
Philipp flüchtet nach Hause und beichtet alles seinem Vater. Der Turnschuhkanzler und Vic erinnern sich gemeinsam an vergangene Zeiten, bis ihn Vic, angewidert von seiner überheblichen moralischen Besserwisserei, aus ihrer Wohnung wirft.
Als Philipp die Tür aufmacht, riecht es nach Pichelsteiner Eintopf. Er kennt diesen Geruch. Jeden Mittwoch und Freitag riecht es nach Pichelsteiner Eintopf. Weil das die Tage sind, an denen seine Mutter in der Galerie ist und Karl-Friedrich sich die Suppe aus dem Feinkostladen unten an der Ecke holt, um etwas Warmes zu essen.
Im Flur erhascht er einen kurzen Blick von sich im Spiegel. Er sieht schrecklich aus. Seine Haare fettig und ungebürstet, die abstehen wie die Schlangen der Medusa.
Philipp will seine Schuhe ausziehen, merkt aber, dass er zu sehr zittert. Also lässt er sie an.
„Mein Junge!“, ruft Karl-Friedrich aus, als er seinen Sohn sieht.
Philipp hat es immer gehasst, wenn sein Vater ihn so genannt hat. Mein Junge. Weil er es so 19. Jahrhundert fand. Mein Junge. Jetzt, in diesem Moment, würde er am liebsten in diesen Namen hineinkriechen. Hineinkriechen und nie wieder herauskommen.
Aber Philipp kann nicht irgendwo hineinkriechen. Und er darf auch nicht. Er muss sich jetzt zusammenreißen.
„Was ist passiert?“, fragt Karl-Friedrich.
Philipp spürt, wie die Worte ihm in seinem Hals steckenbleiben.
Karl-Friedrich legt nun einen Arm um Philipp.
„Philipp, du weißt, dass … dass du mir alles sagen kannst …“
Nein, Philipp weiß es nicht, aber er wird es doch tun, weil er weiß, dass er sich hier und jetzt öffnen muss, seine Tat offenlegen muss, wenn er irgendwie mit sich selbst weiterleben will. Und weil er jetzt Hilfe braucht, um Felix zu finden und es nicht alleine schaffen kann, weil Menschen im Grunde nie etwas alleine schaffen und das, was er getan hat, das Leben anderer berührt hat, aber nicht auf eine gute Weise, und er alles tun will, damit die Dinge nicht noch schlimmer werden. Er weiß das alles, er weiß es auf eine intuitive ganz starke Weise, es ist ein Wissen, das den ganzen Körper ergreift. Es ist genauso, wie es in diesem Satz von Saint Exupéry steht, diesem Satz, dass man das Gute immer nur mit dem Herzen sehen kann, ein Satz, den man den Kindern vorliest, aber die ihn schrecklich kitschig finden, weil für Kinder diese Wahrheit ohnehin so offensichtlich ist, die Wahrheit, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, und es einfach nur pathetisch ist, dass man Erwachsene daran erinnern muss.
„Ich habe etwas Schlimmes getan“, beginnt Philipp, in seinen dreckigen Kleidern und mit seinen Medusa-Haaren, aufrechtstehend und seinem Vater in die Augen blickend.
Vic hat Jakob gefragt, ob er etwas essen möchte.
Er hat „ja“ gesagt, also öffnet sie die Kühlschranktür und sieht hinein. Da spürt sie plötzlich seine Hände auf ihren Hüften.
Sie dreht sich um, nimmt seine Hände, seine groben Hände, die immer schon so ausgesehen haben wie die eines Bauern, in ihre Hände. Sie hat seine Hände immer gemocht. Hände eines Mannes, die so aussehen, als würde er sein Leben lang Kartoffeln ernten.
Vic setzt sich jetzt auf seinen Schoß, lässt ihre Hände durch seine Haare fahren, die dünner geworden sind. So wie seine Stimme. Sie ist auch dünner geworden, sie könnte wetten, dass er in einer höheren Tonlage spricht als vor zehn Jahren.
Auch wenn Jakob Mauder die Ausgaben der Rüstungsindustrie in den letzten Jahren verdoppelt hat, die Wehrpflicht wiedereingeführt hat und ständig von der „Wehrhaftigkeit“ des Landes spricht, sieht er aus, als könne er persönlich sich immer weniger wehren.
In den letzten Jahren hat sie ihn immer wieder angesehen. Im Netz oder in Zeitungen.
