Harte Zeiten, Folge 26 — Knockout

Harte Zeiten, Spreeufer
Quelle: Pixabay

In einer Holzhütte setzt sich Felix zur Wehr und schlägt seine Entführerin Jule k.o.

 

Jule hat Felix in die Holzhütte geschleppt, in der sie sich früher versteckt hatte. Eine alte verlassene Jagdhütte, in der ihre Eltern ab und zu Holz gelagert hatten.

Sie kann den Schweiß an sich riechen. Sie hat sich selbst zwei Tagen nicht gewaschen. Es ist ihr egal. Sie fühlt sich ohnehin wie ein Tier. Wie ein Tier, das ein Junges geworfen hat und nun ihr Junges vor den Fressfeinden schützen muss.

Allen voran vor Philipp. Was fiel ihm ein, in Frage zu stellen, was sie taten, was sie tat. Was sie mit Felix tat. Was mit Felix geschieht, ist allein ihre Angelegenheit. Felix ist ihr Junges. Nicht seines.

Sie nimmt jetzt seine Augenbinde ab.

„Wie geht es dir?“, fragt sie und legt eine Hand auf seine Stirn.

„Wie es mir geht?“, schreit auf einmal Felix. Seine Stimme klingt rau und gleichzeitig hohl. Wie ein Instrument, das lange nicht mehr benutzt wurde und verrostet in einem dunklen Keller war.

Jule erschrickt, als sie seine Stimme hört. Im Zimmer hat sie ihn nur schreien hören. Undeutliche Laute. Angstschreie. Das hier klingt anders, Das hier klingt nach Wut.

Felix sieht sie an. Von oben bis unten. Sucht nach der Waffe, die sie angeblich hatte. Aber nicht hat.

Verarscht hat sie ihn.

 

„Ihr seid doch komplett bescheuert!“

„Warum habt ihr mich entführt?“

„Wir … äh … erstens haben wir dich nicht entführt“, sagt Jule.

Erstens. Zweitens. Das Deutsch der Studentin Jule. Der Jule, die rational ist. Die denken kann. Und nie etwas Unvorsichtiges tun würde.

„Und zweitens …“ Jule hat vergessen was sie sagen wollte.

Sie beißt sich auf die Lippen.

Wie soll er bei ihr bleiben, sich ihr anvertrauen, ihr Kind bleiben, wenn er an ihr zweifelt.

„Und zweitens … haben wir ein Zeichen setzen wollen.“

„Was für ein fucking Zeichen?“, schreit Felix.

„Ein Zeichen, dass wir für Demokratie sind“, sagt Jule.

„Fick dich!“, sagt Felix.

„Du sagst das nicht zu mir!“, schreit jetzt auch Jule und geht auf ihm zu, um ihm Ohrfeige zu geben.

Da steht Felix auf, wie durch ein Wunder, mit seinem verletzten Fuß und holt aus.

Und schlägt ihr mit der ganzen Kraft, die ihm übriggeblieben ist, ins Gesicht.

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20 Kommentare

    1. Im Text steht nicht, dass er sie k.o. geschlagen hat.

      Und wie man darauf kommt, einen 14 jährigen auf Sinn- und Orientierungsuche befindlichen Jungen als Nazi zu bezeichnen, bleibt wahrscheinlich ihr Geheimnis.

        1. 14 jährige Jungs sind definitiv noch Kinder, auch wenn die Romanautorin das anders sieht. Dass 14 jährige unter Kriegsbedingungen sich anders verhalten als in Deutschland, geschenkt. In aller Regel hat ein 14 jähriger noch kein gesichertes Weltbild. Mit 16 Jahren sieht das schon ganz anders aus.

          Man kann das auch folgendermaßen betrachten: 14 jährige Jungen sind in der 8. Klasse und somit seit zwei Jahren aus der Grundschule raus. 😉

    2. Vorsicht, die hiesige Idiotenfuhre geifert sich schon heran. Die mag das nicht, wenn man Nazis als Nazis bezeichnet. Die halten allerdings Würde auch für irgendetwas mit Grammatik.

      1. @He who shall not be named
        Sprachnazi, Rechtschreibnazi, Grammatiknazi, Korinthenkacker*Innen oder Oma’s gegen Rechtschreibung was ist die Mehrzahl von Fäkalvogel?

