Harte Zeiten, Folge 30 — Demokratierettungsaktion

Harte Zeiten, Alexanderplatz
Quelle: Pixabay

Philipp hat Chris, den Vater des Jungen, angerufen und ihm alles gestanden. Währenddessen macht sich der Turnschuhkanzler zusammen mit dem Innenminister auf dem Weg zum Entführungsort, in der Hoffnung sich dort bei einer medientechnisch aufsehenerregenden Rettungsaktion in Szene setzen zu können, um die Regierung wieder in einem guten Licht dastehen zu lassen – und so die Demokratie zu retten.

 

Als Sybille nach Hause kommt, haben sie bereits alles besprochen.

Dass sie nicht die Polizei holen werden. Dass sie Chris Bescheid geben werden. Und sie gemeinsam zu dem Bauernhof fahren werden, von dem Philipp erzählt hat, um Felix zu befreien. Dass er alles tun wird, damit der Junge wieder heil zu Chris kommt. Und dass er Chris um Verzeihung, nein um Vergebung bitten wird.

In Sybilles Kopf rasen die Gedanken, schieben sich über- und aufeinander, der Nachmittag in ihrer Galerie, ihr Sohn und jetzt die Entführung. Sie versteht nicht, wie diese Dinge zusammenpassen. Kann es sein, dass Philipp von ihrer Affäre erfahren hat und deshalb den Jungen entführt hat?

Sybille beißt sich immer wieder auf die Lippen. Murmelt immer wieder etwas davon, ob es ihre Schuld ist, was sie falsch gemacht hat.

„Hier geht es nicht um dich“, sagt Philipp. „Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe das allein gemacht.“

„Warum habt ihr diesen Jungen ausgesucht? Warum ausgerechnet ihn?“

Philipp zuckt hilflos mit den Schultern.

„Er war einfach nur da. Ein passendes Opfer.“

Diesmal hat Philipp “Opfer“ gesagt.

Und genauso meint er es auch.

„Und jetzt ruf Chris an“, befiehlt Karl-Friedrich seinem Sohn.

 

In dem Moment, als Jakob unten in den weißen Toyota steigt, sieht Vic das Foto. Das Foto mit dem Jungen. Dem Jungen mit dem Käppi, dessen Bild die ganze Zeit über die Medien läuft. Er war die ganze Zeit da gewesen. Auf dem Foto, das über dem Kühlschrank hängt. Er und zwei junge Menschen, die neben ihm stehen, mit ein bisschen Glück die Entführer.

Vielleicht hat sie erst ihre Wut auf Jakob spüren müssen, um ihn zu sehen.

Was man sieht, hängt nicht von den Augen ab, sondern in welcher Stimmung man sich befindet.

Weswegen Melancholiker die zuverlässigsten Zeugenaussagen liefern. Weil die Traurigkeit nicht nur ihre Gedanken, sondern auch die Dinge um sie schwer und damit bedeutsam macht. Was sie sehen, gehört ihnen und sie bewahren es auf.

Ob sie eine Melancholikerin ist, weiß sie nicht, alles, was sie weiß, ist, dass sie Jakob Mauder dieses Bild schicken wird. Sie hat zwar schon lange damit aufgehört, den Lauf der Welt irgendwie aufhalten zu wollen, aber wenn sie helfen kann, ein Unglück aufzuhalten, wird sie sich nicht dagegen sperren.

Sie macht ein Foto von dem Bild und schickt es an die Handynummer, vor der aus Jakob Mauder sie vorhin angerufen hat.

„Zufallsfund. Ich hoffe, es hilft“, schreibt Vic noch hinterher.

„Wie geht es weiter mit dem Reichstag?“, fragt er seinen Chauffeur.

„Die Menge wird von der Polizei in Schach gehalten. Es sind zwischen zweitausend und viertausend Personen da. Allerdings befürchtet die Polizei, dass es mehr werden könnte. Die Demonstrierenden haben begonnen, Zelte aufzubauen.“

Jakob Mauder ruft Max Raute, den Innenminister, an.