Als sie in Afghanistan zehn Tage in dem Dorf in einem Haus eingesperrt war, hat sie sein Bild ständig in ihrer Jackentasche gehabt. Sie hatte das Bild irgendwann aus einer Zeitung herausgeschnitten und eingepackt. Nicht weil der Kanzler Deutschlands so viel Zuversicht ausstrahlen und ihr Mut machen würde. Sondern weil Jakob Mauder Heimat bedeutet.
Dass er es nicht weiß, ist ihr egal.
Immer wenn sie dachte, dass irgendeine Bombe bei ihr einschlagen wird, hat sie sich das Bild herausgeholt und angesehen. Hat daran gedacht, wie sie in den Sommern im Steinsee schwimmen gewesen waren, im September Pflaumen geerntet haben und nach der Schule sich immer auch auf dem Pferdehof der muffigen Andrea herumgetrieben haben, wo sie heimlich in den Pferdeboxen die „drei Musketiere“ gespielt haben.
Bis Jakob irgendwann weg aufs Internat ging und sie zurückgelassen hatte. Danach war das Leben auf dem Dorf nicht mehr das gleiche.
Als sie sich wiedersahen, waren sie groß und beide in einer großen Stadt. Sie, um eine Fotografie-Lehre zu machen, er, um Germanistik zu studieren.
Sie feierten ihr Wiedersehen mit Bier und Jägermeister.
Als sie am nächsten Morgen in ihrem Bett gemeinsam aufwachten, hätte sie schwören können, den Geruch des Steinsees riechen zu können. Sie blieben zusammen. Bis ans Ende des Semesters. Bis er ihr sagte, dass er nach Berlin gehen würde. Für ein Praktikum im Auswärtigen Amt.
Sie hatte ihm nicht geschrieben. Er ihr auch nicht.
Fick dich, Jakob Mauder, wäre ohnehin das einzige, das sie hätte schreiben wollen.
Acht Jahre später trafen sie sich zufällig auf dem Gendarmenmarkt in Berlin.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du hier bist?“, hatte Jakob gesagt.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du heiratest?“, hatte sie geantwortet.
Woraufhin beide stumm nebeneinander hergingen, bis sie zu einer Parkbank kamen, wo sie sich hinsetzten, sich eine Weile ansahen und sich dann schließlich küssten, immer wilder und wilder, bis sie schließlich in einem Hotelzimmer landeten.
Jetzt legt Jakob seine Lippen auf ihre. Der Kuss beginnt sanft zögernd, als wolle er sich vergewissern, dass sie beide noch wissen, wie es geht.
Doch dann sind beide wieder Anfang zwanzig, ihr Kuss wild und spielerisch zugleich.
Später, als sie auf ihrem Bett liegen, verschwitzt unter den Laken, beide noch weich in den Knien, muss sie an die alte Frau denken, neben der sie bei ihrem letzten Aufenthalt in Afghanistan gelebt hatte. Die Frau hatte nur noch zwei Vorderzähne hatte und einen Buckel und schien nicht mehr ganz bei Sinnen, vielleicht hatte ihre Familie sie zurückgelassen oder war gestorben. Meist blickte sie in die Ferne hob einen Zeigefinger und sprach Ermahnungen für unsichtbare Menschen aus.
„Wir würden Zeit haben“, war eines der Dinge, die sie immer sagte.
Wir würden Zeit haben.
Vic hatte sich damals die ganze Zeit gefragt, was dieser Satz bedeuten würde und es nie herausbekommen. Jetzt, wo sie mit Jakob Mauder engumschlungen und küssend auf das Bett zusteuert, weiß sie es plötzlich.
Wir würden Zeit haben. Wenn wir uns lieben. Wenn wir alles andere vergessen. Wenn wir nur die Liebe spüren, die uns verbindet, und nicht mehr an die Zeit gekettet sind, weil wir nur noch außer ihr sind und damit nur noch uns gehören, dann werden wir Zeit haben.
„Warum sind wir nicht zusammengeblieben?“, fragt Vic Jakob Mauder jetzt.
„Ganz ehrlich? Ich dachte, dass du zu cool für mich wärst.“
Vic lacht auf.
„Erzähl keinen Scheiß.“
„Nein, ich meine das ernst. Ich dachte nicht, dass du auf Dauer mit jemandem wie mich zusammen sein könntest.“
„Was heißt das, „jemand wie mich“?
