetzt, nur eine Stufe gefährlicher, weil es nicht mehr um Verbindungsdaten, sondern direkt um Inhalte geht.

Man muss den Vorstoß zudem im größeren Kontext sehen. Parallel zur Chatkontrolle treibt Brüssel die Einführung einer digitalen Identität voran. Offiziell soll sie „Bequemlichkeit und Sicherheit“ bieten. In Wahrheit bedeutet sie, dass künftig jede digitale Handlung eindeutig einer Person zugeordnet werden kann. In Kombination mit der Chatkontrolle entstünde eine Infrastruktur, die es erlaubt, jede Nachricht einer identifizierten Person zuzuordnen, sie auszuwerten und zu speichern. Ein System, das jeder Diktatur die Arbeit erleichtern würde und das jetzt ausgerechnet in der Europäischen Union gebaut werden soll.

Kritiker warnen seit Monaten. Der Chaos Computer Club spricht von „Massenüberwachung durch die Hintertür“. Die Organisation European Digital Rights nennt die Pläne ein „orwellsches Projekt“. Selbst die Vereinten Nationen haben Bedenken geäußert, was Pressefreiheit und den Schutz von Whistleblowern betrifft. Doch wie so oft werden kritische Stimmen in den großen Medien an den Rand gedrängt. Stattdessen dominieren Schlagzeilen, in denen „Kinderschutz“ und „Sicherheit“ im Vordergrund stehen. Das Framing funktioniert: Wer sich gegen die Chatkontrolle ausspricht, läuft Gefahr, als Gegner des Kinderschutzes diffamiert zu werden.

Das neue Normal

Dabei ist es genau andersherum: Wer sich gegen diesen Eingriff stellt, verteidigt die Grundrechte. Kinderschutz ist notwendig, ohne Frage. Aber er darf nicht als Vorwand dienen, die Kommunikation aller Bürger zu durchleuchten. Das wäre, als würde man alle Wohnungen permanent durchsuchen, nur weil irgendwo ein Verbrechen stattfinden könnte.

Die politische Verantwortung liegt bei den Mitgliedsstaaten. Deutschland hat sich bisher klar gegen die Pläne positioniert. Aber wie lange bleibt es dabei? Der Druck aus Brüssel ist enorm, und auch in Berlin selbst gibt es Stimmen, die sich offen für eine „modifizierte Variante“ zeigen. Wer die Geschichte kennt, weiß: Einmal eingeführte Überwachung verschwindet nicht wieder. Sie wird zur Normalität, zum Standard, zum „neuen Normal“.

Am Ende geht es um eine Grundsatzfrage: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der jede private Nachricht potenziell mitgelesen wird? Die EU beantwortet diese Frage gerade mit Ja. Es liegt an uns, ob wir dieses Ja akzeptieren, oder ob wir endlich erkennen, dass Freiheit nicht im Namen der Sicherheit geopfert werden darf. Denn wer heute glaubt, man könne die Privatsphäre Stück für Stück einschränken und am Ende doch frei bleiben, der irrt gewaltig. Die Geschichte lehrt das Gegenteil.

Die Chatkontrolle ist kein harmloser Gesetzesvorschlag. Sie ist der Einstieg in ein Überwachungssystem, das die Grundrechte in Europa auf Jahrzehnte hinaus verändern würde. Es geht nicht um Kinderschutz. Es geht um Kontrolle. Und wenn wir sie zulassen, geben wir nicht nur unsere digitale Privatsphäre auf, sondern auch ein zentrales Stück Freiheit.

 

Quellen

TechRadar: „Chat Control: Germany joins opposition against mandatory scanning of private chats“ (September 2025)
https://www.techradar.com/computing/cyber-security/chat-control-germany-joins-the-opposition-against-mandatory-scanning-of-private-chats-in-the-name-of-encryption

EU-Kommission: „Proposal for a regulation laying down rules to prevent and combat child sexual abuse“ (2022, aktuell in Verhandlungen)
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52022PC0209

Chaos Computer Club: „CCC kritisiert Chatkontrolle – Gefährlicher Eingriff in Grundrechte“ (2023)
https://www.ccc.de/de/updates/2023/chatkontrolle

