
Chris hat sich von Katja getrennt und ist aufs Land gezogen. Nachdem er als Sympathisant der Reichstagstürmer seinen guten Namen verloren hat, arbeitet er nun bei einem Autohändler und kümmert sich am Wochenende um seinen Sohn. Sein altes Leben kommt ihm lächerlich vor.
Chris hat seinen alten Namen angenommen. Christian. Er weiß ohnehin nicht mehr, warum er sich vor Jahren in „Chris“ unbenannt hatte. Würde er antworten, wenn ihn je jemand danach fragen würde. Weil er es in Wahrheit sehr wohl weiß. Weil natürlich „Chris“ wesentlich cooler klingt als Christian. Und internationaler.
Wenn er jetzt mit seinem alten Namen annimmt, dann weil er wieder einen Neuanfang macht.
Seine Wunde verheilt gut. Er hat Glück gehabt, haben die Ärzte gesagt. „Sauberer Schuss durch die Schulter.“ Er hatte nicht gewusst, dass es auch schmutzige Schüsse gibt.
In den vergangenen Wochen hat er sich die Haare wachsen lassen. Und sich einen neuen Anzug gekauft. Einen der nicht so teuer ist. Und nicht so eng. Seinen hellgrauen Gucci-Anzug, der an den Schultern und an den Hüften immer modisch zwickte, hat er in der Wohnung mit Katja zurückgelassen. Vielleicht würde sie den Anzug ja als Erinnerungsstück behalten. An Chris, den Transformationsberater, mit dem sie mal verheiratet war.
Ach was, wahrscheinlich hatte sie ihn schon längst in die Kleidersammlung gegeben.
Er fühlt sich immer noch schuldig. Obwohl er weiß, dass er streng genommen keine Schuld trägt. Zumindest nicht an der Entführung. Aber daran, seinen Sohn vernachlässigt zu haben. Und daran, zu einem Putsch aufgerufen zu haben.
In der Verhandlung hat sein Verteidiger dem Richter davon überzeugen können, er habe nicht wirklich die Regierung stürzen wollen, sondern habe nur aus Verzweiflung gehandelt. Da er nicht vorbestraft war und auch sonst zuvor politisch nie einer rechten Gruppe angehört hat, hat man es bei einer Geldstrafe belassen. Diese allerdings war so hoch, dass er einen großen Teil seines Ersparten Geldes hatte dem Staat geben müssen.
Das Geld ist ihm egal.
Schlimmer war die Ausgrenzung, die er erfahren hat. Nicht nur die von Katja. Es waren die Nachbarn im Haus, die Leute auf seiner Straße. Die, die ihn als aufgeklärten Musterbürger kannten und in ihm den rechten Verräter sahen.
Natürlich musste er wegziehen. Am besten in einen Ort außerhalb der Großstadt. Wo die Menschen ihn nicht kannten. Und vielleicht sogar so etwas wie Verständnis hätten.
Wie dieses neue Leben aussehen soll, daran arbeitet er noch.
Die Stadt hat eine Eisdiele, ein Gasthof, der sich „Sonnenhof“ nennt, eine Pizzeria und ein vietnamesisches Restaurant. Am Stadtrand ist ein Verein mit einem Fußballklub. Er kennt das. Er ist vor vielen Jahren selbst in so einer Stadt und so einem Reihenhaus aufgewachsen. Er dachte, dass es solche Städte gar nicht mehr geben würde, aber er hat sich sichtlich geirrt.
Die Männer in seinem Alter, die hier Leben, haben eine Frau, eine Familie, ein Haus.
Ob sie den Neuankömmling zu sich nach Hause einladen werden, ist zweifelhaft.
Vielleicht sollte er ein kleines Begrüßungsfest machen. Prosecco ausschenken, Smalltalk machen allen zeigen, dass er ein netter Kerl ist und nicht der rechtsradikale Komplottist, zu dem ihm die Medien gemacht haben. Vielleicht könnte er sich Freunde machen. Mit irgendwem regelmäßig Tennis spielen. Oder Fußballspiele anschauen während auf dem Balkon Würstchen gegrillt werden.
