Harte Zeiten, Folge 8 — Felix

Harte Zeiten, Spreeufer
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Chris trifft sich mit Felix, seinem 14-jährigen Sohn aus erster Ehe. Chris ist mit dessen schulischer Laufbahn unzufrieden und macht sich Sorgen darüber, dass sein Sohn sichtlich nach rechts abdriftet. Im Gegenzug fühlt sich Felix von seinem Vater herablassend behandelt und nicht geliebt.

 

Von weiten kann Chris ihn sehen: ein dünner Junge in Fußballklamotten und einem Käppi auf dem Kopf. Unsicher steht er vor dem Restaurant, in dem sie sich verabredet haben. Wahrscheinlich traut er sich nicht reinzugehen. Chris winkt ihm zu, aber Felix hat sein Käppi zu weit über seine Stirn gezogen, um ihn zu sehen.

Erst als Chris vor ihm steht, erhellt sich sein Gesicht für einen Moment.

„Ah, da bist du ja“, sagt er. Sie legen ihre Arme umeinander, ohne sich zu küssen. Chris klopft Felix leicht auf die Schulter.

„Komm“, sagt Chris und stößt die Holztür des Restaurants auf. Felix stakst ihm hinterher, sichtlich erleichtert, nicht allein in das Restaurant gehen zu müssen.

Gemeinsam setzen sie sich an einen Zweiertisch. Felix greift nach der Speisekarte und vergräbt seinen Kopf darin.

„Nimm doch mal dein Käppi ab, Felix“, sagt Chris.

Chris sieht ihn an und grinst kurz.

„Ja, Tschuldigung.“

Er hat ein schönes Lächeln. Eigentlich ist der Junge insgesamt richtig hübsch. Große hellbraune Augen, dazu lange Wimpern und braune gewellte Haare. Ziemlich nah an dem, wie er selbst früher aussah.

„Bestell dir was Anständiges. Nicht dass du vom Fleisch fällst – oder bist du Vegetarier geworden?“

Chris beißt sich auf die Lippen.

„Also ich meine das jetzt nicht abwertend. Katja ist ja auch Vegetarierin und ich, also ich esse ja auch kaum noch Fleisch, außer ich gehe mit Kunden aus. Also, ich wollte Dir nicht zu nahetreten, es wäre natürlich völlig in Ordnung wenn du …“

„Ey, bist du behindert, natürlich ess‘ ich Fleisch.“

Chris weicht unmerklich zurück. Da ist es wieder. Diese irritierende, grässliche Sprache. Und das von einem jungen Menschen, der mit der Hälfte seiner Gene herumlief.

„Ich habe Dir schon mal gesagt, dass man das mit dem „behindert“ nicht sagen darf. Stell dir vor, hier säße ein Behinderter und der würde das da hören, wie, glaubst du, würde er sich fühlen?“

Felix rollt mit den Augen.

„Ist doch nur ein Wort“, zischt Felix und blickt weiter auf die Karte.

„Worte sind wichtig Felix, sie sind das, was wir vermitteln und sie vermitteln immer mehr als nur … Klang“

Er wollte eigentlich „phonetische Reize“ sagen, hat sich aber gerade noch zurückhalten können. Felix hat wenig Sinn für Fremdwörter. Was zum Teil wohl daher kommt, dass er auf eine Mittelschule geht. Die Schulwahl gehörte zu dem letzten großen Streit mit Eva. Sie war aufs Land gezogen und die Mittelschule ist bei ihr gleich um Eck. Sie mag zwar immer wieder beteuert haben, dass das nicht der Grund sei, warum sie ihn dort angemeldet hatte, aber Chris glaubt ihr nicht. Menschen wie Eva gehen immer den geringsten Weg des Widerstandes. Ohne Biss, ohne Ehrgeiz. Er hätte seinen Sohn gerne woanders gesehen. Auf einem Gymnasium. Auch wenn es nicht einfach gewesen wäre. Wozu gibt es Nachhilfelehrer? Es ist nicht nur der Abschluss, der zählt, es sind auch die Menschen, mit denen man zusammen ist. Die einen genauso beeinflussen wie die eigene Familie. Vor allem in Felix‘ Alter. Es gab dazu Studien.

Chris hat das Gefühl seinen Sohn seit dieser Entscheidung verloren zu haben. Nicht nur weil Eva sich durchgesetzt hatte, sondern weil damit besiegelt wurde, dass er einen anderen Weg einschlagen würde als er.

