
Chris flüchtet in ein Café und trifft auf Vic. Er, der smarte Berater, der daran glaubt, dass allein der Fortschritt alle glücklich machen wird, ist den Augen der Kriegsfotografin, die schon so viel Unglück auf der Welt gesehen hat und nichts von Menschen hält, die glauben, die Welt verbessern zu können, hoffnungslos naiv.
Chris hat keine Lust, sich in seinem verdreckten Anzug von den Mitarbeitern von CallOne in der Kantine sehen zu lassen. Dann lieber in das nächstbeste Café.
Das nächstbeste Café ist genau gegenüber.
Beigefarbene Holzstühle, Holztische aus Bambus mit glatter Oberfläche und gekachelter weißer Boden. Dazu vegane Cookies und Hafermilch Cappuccinos. Ein typisches Café, in das er auch mit Katja gehen würde.
Das Cleane, die skandinavische Aufgeräumtheit beruhigt ihn.
Er kann spüren, wie sein Puls wieder runtergeht. Mit ein bisschen Glück würde er einen neuen Termin bekommen.
Trotzdem ist er sauer.
Chris bestellt einen Café Latte über sein IPhone und zahlt mit seiner digitalisierten Mastercard.
Kein Zufall, dass diese Art Cafés Europa gerade erobern. Selbst in Paris verschwinden die alten Bistrots. Man mag es traurig finden, aber Chris findet, es ist Zeit, dem 19. Jahrhundert auf Wiedersehen zu sagen. Das Café hier ist von Menschen gestaltet worden, die wissen, dass man nur mit und nicht gegen die Wirtschaft arbeiten muss. Menschen, die das Potential der Digitalisierung erkannt haben.
Digitale Bestellungen findet er cool, macht man in Asien schon lange. Japan zum Beispiel. Dort war Chris letztes Jahr mit Katia. Großartig. Tradition trifft auf HiTec. Chris hat die Reise in einem seiner Talks verarbeitet. “Von Japan lernen“, hieß er. Ein großer Erfolg.
Nicht so wie der Vortrag heute.
Im Fernsehen über der Theke sieht er wie der Kanzler ein Interview zu seinen Plänen für das neue Energiegesetz spricht. Das Gesetz, das er vor ein paar Monaten als Leuchtturm seiner „green germany now– Initiative“ in die Wege geleitet hat. Autos sollen an zwei Tagen die Woche verboten werden, dazu erklärt er seine Idee, den Kern der Innenstädte zunehmend frei von Autos zu halten. Chris findet das eine gute Sache. Außerdem: Wer braucht schon Autos in der Innenstadt?
Sehen aber sichtlich nicht alle so. Der Interviewer fragt Jakob Mauder, wie er die wütenden Aufrufe der Rechten bewertet, worauf er antwortet, dass sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden hätten.
Chris wartet geduldig am Ende der der Schlange.
Am anderen Ende des Tresens ruft ein junger Mann in einem Ringelpullover seinen Namen.
„Yep!“, ruft Chris, nimmt sein kleines Holztablett, auf dem der Kaffee in einer blassgrünen getöpferten Tasse ohne Henkel steht, und setzt sich auf einen Barstuhl gegenüber dem großen Fenster, von dem man den Eingang zu CallOne sehen kann.
Nach seinem zweiten Schluck Café Latte bemerkt Chris plötzlich eine Frau neben ihm, die eine Kamera in der Hand hält und immer wieder konzentriert durch die Linse blickt. Ihre dunkelbraunen Haare sind unregelmäßig geschnitten. Es ist nicht auszumachen, ob sie ungemein hipp geschnitten sind oder die Frau sich nur ungemein wenig um ihre Haare schert.
Sie muss sein Starren bemerkt haben, denn jetzt dreht sie sich zu ihm um und spricht ihn an.
„Nein, ich bin nicht bei der CIA, falls es das ist, was Sie fragen wollten.“
„Nein … aber vielleicht arbeiten Sie für den Bundesnachrichtendienst.“
„Dann hätte ich aber eine schlechte Ausbildung bekommen. Es kann ja jeder Depp sehen, dass ich fotografiere.“
Dass mit dem „Depp“ er gemeint ist, wissen beide.
„Good point.“
„Ich bin Fotografin.“
„Und was fotografieren Sie?“
„Die Unruhe.“
„Sie meinen die Aktivisten? Die haben eben meinen Vortrag gestürmt.“
Sie nickt. Auf eine unbeteiligte Weise.