Wenn Katja ihn in einem Vorgarten beim Grillen sehen würde, würde sie ihn nur mitleidsvoll den Kopf schütteln. Nein, nicht mitleidsvoll. Verachtend.
Aber Katja und er sind nicht mehr zusammen. Das Einzige, worauf er sich wirklich freut, ist, seinen Sohn regelmäßig zu sehen. Er bewundert seinen Sohn. Die Resilienz, die er zeigt. Er will wieder in die Schule gehen, seinen Abschluss machen. Beim letzten Mal hat er ihm eine Playstation mitgebracht. Felix hatte gestrahlt und andeutungsweise eine Umarmung versucht.
Letzte Woche war er bei Eva und Marcel zum Essen eingeladen. Er hat sich zum ersten Mal mit Marcel unterhalten. Ob sie ihn nur deshalb eingeladen haben, weil er ihnen leidtut, weiß er nicht. Irgendwann wird er dann wohl auch von Katja zum Essen eingeladen werden. Es würde ihn nicht wundern, wenn zwischen ihr und ihrer Assistentin CKay nicht was laufen würde. Zumindest war sie jedesmal da, wenn er Angelina abgeholt hatte.
Soll ihn recht sein. Obwohl es sich trotzdem etwas komisch anfühlt, von einer Frau ersetzt zu werden.
Sein neuer Boss, der Autohändler, ist Chris nicht unsympathisch. Ein ehrgeiziger Mann, der mit Mitte dreißig schon kahl ist und irgendwann Bürgermeister der Stadt werden will.
Chris ist ihm dankbar, ihn eingestellt zu haben. Und das, obwohl er ihn erkannt hat. Oder vielleicht gerade deswegen? Er hat viel Post bekommen von Menschen, die glauben, dass er auf ihrer Seite steht. Chris hat sich geschworen, sie nie wieder über irgendetwas Politisches zu äußern. Oder Menschen zu sagen, was sie zu tun haben.
In seinem neuen Job beschränkt er sich darauf, Zahlungseingänge zu kontrollieren, Garantieaufträge zu bearbeiten und Bestellungen zu koordinieren.
Was sein Chef nicht versteht ist, warum sein neuer Angestellter nur halbtags arbeiten will.
„Ich teile mir das Sorgerecht mit meiner Ex Frau, also bald Ex Frau“, hat Chris versucht zu erklären.
Verstanden hat er es trotzdem nicht.
Einen Krippenplatz hier zu finden, war nicht möglich, also gibt er Angelina für die Zeit, in der er arbeiten muss, bei der Nachbarin ab. Nach der Arbeit holt er sie wieder ab. Dann gehen sie nach Hause und setzen sich in das Kinderzimmer auf die kleine Kindercouch, auf der die Clowns mit Locken und großen roten Mündern abgebildet ist.
So sitzen sie dann, Angelina und Chris, der jetzt Christian heißt und Christian versucht, ihr etwas vorzulesen, während sie versucht, seine Schlüssel in ihren Mund zu stecken und von der Couch zu fallen.
Nachts hat er einmal geträumt, einer der Sofa-Clowns habe bei CallOne einen Vortrag über Transformation gehalten haben. Darüber wie Transformation die Menschen zu sich selbst bringt, weil sie der Motor des Lebens ist.
Aber alle hatten nur gelacht. Auch er.
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Zum Thema Palästina:
Der Gaza Landstreifen ist ein Grab für tausende von Kindern sagen die Vereinten Nationen.
Seit dem 07.Oktober haben israelische Angriffe mehr als 16.800 Kinder getötet.
Alle 30 Minuten ist ein palästinensisches Kind gestorben.
Tausende die sich noch unter den Trümmern befinden kommen noch dazu.
Die überlebenden Kinder die die traumatischen Folgen mehrerer Kriege schon ertragen mussten haben ihr Leben seit der Geburt unter jüdischer Besatzung gelebt.