Worüber kann er sich mit ihm unterhalten, wenn sein Leben aus Rap und Fußball besteht? Für Chris gibt es Felix in zwei Versionen: Einmal den kleinen, fröhlichen Jungen, mit dem er zusammengelebt hat, als er noch mit Eva zusammen war, und dem die Zukunft offenstand, und einmal den Felix von heute, einem dünnen Jungen in billigen Fußballklamotten aus Nylon, der „behindert“ sagte und mit dem ihn nichts verbindet.

„Wie auch immer“, sagt Felix und klappt die Karte zu.

Chris beschließt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

„Weißt du, was du willst?“

Felix nickt.

„Ja, ne Ente.“

„Super, das nehme ich auch“, sagt Chris. Wenigstens beim Essen sind sie sich einig.

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hat, holt Felix sein Handy heraus und beginnt dort irgendwas hineinzutippen.

„Felix, bitte leg das Handy weg. Wir wollen uns doch unterhalten“, sagt Chris.

Widerwillig legt Felix das Handy weg, schnauft und legt seinen Kopf in die Hand.

„Wenn du willst, gehen wir nachher einkaufen. Klamotten meine ich“, sagt Chris.

Felix wirft seinem Vater einen kurzen Blick zu. Er kann seinem Vater ansehen, dass er sein Outfit nicht mag. Dabei hat er sich dieses Outfit vor ein paar Wochen von seiner Mutter zum Geburtstag gewünscht. Er war so glücklich gewesen, dass er sie auch bekommen hatte.  Sein Vater hatte ihm irgendein bescheuertes Buch gekauft, irgendwas mit „Große philosophische Fragen erklärt für Jugendliche“ oder so was. Als würde er sich für so was interessieren.

„Und? Erzähl mal, wie geht es Dir gerade so in deinem Leben?“

„Wie es mir in meinem Leben geht? Wie meinst‘n das? Also wie es mir geht, oder was?“

„Ja, wie es dir geht.“

„Gut geht’s mir.“

„Du machst ja dieses Jahr deinen Abschluss richtig?“

Chris hat sich vorgenommen, so neutral wie möglich über den Schulabschluss seines Sohnes zu sprechen und kein Wort darüber zu verlieren, dass er nur einen qualifizierten Mittelschulabschluss erwerben wird.

„Jaja“, sagt Felix und fummelt an seinem Käppi herum.

„Und? Weißt du denn schon, was Du danach machen wirst?“

„Äh … nein.“

„Aber musst du denn nicht, also … muss man sich nicht irgendwie bewerben, wenn man eine Ausbildung machen will oder … oder hast du dir überlegt weiter auf der Schule zu bleiben?“

„Ich? Nee, auf keinen Fall.“

„Also wenn du nicht … ich meine, wenn du nicht weiter auf die Schule gehst, dann muss man, also dann solltest du eine Ausbildung machen.“

„Ja, weiß nicht, denk schon.“

„Vielleicht musst du dich beraten lassen. Soll ich dir jemanden besorgen? Eine ..äh.. Beraterin oder so?“

Felix wirft Chris einen irritierten Blick zu.

„Neee, danke, echt nicht …“

Wetten, dass Felix in diesem Moment an die Psychologin denkt, die er ihm vor einem Jahr besorgt hatte? Sie hatte einen Intelligenztest mit ihm machen wollen, den er frustriert abgebrochen hatte.

Chris und Felix schweigen. Sie beide wissen genau, dass sie mit diesem Thema ein Minenfeld betreten haben.

Trotzdem sieht Felix es als seine Aufgabe an, mit seinem Sohn über dessen Zukunft zu sprechen.

„Gibt es denn irgendwas, was dir zusagt? So spontan meine ich?“

„Ich weiß nicht, ja vielleicht…. Koch.“

Chris sieht Felix überrascht an.

„Koch? Das ist ja cool.“

Erst vor kurzem hatte er von diesem Starkoch in dem Hochglanzmagazin gelesen, der als 12-Jähriger in der Küche seiner Mutter angefangen hatte zu kochen und sich dort in Brooklyn praktisch selbst zum Sternekoch fortgebildet und jetzt sein eigenes Restaurant aufgemacht hatte und zu einem der gefragtesten Köche in New York aufgestiegen war. Natürlich hatte seine Mutter sein Talent rechtzeitig erkannt und ihn damals mit allem, was sie konnte, gefördert.