„Naja … jemand, der eben so ist wie ich. Also ich. Ein bisschen langweilig, ein bisschen brav. Mit Idealen, die du lächerlich fandest.“
„Woher weißt du, dass ich deine Ideale lächerlich fand?“
„Du hast gesagt, es lohne sich nicht, Ideale zu haben.“
„Hm … habe ich das? Ich find dich gar nicht so brav. Immerhin hast du mit mir geschlafen, kurz nachdem du Ella geheiratet hast. Was ist eigentlich mit Ella und dir?“
„Sie ist gegangen. Hat gesagt, dass ich mit meiner Arbeit verheiratet bin. So wie in dem Lied aus den 80ern, wo die Frau sagt, der Mann soll sein Büro heiraten.“
Vic beginnt das Lied zu summen.
„Dann heirat doch dein Büro, du liebst es doch sowieso …“
Jetzt muss auch Jakob Mauder lachen.
„Und jetzt bist du Kanzler. Und hast du sie noch, deine Ideale?“
„Natürlich!“
„Und? Welche sind das?“
„Na, Frieden, Demokratie …“
„Nein, nein, nicht der Wahlkampfscheiß. Sag mir ins Gesicht, wofür du sterben würdest, Jakob.“
Jakob sieht Vic an. Schweigt.
Vic steht auf und geht in die Küche. Kommt mit einem Pfirsich und einem Messer auf einem marokkanischen Teetablett.
Sie setzt sich neben ihm auf das Bett und beginnt den Pfirsich zu schälen und in Scheiben zu schneiden.
Schweigend essen sie den Pfirsich, bis es plötzlich an der Tür klingelt.
Vic erhebt sich und geht vor.
Als sie Tür aufmacht, steht Bihan vor ihr, die irritiert auf die großen Security-Männer blickt, die rechts und links vor der Tür stehen.
„Hast du was ausgefressen?“, fragt Bihan.
„Nein, ich hab nur den Kanzler zu Besuch.“
„Den Turnschuhkanzler? Du machst dich lustig über mich.“
Die Wachmänner grinsen.
„Na dann komm rein und wir sehen nach, ob er bei mir auch Turnschuhe trägt.“
Bihan wirft einen misstrauischen Blick zu den Männern und schlüpft durch die Tür.
Vic führt Bihan in die Küche.
Kurz darauf kommt Jakob herein. Er hat seine Hose und Hemd angezogen, sein Blazer hängt leblos über der Stuhllehne.
„Der Turnschuhkanzler!“, ruft Bihan aus.
„Hab ich doch gesagt.“
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagt Jakob und streckt dem Mädchen die Hand entgegen.
Etwas zögerlich nimmt Bihan die Hand, zieht sich aber rasch zurück und versteckt sie sogleich hinter ihrem Rücken, als habe sie etwas Verbotenes getan.
„Warum bist du bei Vic?“, fragt das Mädchen.
„Um sicherzugehen, dass mich … dass ich … ach vergiss es einfach. Ich wollte sie nur wiedersehen.“
Jakob wirft Vic einen kurzen Blick zu.
„Sind Sie nicht mit jemand anderem verheiratet?“, fragt Bihan.
Jakob beißt sich auf die Lippen.
„Naja sagen wir mal … technisch gesehen ja.“
„Verstehe ich nicht.“
„Manchmal trennen sich Menschen.“
„Sollten sie aber nicht“, sagt Bihan trotzig.
„Bihan heiratet demnächst“, sagt Vic.
„Heiraten? Wie alt bist du?“
„Ich werde dreizehn.“
„Dreizehn? Wo um Himmels willen heiratest du?“
Bihan sieht Jakob irritiert an.
„Das … das geht sie nichts an“, murmelt sie leise.
„Wenn es hier in Deutschland sein soll, schon.“
„Lass sie in Frieden, Jakob“, mischt sich jetzt Vic ein.
Bihan steht auf.
„Ich geh dann jetzt wieder. Ich wollte dir nur ein paar Pfirsiche bringen“, sagt Bihan und holt aus ihrer Tasche zwei schöne Pfirsiche, die sie auf den kleinen Holztisch in der Küche stellt.
„Ich danke dir, Bihan. Und sag deiner Mutter bitte auch, dass ich mich ganz herzlich bedanke.“
Bihan nickt und geht aus dem Zimmer.
Jakob sieht ihr fragend hinterher.