    3. „Und dabei hatte ich gehofft, dass der kleine Nazi nun endlich mal entjungfert wird.“

      Warten Sie`s ab. Der hat die Flinte noch nicht ins Korn geworfen, der ist ein Steher, zäh wie Leder und so weiter, und außerdem beim Erhalt der weißen Rasse sowieso noch mal eine Stufe penetranter bei seinem Erhaltungstrieb.

  1. Achtung Spoiler!

    Die Überschrift hat mit einem Satz den gesamten Inhalt der heutigen Story vorweggenommen.

    Cliffhanger : wie geht es nur morgen Weiter mit der Story, bevor ich an Langeweile sterbe?

  2. schreit jetzt auch Jule und geht auf ihm zu, um ihm Ohrfeige zu geben.

    Neudeutscher Slang?
    Künstlerische Freiheit?
    „renommierte Autorin und Journalistin, die hier einen komplett anderen Roman vorlegt “?

    Man weiß es nicht.

  3. Das Ende der Story ist noch nicht absehbar (seufz…). Trotzdem wage ich schon mal einen eher finalen Schuss (dem wundervollen Kommentar Nr. 1 von Otto Motto folgend): Keine Ahnung, was diese Übung von Misses Vidan auch nach Folge 20+ auf Overton wollen will (gähn). Altlandrebell hat dazu gestern eine sehr schöne Gegenpersiflage geliefert (wenn ich das richtig interpretiere – interessanterweise wenig kommentiert).

    Und das fasst meine Gefühlslage (im ersten Drittel? Echt? Vielleicht noch schlimmer?) zusammen: Story: OMG, Shit. Why? Why? Why? Nix aber auch garnix, Null Neues. Haben wir alles schon gehört, nach ein paar Bier. Nix Neues. Tatort-Niveau. Bewegende Stilemente: Kurze Sätze und Cliffhänger. OK, ich kann’s mir denken, klar: bewusst gesetzt. Aber eben geeignet für Spiegelleser und Tagesschauviewer, Grünenwähler.

    In diesem Quagmire sind die Kommentare (eigentlich wohl eher ungeeignet im laufenden Verfahren ohne Aussicht auf ein erlösendes Ende) wirklich geil! Ein absolutes Muss – in Summe; Vergnügen! Und wie ich RdL und FR einschätze (zur Halbzeit? Please!!!): Ist eher Absicht, gell? Provokation durch Banalität! Gewürzt mit pikanten Stellungnahmen. DIE machen es lesenswert…

    Freue mich schon auf morgen 🙂

    1. „Breaking Schloz“ stammt nur zu max 20 % von mir, das kommt von Nachbarn, der die Zusammenfassungen von Breaking Bad herannimmt, umschreibt und einem Roboter, der ihm die Dialoge liefert. Ich glätte nur den Schmarrn, den er mir schickt und stelle ihn ein oder schraube hier und da zuvor noch was dran rum. 🤣

      Aber ich hatte ja bereits angekündigt, dass ich daran nicht groß eigene Zeit und Kraft verschwenden will. Wenn ich was Literarisches in Schul- oder Postschulzeiten schrieb, fanden es die Leute entweder langweilig und Schema F – oder zu verkopft, abgespaced und kompliziert. Oder pöse. Also irgendwas war immer. Lehrer wie Leser waren überfordert. Deswegen schreibe ich nix literarisches mehr, zumal die Leute ja ohnehin KI-Gedichte (und wohl auch sonstige Literatur) mehr mögen, wenn sie ihre KI-Herkunft nicht kennen. 🤔

      Das Ganze hier soll nur der allgemeinen Ermunterung dienen. Vorschläge sind gern gesehen, ich reiche sie dann weiter. 😊

  4. Breaking Schloz – Episode 4: Sack in der Katze

    Die Lüneburger Heide ruht still und undurchdringlich in der hereinbrechenden Nacht. Der Boden ist noch feucht vom Regen, der vor Stunden als Sturzbach gefallen ist, und die Luft riecht eindringlich nach Erde und frischem Gras. Der Wind bewegt sanft die langen Halme, die sich im Scheinwerferkegel eines silbergrauen VW Amarok wie gespenstische Gestalten wiegen. Die einzigen Laute in der weiten Landschaft sind das Rauschen der Reifen, dann das unregelmäßige Klacken von Bremsen und schließlich das rasselnde, keuchende Geräusch eines Mannes, der mit blutüberströmter Brust auf der Ladefläche eines Pickups liegt. Crazy Horst war schwer verletzt – und beinahe tot.