EDRi: „Chat Control proposal: a threat to privacy, security and free expression“
https://edri.org/our-work/chat-control-proposal-a-threat-to-privacy-security-and-free-expression/

Günther Burbach

Günther Burbach, Jahrgang 1963, ist Informatikkaufmann, Publizist und Buchautor. Nach einer eigenen Kolumne in einer Wochenzeitung arbeitete er in der Redaktion der Funke Mediengruppe. Er veröffentlichte vier Bücher mit Schwerpunkt auf Künstlicher Intelligenz sowie deutscher Innen- und Außenpolitik. In seinen Texten verbindet er technisches Verständnis mit gesellschaftspolitischem Blick – immer mit dem Ziel, Debatten anzustoßen und den Blick für das Wesentliche zu schärfen.
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14 Kommentare

  1. Ganz so brutal ist der chinesische Firewall nicht. Klar, Insta und Whatapp sind dort gesperrt, aber dafür gibt’s WeChat, wo viel kritisches gepostet wird. Der Firewall ist dynamisch, d. h. niemand weiß genau welche westliche Website gerade gestört wird. Durch eine VPN nach Hongkong läßt sich aber der Firewall umgehen. Mittlerweile muß allerdings diese VPN über einen in China lizensierten Provider eingerichtet werden.
    Da die EU – anders als China – digital dumm ist, bezweifle ich ob die ihren bösen Willen umsetzten können. Sie möchten gerne, aber ihnen fehlen die digitalen Mittel. Auch das gesperrte rt ist bekanntlich erreichbar .
    Fazit: die EU braucht sich über China nicht beschweren, sie hat schlimmeres vor, ist nur zu dumm dazu!

    1. > Da die EU – anders als China – digital dumm ist, bezweifle ich ob die ihren bösen Willen umsetzten können.
      Man muss dafür nicht schlau sein, nur mächtig. Dann schreibt man ein Gesetz das die Eigenschaften des Zensurapparats beschreibt und überlässt die technische Implementierung den Anbietern von Internetanschlüssen, Endgeräten und Software. Wers nicht hinbekommt wird mit so hohen Strafen überzogen daß er pleite geht oder sich aus dem EU Markt zurückzieht.

      Das „gesperrte“ RT ist erreichbar, weil eine DNS Sperre die digital dumme Bevölkerungsmehrheit schon erfolgreich aussperrt, und die verbliebene Minderheit allenfalls unter ihresgleichen die dort rezipierten Inhalte diskutieren kann ohne einen Bademantel zu brauchen. Die russische Sicht der Dinge ist damit erfolgreich, wenn auch nicht vollständig aus der Diskussion ausgesperrt.

      Selbstverständlich gibt es technisch qualifiziertes Personal in EU Diensten, das weiß wie man eine great firewall of the EU mit vollständiger Blockade und/oder Überwachung implementieren würde, nur war das bisher für die Wirtschaft schädlich genug um es nicht zu tun. Wenn die tatsächliche oder vermeintliche Notwendigkeit der Kontrolle (egal ob im Sinn von Überwachung des Inhalts oder Entscheidung über das Zustandekommen von Kommunikation) vertraulicher Kommunikation steigt oder nach Abwanderung der Industrie niemand einflussreiches mehr dagegen ist dann wird das umgesetzt. Unser Ursel ist da seit 2009 Garant für Zensurwahn ohne technisches Verständnis.

      Leute mit Sachkunde, aber mit wenig politischer Macht haben sich hier zB dagegen ausgesprochen:

      https://csa-scientist-open-letter.org/Sep2025

      Das läuft auch schon eine ganze Weile, einen solchen offenen Brief gabs ab 2023.