„Da geht es glaube ich ganz schön hart zu, hab‘ ich gehört. Fast wie beim Militär.“

„Ja, das hab‘ ich auch schön gehört“, sagt Felix und Chris sieht plötzlich fast so etwas wie ein Leuchten in seinen Augen. „Aber das gefällt mir ja gerade!“

„Ach wirklich? Ich dachte …“

„Was dachtest du?“, fragt Felix. „Denkst du jetzt dass ich so was nicht pack, oder was?“

„Nein, nein, das dachte ich gar nicht“, sagt Chris fühlt sich aber ertappt. „Ich… bin nur überrascht, dass du dich für so ein militärisches Ambiente, also ich meine so eine Atmosphäre, interessierst“

„Ja, aber das ist es ja gerade“, sagt Felix. „Ich meine, ja du hast schon recht, ich bin gar nicht so diszipliniert, aber wenn das alle drum herum, also alle das alles mitmachen, dann ist das bestimmt cool, also … ich …“

Felix hält inne und senkt seinen Blick.

„Was?“, fragt Chris, der spürt, dass Felix gerne weitersprechen möchte, aber sich nicht traut.

Felix sieht seinen Vater an.

„Weißt du … ich denke … ich würde gerne … ich würde gerne ein harter Mann werden.“

„Ein harter Mann?“

„Ja. Es gibt da diesen Spruch, weißt du … wie geht der noch mal … Harte Zeiten schaffen starke Männer. Starke Männer schaffen gute Zeiten. Gute Zeiten schaffen schwache Männer. Und … äh …schwache Männer schaffen harte Zeiten.“

„Woher hast du das denn?“, fragt Chris irritiert.

„Weiß ich nicht, hab‘ ich irgendwo gelesen.“

„Wo denn?“

„Weiß ich nicht, ist doch egal“, nuschelt Felix und fummelt an seinem Käppi herum.

„Kannst du mir sagen, was … was du an dem Spruch magst?“

„Naja, ich denke… wir haben … also jetzt … harte Zeiten. Und da braucht man das mit der Disziplin und so, ich meine, du sagst doch selber, dass du keine Unordnung magst, und ich weiß, ich räum mein Zimmer nie auf und so, aber eigentlich gefällt es mir nicht, ich würds‘ gerne aufräumen, weil… ich weiß nicht, ich wünschte einfach nur, es wäre alles nicht so kompliziert …“

Felix spricht mit einer leisen Stimme. Die leise Stimme eines kleinen Jungen, der nicht weiß, wo er hingehört.

„Schau mal“, sagt Chris jetzt versöhnlich. „Die Zeiten sind nicht einfach, da gebe ich dir recht, aber insgesamt geht uns doch wirklich noch gut. Schau dir Deutschland an. Wir waren noch nie so wohlhabend wie heute …“

„Wir? Wen meinst du damit?“, unterbricht ihn Felix plötzlich scharf. „Du vielleicht. Aber Leute wie Mama und ich bestimmt nicht.“

Chris zuckt unwillkürlich zurück, hört sich selbst zu wie in seinen Speaker-Ton verfällt, aber er kann nichts dagegen tun.

„Natürlich verdienen manche mehr und manche weniger. Das sind … das sind … ökonomische Prozesse, verstehst du? Es hängt halt auch davon ab, wie viel jeder zum Wohlstand beisteuert. Das Wichtige ist doch, dass wir alle ein Recht auf Bildung, auf Krankenhäuser und ein sicheres Umfeld haben. Oder etwa nicht?“

Felix schüttelt den Kopf.

„Was ist?“, fragt Chris.

„Ey, du hast doch keine Ahnung. Ich meine, du lebst hier in der Stadt, du machst einen Haufen Kohle und … ich meine, du weißt doch gar nicht was hier abgeht.“

„Also hör mal, ich fahre ständig in der Gegend rum, ich berate Firmen, ich weiß sehr genau wie es aussieht in Deutschland. Es gehört zu meinem Job zu wissen, wie es hier aussieht. Und was soll das überhaupt mit den „harten Zeiten“? Ich meine ja, es gibt Kriege, Anschläge, aber doch nicht hier. Deutschland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer friedliebenden Nation entwickelt, die als Vorbild für viele andere Länder gelten kann.“

„Deutschland? Ein Vorbild? Anstatt sich um seine eigenen Leute zu kümmern, steckt der Staat das irgendwelchen Einwanderern in den Rachen und dann schauen sie auch noch zu, wie die uns alle zum Islam bekehren wollen.“

„Jetzt ist aber Schluss“, sagt Chris und sieht Felix streng an. „Woher hast du diesen Unsinn?“

„Ich informier mich halt. Im Gegensatz zu dir!“

Chris beißt sich auf die Lippen.