„Hier gerät etwas in Bewegung.“
„Wie meinen Sie das?“
„Die Gesellschaft ist dabei, unruhig zu werden.“
„Unruhe ist nicht gut“, sagt Chris. „Hat einen negativen Beigeschmack.“
Die Frau zuckt mit den Schultern und antwortet:
„Das ganze Leben hat einen negativen Beigeschmack.“
Woraufhin Chris erst mal nichts einfällt.
Bis sie hinzufügt: „Vertrauen Sie mir. Ich bin Kriegsfotografin.“
„Echt? Und wie ist das? Der Krieg?“, fragt Chris, der noch nie mit jemandem gesprochen hat, der in Kriegsgebieten war. „In einem Wort?“
Vic mustert den Mann kurz von oben bis unten.
Hellgrauer modischer Anzug – hässlich aber wahrscheinlich teuer. Smarte Ausdrucksweise, gute Ausbildung und auf subtile Weise auf Außenwirkung bedacht. Sie tippt auf Bank oder Investmentberatung. Jedenfalls irgendwas, bei dem man als Mann seine Eier verliert.
Sie kennt diese Typen. Diese kastrierten Männer, die ständig Angst haben. Angst, etwas falsch zu machen. Angst, ihr Geld zu verlieren. Und Angst, dass andere merken, dass sie aus spießigen Elternhäusern kommen.
Wobei Vic nichts gegen spießige Elternhäuser hat. Sie sind auch nicht besser oder schlechter als andere.
Was sie nicht mag, sind Menschen, die so tun, als seien jemand, der sie nicht sind. So wie dieser Typ da.
Wer im Krieg zu Hause ist, lernt, in Sekundenschnelle in Gesichtern zu lesen. Weil es unter Umständen dein Leben retten kann.
Wem kannst du vertrauen, wem nicht. Wer erschießt dich gleich, wer nicht?
Ein weiterer Grund, warum es sie immer wieder weg von Deutschland zieht.
Weil es hier in Deutschland zu viele von ihnen sind. Zu viele Angeber. Und zu viele Heuchler. Die aber insgeheim immer unzufrieden sind mit dem, was sie haben. Die Sorte, die dann ganz aufgeregt werden, wenn man ihnen erzählt, dass man den Krieg kennt, weil der Krieg, oh ja, ist der nicht schrecklich, aber auch irgendwie faszinierend, nicht wahr? Und weil sie genau spüren, dass während sie selbst an ihrem eigenen Leben vorbeileben, da vielleicht jemand vor ihnen jemand steht, ihnen etwas von Menschen erzählen kann, die das wahre Leben kennen.
Vic beantwortet diese Frage so, wie sie es immer tut:
„Chaotisch.“
„Chaotisch? Warum?“
„Weil man nie weiß, zu was man selbst im Krieg wird.“
„Wie meinen Sie das?“
„Stellen Sie sich vor, Sie würden von morgens bis abends den Geruch verbrannter Menschen riechen müssen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie kotzen nur noch oder es ist Ihnen irgendwann egal.“
Chris sieht Vic irritiert an.
„Schauen Sie nicht so. Der Krieg ist Teil unseres Lebens. Und wenn zu viele Menschen zusammenleben, dann führt das meist über kurz oder lang immer in die Katastrophe. Damit müssen wir leben.“
„Im Ernst? Ist das ihre Weltsicht?“
Ja, Mister-hellgrauer-Anzug, der nicht glauben kann, dass es in der Welt keinen Fortschritt gibt.
„Ja, ist es“, sagt Vic, zuckt mit den Schultern und dreht sich um, um auf den Auslöser ihrer Kamera zu drücken.
Chris trinkt seinen Café Latte aus und beachtet die Frau nicht mehr, die er in seinem Kopf längst als „Kriegsfotografin“ abgestempelt hat. Eine Frau, die zu viel Hartes erlebt hat, um für Großstädte geeignet zu sein, für die man Rücksicht und Taktgefühl benötigt.
Er, der Personalabteilungen ständig berät, würde zumindest niemandem raten, sie einzustellen.
Er schaut auf die Uhr. Wenn er sich jetzt auf den Weg macht, könnte er vielleicht sogar vor Katja zu Hause sein.
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