      1. Qualifiziertes Personal ersetzt noch nicht die Hardware für Netzkontrolle und diese hat Big-Tech, das fer in Amihand ist
        Außerden bezweifle ich ob die EU regulatorisch fähig wäre in ganz Europa eine Internetkontrolle durchzusetzen. Polen, aber auch U Garmin wären dagegen. Gerade die Ostländer wie Polen, Litauen, etc. Liebesdichtung die Amis und ihr Big-Tech heiß und innig
        Qualifizierte ITler sollten sich um eine Stelle in China bemühen. Dort können sie ihre digitalen Träume in jeder Hinsicht besser umsehen. Es erwartet sie ein gutes Gehalt und ein angenehmes Leben in deutschsprachiger Umgebung

  2. Ungemein wichtiges Thema, den meisten natürlich völlig egal.
    Neulich schleuderte ich einer eigentlich gut informierten Dame, die meinte, man müsse „aus dieser Abwehr heraus kommen“, die wenigsten hätten doch etwas zu verbergen, ein Zitat von Snowden entgegen, das sie sprachlos machte:

    „Zu argumentieren, dass man keine Privatsphäre braucht, weil man nichts zu verbergen hat, ist gleichzusetzen mit der Aussage, dass man die Meinungsfreiheit nicht braucht, weil man nichts zu sagen hat.“

    Unbedingt auch bei Patrick Breyer reinschauen!
    https://www.patrick-breyer.de/beitraege/chatkontrolle/

    1. ! Das ist das beste Argument überhaupt !

      „Zu argumentieren, dass man keine Privatsphäre braucht, weil man nichts zu verbergen hat, ist gleichzusetzen mit der Aussage, dass man die Meinungsfreiheit auch nicht braucht, weil man nichts zu sagen hat.“
      👍🏻

  3. Ich bin für Chatkontrolle.
    Jeder Chat, jedes Gespräch, auf jeder Plattform der politischen und wirtschaftlichen Eliten muß frei zugänglich sein, öffentlich und kontrollierbar damit man sie zur Verantwortung ziehen kann für ihre Verbrechen gegen das Volk!

  4. altes Wort „Smartphone“

    In her State of the Union speech „Glasnost“

    Wir erinnern uns, nur den Mitglieder der Inneren Partei* war es gestattet, den Televisor temporär ab zuschalten.

    *Für nähere Informationen fragen sie ihre/ihren Abgeordnete oder Abgeordneten der Europäischen Kommission wie diese keine Digitale Spuren hinterlassen.

    1. Die Forderung raus aus Big-Tech ist so realistisch wie auf russisches Öl zu verzichten!
      Die BRD, Europa, hat kein Big-Tech, das haben die Amis und auch China

  5. Ich teile die hier geäußerte Sorge uneingeschränkt. Mit der sogenannten „Chatkontrolle“ überschreitet die EU eine rote Linie, die das Fundament des demokratischen Rechtsstaats bedroht. Private Kommunikation ist ein unverzichtbarer Kernbereich der Freiheit. Wird dieser Bereich aufgegeben, verlieren wir das letzte Stück Schutz vor staatlicher Willkür.

    Die Argumentation mit Kinderschutz klingt zwar moralisch unanfechtbar, ist aber gerade deshalb gefährlich: sie dient als Vorwand, ein Instrument einzuführen, das sich beliebig ausweiten lässt. Heute geht es um Missbrauchsdarstellungen, morgen um Terrorismus, übermorgen um „Hassrede“ oder schlicht um politisch missliebige Stimmen. Wer glaubt, dass solche Systeme auf ihren ursprünglichen Zweck beschränkt bleiben, verkennt die Dynamik von Macht.

    Der Rechtsstaat unterscheidet sich von autoritären Systemen gerade dadurch, dass Überwachung nur anlassbezogen und unter richterlicher Kontrolle stattfinden darf. Mit der Chatkontrolle würde dieses Prinzip aufgegeben. Die präventive, flächendeckende Durchleuchtung jeder Kommunikation ist nichts anderes als ein Generalverdacht gegen die gesamte Bevölkerung.

    Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Demokratie und Autoritarismus. Eine Gesellschaft, in der jedes Wort potenziell mitgelesen wird, unterscheidet sich nur noch graduell, nicht mehr grundsätzlich, von autoritären Staaten. Wer einmal akzeptiert hat, dass Freiheit zugunsten vermeintlicher Sicherheit geopfert werden darf, wird sie nie zurückgewinnen.

    Es geht hier nicht um technische Details, sondern um die Grundfrage: Wollen wir Bürger bleiben – oder überwachte Untertanen? Die Chatkontrolle wäre der Schritt, der den demokratischen Rechtsstaat endgültig aushöhlt.

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