Dieser wiederholt das, was er eben von seinem Chauffeur erfahren hat. Nur dass dieser noch ein paar Namen hat. Ein gewisser Baron von Lichten. Dieser sei schon lange auf der Liste der zu beobachtenden Personen sagt er. Früher habe er die Gruppe der Reparatisten angeführt, eine Gruppe, die nicht nur wertekonservativ eine Revolution anstrebe, sondern nebenbei auch die Vermögens- und Besitzverhältnisse zugunsten adeliger Familien umsortieren möchte. Jetzt hat sich die Bewegung umbenannt in „Freunde der Freiheit und des Rechts für Deutschland.“

„Sie haben Zulauf von allen möglichen Seiten“, erklärt er Jakob. „Ein ranghoher Ex-Offizier ist dabei, sowie mehrere ehemalige Polizeichefs. Es sieht so aus, als würden sie Waffen in den Zelten horten und darauf warten, dass mehr Menschen aus der Zivilbevölkerung sich zu ihnen gesellen, um dann gemeinsam als eine Art Spontan-Armee den Reichstag zu stürmen.“

„Diese Irren …“, murmelt Jakob Mauder.

„Jakob, die Sache ist brisant. Im Netz haben sich die italienischen und französischen Rechten solidarisch mit den deutschen Putschisten erklärt. Sie stünden an ihrer Seite in ihrem Kampf für – jetzt halt dich fest – für „Demokratie und Freiheit“.

„Nicht zu fassen“, sagt Jakob Mauder.

„Ich denke, du solltest eine Ansprache halten. Vielleicht über Instagramm. Oder Tik Tok. Kann auch kurz sein.“

„Natürlich“, antwortet Jakob Mauder.

Dann bemerkt er, dass er eine Nachricht erhalten hat. Von Vic. Als er auf die Nachricht tippt und das Foto aufpoppt, versteht er nicht gleich, worum es geht. Dann begreift er.

Das ist der Jungen mit dem Käppi. Vic muss das Foto an dem Tag der Demo gemacht haben. Daneben eine junge Frau und ein junger Mann, die mit ihm reden. Vielleicht die Entführer.

„Hör zu Max, du wirst nicht glauben, was ich da gerade zugeschickt bekommen habe. Aber ich habe ein Foto von dem Jungen auf der Demo, kurz vor der Entführung, neben ihm stehen zwei Leute, die uns möglicherweise Hinweise geben können oder die vielleicht mit den Entführern sogar kooperiert haben.“

„Großartig“, sagt Max. „Schick mir das sofort rüber.“

In Jakobs Kopf beginnt es plötzlich zu arbeiten. Was, wenn sie den Jungen finden, also wenn sie ihn finden, weil er, der Kanzler den einzigen bedeutungsvollen Hinweis gegeben hat, ja vielleicht, wenn er sogar mithilft, also aktiv mithilft, also unter persönlichem Einsatz, wenn sie dann ein Bild davon hätten, wie er in einem weißen T-Shirt, vielleicht sogar in Jeans, der Kanzler, der mitten in einem Aufruhr, ein rechtsradikales Kind rettet.

Das Foto könnte alles ändern. Die Revolution auf dem Reichstagsgelände zum Kollabieren bringen. Und wieder Stabilität und Hoffnung in diesem Land etablieren. Es wäre nur eine Frage der Inszenierung.

Politik braucht bedeutende Momente. Große Wendepunkte. Der Kniefall Willy Brandts in Polen. Der Satz von Kennedy in Berlin, die Bitte Reagans an Gorbatschow, die Mauer einzureißen, Und jetzt: die Rettungsaktion Jakob Mauders.

„Hör zu, falls sich etwas aus der Sache ergeben soll … dann möchte ich ganz nah dran sein. Am besten direkt live vor Ort, während sie geschnappt werden. Verstehst du?“

Es gibt eine kleine Pause am Ende der anderen Leitung. Dann hört er Max Stimme raunend „Ja, ich verstehe“ sagen.

„Danke“, antwortet Jakob.

„Hör zu“, sagt jetzt Max, der Innenminister. „Fahr nach Hause. Warte, bis ich dir Infos gebe. Ich verspreche, du wirst an vorderster Front dabei sein. Wenn es soweit ist, stechen wir das den Medien durch.“

Jakob Mauder atmet auf.

Als er auflegt, checkt er auf seinem Handy die Nachrichten. Die Bilder sind erschreckend. Die Zelte, die wütende Masse, dazu Hintergrundinfos zu einer dubiosen Vereinigung, an dessen Spitze ein preußischer Baron stehen soll.

Zeit, dass dieser Spuk zu Ende geht.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass die Polizei etwas mit den beiden jungen Menschen anfangen kann, die neben dem Jungen stehen.

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