Das sind die Namen von einigen von den Verstorbenen:
0 Jahre alt. Haben ihren ersten Geburtstag nicht erreicht.
Noura Walid Abdulsalam Shaheen
Maryam Nour Al-Din Wael Daban
Fatima Louay Rafiq Al-Sultan
Watan Mohammed Abd Al-Rahim Al-Madhoon
Mohammad Al-Jabbari Said Misbah Al-Khour
Diyaa Ahmed Abd Al-Aati Saleh Moussa
1 Jahr alt. Wurden getötet bevor sie ihren ersten Schritt gehen konnten.
Ayla Ahmed Ali Obeid
Salahuddin Osama Khalil Abu-Layla
Adam Ezzat Mohammad Warshaga
Joud Alaa Mohammad Al-Hessi
Zeina Hazem Abdalhameed Mahna
Mohammad Rami Mohammad Al-Manama
2 Jahre alt. Hat man umgebracht bevor sie sprechen konnten.
Suhaib Saeed Misbah Madi
Malek Aqeel Nazmi Qoledge
Lana Omar Kamel Jundiya
Aseel Mohammad Khader Abu-Tuhah
Judy Hussein Fayeq Abu-Ayda
Zeina Ziad Adel Nashbat
3 Jahre. Starben als Kleinkind.
Lana Washah
Sara Muhammad Khalil Khalil Asaliyah
Maryam Ahmad Abd Al-Raouf Al-Halabi
Hamza Rami Nidal Alaywa
Zaina Nasser Husni Musa
Youssef Muhammad Fahmy Al-Najjar
4 Jahre alt. Wurden umgebracht bevor sie zur Vorschule gehen konnten.
Malek Mohammed Hussein Al-Sheikh Khalil
Abd Al-Karim Jamal Saleem Al-Ramlawi
Mohammed Abdullah Ahmed Hijazi
Yahya Alaa Mohammed Eid Badawi
Sewar Mohammed Khidr Abu-Touha
Yazan Mohammed Waleed Abu-Obeid
5 Jahre. Wurden nicht alt genug um in die Schule zu gehen.
Amr Alaa Bahgat Sikkik
Huda Walid Abd Al-Haq Al-Mahlawi
Youssef Raafat Safwat Sekik
Bilal Mohammed Omar Hijazi
Karim Abd Al-Aziz Mahmoud Ward
Fatima Mohammed Fahmi Al-Najjar
6 Jahre alt. Spielen nicht mehr.
Khadija Suheil Zuhdi Al-Nahal
Omar Musab Khalil Al-Ashqar
Omar Abd Al-Shafi Muslim Mahani
Jawan Abdullah Baha‘ Al-Deen Sakik
Abd Al-Rahman Jalal Moeen Al-Harakly
Yahya Bilal Fathi Al-Majdalawi
7 Jahre alt.
Ahmed Mohammed Hamdi Deeb
Hamza Raed Abd Al-Hadi Rajab
Suhaib Osama Ibrahim Naji
Nabil Abdullah Nabil Al-Wadiya
Maryam Mohammed Zaki Ashour
Mohammed Hamdan Moeen Al-Yazji
8 Jahre alt. Leere Klassenzimmer.
Rital Rami Ahmed Kashkou
Aya Hossam Amin Hassouna
Mohammed Rafiq Ali Zaher
Ahmed Nader Zaki Abu-Naji
Bilsan Aed Mohammed Al-Mahrouq
Wael Mohammed Wael Abu-Jabal
9 Jahre alt. Wurden nicht zweistellig alt.
Ghadir Alaa Saleem Al-Atawneh
Sarah Ali Hamed Al-Masri
Ahmed Alaa Abd Al-Hadi Masoud
Haneen Mahmoud Emad Al-Madhoun
Raghad Zaher Abd Al-Hakim Kaheel
Akram Mohammad Abd Al-Rahim Al-Madhoun
10 Jahre alt. Das Leben endet bevor man Jugendlicher wird. In die Pubertät kommt
Lama Ahmed Mohammed Badawi
Mohammed Jamil Moeen Atallah
Wasim Bilal Fathi Al-Majdalawi
Ibrahim Ayman Radi Abu-Zahir
Ahmed Mohammed Ali Ali
Maria Kamal Ismail Sabra
11 Jahre alt. Haben drei Kriege überlebt (2012, 2014, 2021), wurden im vierten getötet.
Marah Raed Abd Al-Rahman Falafel
Issa Tariq Sami Al-Souri
Aisha Nour Al-Din Mazen Al-Shawa
Yasser Ahmed Omar Al-Swaisi
Rahaf Khaled Walid Al-Swaisi
Murad Nidal Rajab Warshagha
Etwa die Hälfte der Bevölkerung Gazas sind unter 18 Jahre alt.