    Türen schlagen und dann steht Jörg Cookies mit nervös verschränkten Armen am Rande eines Feldwegs. Sein unsicherer Blick wandert über die kühle Landschaft, als könnte er sich mit dem endlosen Heidekraut verbinden, um irgendwo eine Antwort zu finden. Die heraufziehende Dunkelheit scheint sich über ihn zu legen, als wäre sie der Schatten eines gefährlichen Tieres. Jörg, der noch immer wie ein Banker wirkt – ordentlich, korrekt und frisch gebügelt in seinem tadellosen Anzug – kann sich einfach nicht von der Bedrohung befreien, die in der kalten Märzluft zu schweben scheint. Aber da ist nur Dunkelheit.

    „Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen“, meint er heiser und seine Stimme zittert leicht als er in die Kamera blickt. „Olaf, das ist kein Spaß mehr. Der Typ stirbt uns weg. Wenn wir ihn jetzt nicht ins Krankenhaus schaffen, wird er’s nicht packen!“

    Olaf Schloz, klein und mit Halbglatze, steht ruhig auf der anderen Seite des Pickups, die Hände wie immer tief in den Taschen seines abgenutzten grauen Anzugs vergraben. Der Wind zupft an seinem Trenchcoat, doch er scheint die Kälte nicht zu spüren. Olaf Schloz ist die Kälte-. Er ist in diesem Moment ein Mann ohne Nervosität, ein Mann, der nicht mehr an das dachte, was er einmal gewesen war. Der kleine Typ, der noch vor ein paar Wochen als bescheidener Bundeskanzler ein ganzes Land geführt hatte, war immer mehr zu einem neuen Menschen transformiert – einem, der sich nicht von Unsicherheiten leiten lässt, den Opa nicht mehr wie einen unflätigen Schuljungen anschnauzen kann, sondern der von einer eisigen, schier unerschütterlichen Energie nur so strotzt.

    „Wir bringen ihn nicht ins Krankenhaus“, antwortet Schloz in seinem platten Singsang, als wäre dies eine Kabinettsentscheidung, die er verkünden muss. Als nutzte er erstmals seine Richtlinienkompetenz. „Wenn wir den ins Krankenhaus bringen, dann haben wir das ganze Spiel verloren, Jörg. Die werden uns in nullkommanix finden. Spätestens morgen früh. Außerdem hat Karl das nächste Krankenhaus ja schließen lassen.“

    Jörg blinzelt, als hätte er die kalte Härte in Olafs Stimme noch nie zuvor gespürt. Das ist nicht der Olaf, den er gekannt hatte. Dieser zögernde Kanzler, der lamentierte, der sich vor Entscheidungen drückt. Das ist ein Olaf, der entschlossen war, zu überleben – koste es, was es wolle.

    „Wohin dann?“, fragt Jörg atemlos, in seinem Kopf nur dröhnendes Rauschen, kalte Angst. „Was, wenn er aufwacht? Oder uns krepiert“

    „Wir bringen ihn in den Keller“, antwortet Olaf überlegt. „Wir… behandeln ihn da. Aber nicht zu viel, nur so viel, dass er am Leben bleibt. Und dann… dann entscheide ich, was zu tun ist.“

    Jörg blickt nun auf die Ladefläche des Amarok, auf diesen blutverschmierten Klumpen, der noch immer rasselnd zuckt. Horst atmete weiter, irgendwie, aber seine Augen wirken wie trübes Glas. Jedem, der ihn sieht, ist klar, dass dieser Mann nicht mehr lange leben wird, wenn er nicht schnellstens in ein Spital kommt. Aber Schloz hatte recht. Das Risiko, Spuren zu hinterlassen, ist zu groß. Und das nächste Krankenhaus hatte man geschlossen.