„Hast du das … redet etwa deine Mutter so? Oder ihr Freund, dieser … Marcel?“

„Ach vergiß, was ich gesagt hab.“

„Nein, Felix… das tue ich nicht, ich vergesse das nicht. Das ist … das ist …“

„Was ist das?“

„Das ist rechtspopulistischer Schwachsinn, den du da verzapfst.“

Plötzlich erhebt sich Felix.

„Weißt du was? Du kannst mich mal.“

„Felix, setz dich!“

Felix zieht seine Jacke an.

„Kannst deine blöde Ente ohne mich essen.“

Dann dreht er sich um und geht.

Gerade als er sich überlegt, ihm vielleicht doch hinterherzulaufen und ihn zurückzuholen, kommt der Kellner mit den zwei Enten.

Chris lässt den Kellner die zwei Enten einpacken und verlangt nach der Rechnung.

Wenigstens wird sich Katja nicht darüber beschweren können, diesmal nicht ans Essen gedacht zu haben.

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6 Kommentare

  1. Die oberflächliche Mainstream Meinung trifft auf die Wirklichkeit eines Jungen der die Mittelschule besuchen darf!

    Und Googelt mal was „Mittelschule“ heutzutage in Wirklichkeit ist, kleiner Spoiler es nicht die Realschule.

  2. Fehlermeldung:
    „Trotzdem sieht Felix es als seine Aufgabe an, mit seinem Sohn über dessen Zukunft zu sprechen.“
    Hier werden die personen verwechselt.
    Auch sonst gehts nicht so genau zu: ein 14-jähriger macht keinen schulabschluss, selbst bei einem hauptschulabschluss ist der schüler mindestens 15 jahre alt (nach 9. klasse).
    Fazit, dieser text stammt offenbar von jemand, der nie schulpflichtige kinder hatte oder sich um diese nie gekümmert hat. M.a.w. ein realitätsfremder pseudo-text. Vielen dank auch!

  3. „ein 14-jähriger macht keinen schulabschluss, selbst bei einem hauptschulabschluss ist der schüler mindestens 15 jahre alt (nach 9. klasse).“
    Wenn jemand mit sechs Jahren in die erste Klasse kommt, wie alt ist er dann in der neunten?

  4. Chris beißt sich auf die Lippen.

    „Also ich meine das jetzt nicht abwertend. Katja ist ja auch Vegetarierin …

    Chris lässt den Kellner die zwei Enten einpacken und verlangt nach der Rechnung.

    Wenigstens wird sich Katja nicht darüber beschweren können, diesmal nicht ans Essen gedacht zu haben.

  5. Ein Sechsjähriger wird im Laufe des ersten Schuljahres sieben. Mit Vollendung des neunten Schuljahres ist er fünfzehn. Im Text wird an keiner Stelle behauptet das der Abschluss mit vierzehn stattfindet.

    Chris Bezugnahme auf den Abschluss „dieses Jahr“ bezieht sich auf das Kalenderjahr.

    Absurd hingegen sind Chris Aussagen im Text, wie: „Es hängt halt auch davon ab, wie viel jeder zum Wohlstand beisteuert.“ Angesichts einer an der Realität orientierten Beobachtung, läßt sich leicht feststellen, das die am höchsten vergüteten, bzw. einträglichsten Positionen/Tätigkeiten, zu einer Verminderung des allgemeinen Wohlstands führen. Siehe Einkünfte von Macht- und Funktionseliten verglichen mit ihrem Wirken im gesellschaftlichen Rahmen. Chris verortet seinen Sohn im politischen Spektrum rechts, was durch Felix Hinwendung auf Ablenkziele dargestellt ist. Es wäre interessant zu erfahren wo Chris sich selbst einsortiert? Angesichts seiner bereits präsentierten sozialdarwinistischen Ausprägung, die sich ja auch weiters in einem gymnasialen Formatierungswunsch für seinen Sohn ausdrückt. Also das und Chris ist zudem ein halber (oder ganzer) Eugeniker.

    Also die beiden sind sich recht ähnlich.

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