„Was soll das, Jakob? Warum beleidigst du meine Gäste?“
„Ich? Beleidige deine … das ist doch wohl ein Witz, oder? Das Mädchen ist doch, ich meine, sie ist ein Kind. Und sie soll heiraten? Ich wette irgendeinen Typen, den sie nicht mal ausgesucht hat!“
„Und?“
„Wie? Und?“
„Ja, so haben viele Menschen in der Vergangenheit geheiratet und werden es in Zukunft auch tun.“
„Aber … du gibst mir doch recht, dass Kinder ein Recht auf ihre Kindheit haben und … Frauen nicht einfach verheiratet werden dürfen!“
„Ich maße mir nicht an, anderen Menschen aus anderen Kulturen zu sagen, was richtig für sie ist.“
„Aber wie kannst du das einfach so mitansehen und … einfach nichts tun?“
„Was soll ich deiner Meinung nachtun, Jakob Mauder? Sie ihren Eltern entreißen und sie adoptieren? Oder in ein Waisenhaus zwangsverlagern lassen? Und außerdem: Wer sagt dir, dass sie auf diese Weise nicht glücklicher wird als ein Mädchen, das irgendwann selbst ihren Ehemann aussuchen muss, oft wartet, bis es zu spät ist, Kinder zu bekommen und dann alleine in einer Wohnung hockt und wartet, dass sie ab und zu Sex mit irgendeinem anderen verheirateten Mann hat?“
„Von wem redest du? Etwa von dir?“, entfährt es Jakob.
Vic sieht ihn kopfschüttelnd an.
Dann steht sie auf, geht ins Schlafzimmer, holt seine Jacke und wirft sie ihm in Gesicht.
„Time to go, Turnschuhkanzler.“
So wie sie es ausspricht, klingt das Wort wie eine Beleidigung. Sie meint es auch so.
Ähnliche Beiträge:
- Harte Zeiten, Folge 18 — Mensch ärgere Dich nicht
- Harte Zeiten, Folge 33 — Rettungskanzler
- Harte Zeiten, Folge 19 — Gelungene Entführung
- Harte Zeiten, Folge 28 — Reichstagssturm
- Harte Zeiten, Folge 30 — Demokratierettungsaktion
Mal eine interessante Folge.
Eben Roman und weniger Politkitsch.
Die Tomboy Vic, passt einfach viel besser in die Afghanische Gesellschaft wenn sie die Aufklärung und Werte hier für Anmaßend hält.
https://www.spartanat.com/de/us-guerilla-lawrence-of-afghanistan?q=Taliban+Rambo
die echte Vic : https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ann_Scott_Tyson
und der Sandalen Krieger : https://en.m.wikipedia.org/wiki/Jim_Gant
@kalsarikänit
Anmaßend ist es, anderen Kulturen seine eigenen Werte aufdrängen zu wollen.
Intoleranter, als Menschen, die anders denken, dort hinschicken zu wollen, wo es mehr Menschen gibt, die so denken, geht auch kaum noch.
Danke Bonnie für den Hinweis auf die Meinungsfreiheit
https://www.achgut.com/artikel/die_vollstaendige_muenchner_rede_von_jd_vance_auf_deutsch
Und sind nicht Kriegsberichterstatter*Innen die größten Einfallspinsel, die ihren Lebensunterhalt mit dem Leid Fremder Menschen verdienen?
Kann es sein, dass dieser Roman ein Schreibexperiment einer bekannten deutschen Autorin ist. Sollen Kommentare zur Entwicklung der Erzählung hinzugezogen werden? 😜
Soviel zur sicheren Bleibe…
Und mal was prinzipielles:
Wie oft noch will OM eigentlich diesen menschenverachtenden und kinderrechtsmissachtenden Äußerungen einer völlig durchgeknallten Person hier Raum geben?
Wir sind uns doch einig darin, Kinderrechte in Deutschland vollumfänglich einzuhalten und durchzusetzen?
Bei Kinderehen mit 13 jährigen Mädchen hört der Spaß langsam mal auf. Wie würde das aussehen, wenn das Mädchen gar nicht will? Haben Kinder in Deutschland kein Recht mehr auf kindgerechte Entwicklung? Greifen wir dann aus Achtung fremder Kulturtraditionen auch nicht ein, wenn Kinder gezwungen werden? Baumeln in Deutschland zukünftig Schwule an Baukränen?
Da Overton-Magazin Redakteure wenig Zeit haben, fasse ich das noch mal klar und deutlich kurz zusammen:
Wie oft noch darf hier offen auf Kinderrechte geschissen werden?