    „Wir bringen ihn in den Keller“, echot Jörg und hebt den Kopf, nachdem er genug auf die Ladefläche gestarrt hat. „Aber wir können ihn auch nicht einfach so töten.“

    Olaf zieht die Augenbrauen zusammen und richtet den Blick von Horst auf Jörg. In den letzten Jahren war er es nicht sonderlich gewohnt gewesen, Entscheidungen zu treffen. Es war diese Wucht bei Entscheidungen, dieses alles Verändernde, dieser komische Druck, der immer alles so schwierig machte. Dieses Tun, dieses Verantwortungübernehmen. Dieser Sprung wie Kierkegaard gesagt hätte, bei dem man nicht zurückblickt, bei dem man einfach nur weiß, dass man gerade seine Menschlichkeit gegen das Überleben eintauscht. Und jetzt steht er hier, in der nächtlichen Lüneburger Heide, mit einem verblutenden Autohändler, der ihn verraten könnte – sie alle in den Abgrund ziehen könnte, wenn sie nicht richtig handelten.

    „Wir müssen noch eine Entscheidung treffen, Jörg“, sagt Olaf und tritt einen Schritt näher an den Wagen. „Dieser Typ hat uns längst im Stich gelassen. Er ist nicht der, für den er sich ausgibt. Wenn er am Leben bleibt, können wir ihm nicht trauen. Aber wenn wir ihn töten…“

    Olaf hält inne. Es ist vielleicht nicht das erste Mal, dass er mit dieser Art von Entscheidung konfrontiert ist. Er hat ganz sicher schon größeres gewagt; einst hat er sogar die Nord Streams gesprengt. Aber es ist das erste Mal, dass er so weit gegangen ist, ohne vorher einen Rückzieher zu machen. Ohne bekehrt und bearbeitet werden zu müssen. Und noch nie hatte er so viel zu verlieren.

    „Du weißt, was ich meine“, fährt Olaf fort. „Wir können ihn nicht einfach so freilassen. Wenn er uns verrät… was dann?“

    Jörg senkt den Blick, als wollte er Olaf nicht mehr in die Augen sehen. Das ist ihm alles zu viel hier. Er fühlt sich verloren, gefangen in einem Spiel, das er nicht versteht, noch nie verstand, das Schloz aber mit seiner unbarmherzigen Klarheit führt. Und Olaf auf der anderen Wagenseite wiederum weiß, dass Jörg an etwas anderes denkt. An die Zeiten, als sie noch an die Regeln geglaubt hatten. Als sie noch gedacht hatten, sie könnten die Dinge regeln, ohne dabei die Dunkelheit der Welt zu betreten.

    Doch jetzt, in dieser verlassenen Heidelandschaft, mit der Fastleiche eines Mannes, der ein Risiko für sie alle ist, weiß Olaf, dass es keine Regeln mehr gibt. Nur noch Überleben. Sie oder er. Und er wollte er sein.

    „Wir bringen ihn in die Mühle“, wiederholt Olaf, seine Stimme jetzt noch schneidender. „Dort behandeln wir ihn, aber ich treffe die Entscheidung. Und wenn er nicht spurt… dann wird er die Konsequenzen tragen.“

    Jörg nickt kapitulierend, der Blick immer noch nicht direkt auf Olaf gerichtet. „Und was dann?“

    Olaf blickt ihn mit seinen kühlen, berechnenden Augen an, als er schließlich sagt: „Das sehen wir dann. Aber im Moment… müssen wir ihn am Leben erhalten. Und das schnell.“

    Der Weg zur Mühle ist kurz, doch der Druck auf Olaf wächst mit jedem Meter. Diese Nacht ist wie ein kaltes, dunkles Meer, in dem er sich immer weiter von der letzten sicheren Küste entfernte Doch das war der Preis, den er zahlen musst, um zu überleben. Und er ist bereit, diesen Preis zu zahlen.

    ***

    Die Nacht war vollends hereingebrochen und Olaf hatte sich in den düsteren, staubigen Speicher der verlassenen Mühle zurückgezogen. Das Gemäuer gehört seinem Bruder, aber schon seit Jahren hatte sich niemand in der Familie mehr für den halb verfallenen Bau interessiert. Das Grundstück war vergessen worden und so sieht es auch aus. Für Olafs neues Leben ist es perfekt.

    Die Finsternis hier draußen in der Natur jedoch scheint allumfassend. Nur die flimmernde Kerze auf dem kleinen Holztisch erhellt den Raum mit ihrem schwachen, orangefarbenen Schein. In den ersten Tagen hatte noch die Einsamkeit an Olaf genagt, die drückende Leere und die seltsamen Geräusche des alten Baus. Doch heute Abend ist alles anders. Die Luft riecht wie immer nach feuchtem Holz, nach Moos und dem verfallenden Mauerwerk, und der Wind heult weiter wie eine brunftige Rehkuh durch die Ritzen der Wände. Aber all das lässt Olaf gleichgültig. Was ihn beschäftigt, ist der blutüberströmte Berg Klamotten, der vor ihm ausgebreitet liegt.