12 Jahre alt. Wurden nicht Jugendliche.
Ahmed Salah Diab Al-Tannani
Tasneem Salem Mohammed Jouda
Adam Ramzi Yousef Abu-Dabbagh
Sama Mohammed Hussein Al-Sheikh Khalil
Zeina Mohammed Ashour Al-Sharafi
Esraa Mohammed Abd Al-Rahman Shehab
Gaza ist wieder „der gefährlichste Ort auf der Welt um ein Kind zu sein“ – UNICEF Executive Direktorin Catherine Russell.
13 Jahre alt. Die Zeit bleibt in der Mittelstufe stehen.
Haitham Baroud
Ismail Fadel Muhammad Abu-Nasser
Misk Muhammad Jalal Abu-Saido
Lian Hazem Hamdi Deeb
Huda Fadi Ahmed Al-Sharif
Muhannad Ahmed Ziad Abu-Al-Qumsan
14 Jahre alt. Kurzes Jugendlichendasein.
Mohammed Raed Salim Al-Mankoush
Mustafa Hammam Mustafa Abu-Tohah
Saja Asaad Fawad Al-Dahshan
Ezzedine Saqr Mahmoud Al-Bahtini
Ahmed Magdy Hussein Abu-Daf
Sara Saleh Ali Hassouna
Der Krieg in Gaza ist der tödlichste Konflikt für Kinder in jüngster Zeit.
15 Jahre alt. So viel Leben ungelebt.
Abd Al-Rahman Fouad Hashem Abu-Saif
Walid Mohammed Kamal Al-Tahrawi
Maha Eyad Ahmed Abu-Shamal
Mohammed Ramzi Abdullah Obaid
Ashraf Jaber Lafi Warshaga
Ashour Mohammed Ali Salama
In Gaza entwickeln Kinder ein „schweres Trauma“. Fadel Abu Hein, palästinensischer Psychologe, von israelischem Sniper erschossen (23.01.2024).
16 Jahre alt. Unerfülltes Potential, unerfüllte Träume.
Amani Sami Shaban Al-Sharawi
Rowan Mahmoud Ibrahim Al-Shami
Tasneem Fathy Ali Radwan
Azzam Azzam Anis Al-Masry
Mostafa Riyad Abdelkader Mostafa
Marah Essam Badr Al-Awady
17 Jahre alt. Haben vier Kriege überlebt (2008-09, 2012, 2014, 2021), wurden im fünften umgebracht.
Kamal Saher Kamal Al-Tahravi
Aseel Raed Abd Al-Rahman Falafel
Mahmoud Raafat Suleiman Abu-Al-Kas
Ahmed Akram Mousa Al-Suweirki
Maria Osama Abd Al-Fattah Abu-Al-Jadayan
Shahd Adham Mohamed Al-Arabi Haraz
Jeden Tag haben 10 Kinder ein oder beide Beine verloren. Operationen und Amputationen wurden mit wenig oder ohne Betäubungsmittel durchgeführt aufgrund der militärischen Belagerung.
Was da in GAZA abgelaufen ist, ist für jemanden, der selbst Kinder hat, unerträglich.
Vor allem weil es ein Völkermord mit Ansage ist.
Und es ist das stärkste Argument gegen den Kapitalismus.
Ahh jetzt verstehe ich, die nicht sonderlich beeindruckenden Seriengeschichte ist eine Möglichkeit, einfach über alles Mögliche zu diskutieren. Denn zu den fiktiven Erzählungen aus einer fiktiven Realität gibt es sowieso nix zu sagen. Den Mantel des Schweigens darüber auszubreiten kann noch als gute Tat verstanden werden.