
Überall in Deutschland starten Protestzüge gegen die Unfähigkeit der Polizei und die des Staates allgemein. Jakob, der Turnschuhkanzler, fürchtet einen Putsch, während Philipp, der bereut, Jule bei der Entführung geholfen zu haben, vom Hof zurück in die Stadt flüchtet.
Vier Stunden nach dem Post hat es spontane Proteste gegen die Entführung in Zwickau gegeben. Leipzig und Magdeburg sollen heute Abend folgen. Aber auch in Berlin soll morgen ein Protestzug starten.
Im Netz wird getobt. Nach Rache gerufen.
Auch er steht im Visier. Als derjenige, der die links-grünen Terroristen schützt. Als würde er überhaupt wissen, wer den Jungen entführt hat. Er muss sich bereithalten. Vielleicht eine Rede ans Volk halten.
Max Raute, der Innenminister, hat eine Krisensitzung angesetzt.
Nicht nur wegen des entführten Kinds, es geht um den Aufruf. Die Sache hat das Potential, sich auszuweiten. Eine Besetzung des Reichstages. Vielleicht ein Angriff. Ein Bürgerkrieg ist nicht zu erwarten, aber nicht ist nicht mehr auszuschließen. Er will Vorbereitungen treffen. Der Kanzler, er, muss vorbereitet sein. Er schlägt vor, sich bereit zu halten, notfalls das Kanzleramt zu verlassen. Notfalls.
„Wir haben es in den USA gesehen. Und an anderen Orten dieses Jahr. Wir müssen vorbereitet sein.“
„Sehe ich ein“, sagt Jakob. „Sehe ich ein.“
Von Anfang an hat er klar gemacht, dass er das Innenministerium stärken will. Um das Land vor Rechtspopulismus zu schützen. Er hat es in seiner Antrittsrede sogar als eine seiner zentralen Ziele genannt.
Entsprechend hat er im Bundestag dafür gesorgt, dass das Innenministerium zusätzliche Kompetenzen erhalten hat.
Er lässt sich darlegen, wie das Notfallprotokoll aussieht. Polizei, Militär, medizinische Versorgung, die ganze Palette.
Die verdammten Rechten!
Die Nachricht ist viral geworden.
Um 10:03 Uhr waren es ein paar hundert, um 10:30 Uhr waren es bereits 3041. Jetzt sind es schon 201.679 Kommentare. Tendenz weiter explosiv nach oben. Die Kommentare eindeutig.
Daumen hoch, Flammen, Zustimmung. Herzen. Emojis mit weinenden Mondgesichtern.
Und dann um 10:52 Uhr melden sich die Freunde für Recht und Freiheit in Deutschland. Der Verein des Barons. Mit einem Post, der zur Revolution aufruft. Als Hintergrund eine digitalisierte Deutschlandflagge, die in regelmäßigen, digitalen Wellen hin und her schwankt. Dazu eine vom Computer gesprochener Text. Damit der Sprecher nicht auffindbar gemacht werden kann. Aber Chris weiß, wer den Text eingegeben hat. Es ist der Baron.
„Was ist mit Felix passiert? Wir wissen es nicht. Die Regierung schweigt. Werden wir auch schweigen? Werden wir die Linken unser Land übernehmen lassen und ihre Terrorherrschaft ausweiten lassen? Wenn nichts geschieht, werden wir unser Land verlieren. Aber das werden wir nicht zulassen. Denn wir werden uns zur Wehr setzen. Deshalb rufe ich euch auf, ihr die ihr unser Land liebt und wieder Ordnung in diesem Land haben möchtet. Es ist so weit. Heute holen wir uns unser Land zurück. Bevor wir im links-grünen Faschismus untergehen. Wir treffen uns am Reichstagsgelände. Heute um 17 Uhr. Seid da. Oder kommt nach. Es ist Zeit aufzustehen. Und uns den Linksfaschisten entgegenzustellen. Denn euer Kind könnte das nächste sein.“
Chris starrt auf den Post.
Sieht wie die Zahlen nach oben klettern.
Bei Revolutionen kommt es auf das Timing an. Man muss abwarten, bis die Dinge ins Rollen kommen und dann den Schneeball einfach immer größer werden lassen.
Und er ist für den Schneeball verantwortlich.
Als Philipp aufsteht, spürt er sofort, dass etwas anders ist.
Als er ins Wohnzimmer runterkommt, weiß er auch was.
Der Junge ist weg. Und Jule auch.
Er rennt nach draußen. Ruft Jules Namen. Aber da ist nichts. Keine Antwort. Nur ein leichter Regen, der seine Rufe verschluckt.
Philipp rennt zurück ins Wohnzimmer. Macht die Nachrichten an. Prompt sieht er die Headline: 16-jähriger Felix spurlos nach rechter Demo verschwunden. Vater ruft zum Aufstand gegen Regierung auf. Sie blenden ein Foto von dem Jungen ein. Ein lächelndes blondes Kind an einem Strand.
Philipp geht ins Wohnzimmer. Dort stinkt es nach Urin. Ja, das ganze Haus stinkt nach Urin. Philipp sieht auf den Stuhl, der da mitten im Zimmer steht. Vor zwei Tagen war er ausgezogen, um etwas Gutes zu tun.
Er war bereit gewesen, Gewalt anzuwenden, weil manchmal Gewalt nötig ist, um das Gute zu erreichen.
Wie als die Amerikaner kamen, um Europa von Hitler zu befreien. Damals war doch auch Gewalt nötig gewesen, oder etwa nicht? Niemand hatte es den Amerikanern je vorgeworfen. Weil es einem guten, einem wahren und richtigen Zweck diente. Um zu verhindern, dass die Welt weiter in den Abgrund gerissen wurde. Und jetzt? Die Welt war nahe dran, in den Abgrund gerissen zu werden. Überall droht die Übernahme durch rechte Kräfte.
Und wer immer daran mitarbeitet, macht sich mitschuldig. Auch der Junge. Wie oft ist der Lauf der Geschichte durch kleine Taten geändert worden? Die Entführung hätte eine solche Tat sein können. Um den Rechten ein Zeichen zu geben. Um Deutschland wachzurütteln. Philipp sagt die Argumente in seinem Kopf auf wie ein Mantra. Aber in seinem Kopf beginnt sich alles zu drehen.
Und obwohl sein Verstand versucht, ihm die Angst zu nehmen, sieht er immer wieder das Bild des lächelnden blonden Jungen aus dem Fernsehen vor sich.
Warum ist er nur nicht früher hier reingegangen? Warum hat er sich von Jule einschüchtern lassen?
Er hätte dem Alptraum ein Ende setzen sollen. Er hätte wie ein Mann gehandelt. Nein, nicht wie ein Mann. Wie ein Mensch.
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Wieso ist Felix jetzt 2. Jahre Älter?
Das beste was der Philipp tun kann ist Seppuku aus Protest, gegen die Überbevölkerung/den Klimawandel/oder die Reconquista Germanica der Kerl Nervt nur rum mit seiner Gefühlsduselei es fehlt der Werther-Effekt in der Story!
warum wird die Rote Armee nicht erwähnt? Sie hat den Hauptanteil bei der Befreiung vom Hitlerfaschismus geleistet