    Die Kleidung von Crazy Horst. Den Crazy Horst, den er mit Jörg in den Keller der Mühle geschleppt hatte, in der Hoffnung, dass sie ihn dort irgendwie über Wasser halten könnten. Olaf hatte ihn nicht behandelt wie einen Verbündeten, sondern als ein Problem. Und nun, nachdem Cookies an Horst herumgefuhrwerkt hatte, ist Olaf dabei die blutgetränkten Kleidungsstücke des Autohändlers zu durchwühlen. Und er fand bereits mehr als nur die Spuren von einem misslungenen Versuch, sich zu verteidigen. Er fand Lügen.

    Soeben zieht er ein zerknittertes, altmodisches Papier aus einer besonders blutigen Jackentaschen. Der Name „Horst S..“ ist auf einem vergilbten Ausweis vermerkt – der Name klingt nach nichts, was Olaf je gehört hat. Doch auf der Rückseite des Ausweises findet sich ein unscheinbarer Aufkleber, der nur einen einzigen Satz trägt: „Staatsangehörigkeit: Bayrisch“.

    Olaf lässt das Papier sinken. Langsam. Fast wieder in Zeitlupe und der Schein der Kerze spiegelt sich in seinen Augen. Bayerisch, rast es durch seinen Kopf. Bayrisch! Er war nicht der, der er vorgab zu sein. In einem Augenblick der Erkenntnis brandet eine Welle der Unruhe durch Schloz und bohrt sich einem scharfen Dolch gleich in seine Brust. Warum hatte Crazy Horst ihm das verschwiegen? Warum hatte er sich nicht sofort zu erkennen gegeben, als Olaf ihn nach seiner Herkunft fragte? Ist Horst etwa ein verdeckter Ermittler? Oder ist er in ein viel größeres Spiel verstrickt, eines, von dem er bisher nur einen winzigen Ausschnitt gesehen hatte?

    Das sitzt Olaf nun, klein und gekrümmt und mit dem zerknitterten Ausweis in der Hand, den Blick starr auf die gegenüberliegende Mühlenwand gerichtet, während die Dunkelheit sich wie ein schwerer Mantel um ihn legt. Die Fragen, die ihm durch den Kopf schießen, wollen einfach keine Antworten finden. Hatte er sich in den falschen Kreis bewegt? Ist dieser Horst ein Pflaster, das er von den schwelenden wunden Stellen seines politischen Leibes abgerissen hatte, nur um festzustellen, dass es noch tiefer blutete?

    Schloz dreht sich zum Dachfenster, das bei Tag einen weiten Blick über die Heidelandschaft freigibt. Jetzt ist da nur Schwärze. Fast nur Schwärze. Der Mond, ein blasser, ranziger Rest, taucht alles in funzliges Silberlicht, und Olaf denkt weiter. Was würde passieren, wenn er jetzt schon wieder eine Entscheidung treffen musste? Was, wenn Crazy Horst plötzlich mehr wusste, als er je gewusst zu haben glaubte?

    Olafs Hände ballen sich wieder zu Fäusten. Er konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Nicht jetzt. Der Gedanke, Horst zu töten, ist so klar wie der kalte Heidehimmel draußen. Doch was würde es bringen? Was wäre der Preis? Es gibt keine Garantie, dass das Geheimnis des Mannes mit in das Totenreich wandern würde. Und was würde Jörg tun, wenn er die Wahrheit über Horst erfuhr? Olaf blickt zur Tür. Er weiß, dass dies die Nacht der Entscheidungen war. Doch eigentlich hat er sich längst entschieden. Schon vor Tagen, schon vor Wochen. Er hatte einfach keine andere Wahl mehr.

    „Ich habe keine Prinzipien mehr“, murmelt Schloz leise, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem sonst. Der alte Olaf war tot. Der Mann, der vor wenigen Jahren noch in den Hallen der Macht residiert hatte, ist in dieser düsteren Heidenacht von den letzten Fetzen seiner Moral befreit worden. Was bleibt ist ein Überlebenskünstler, ein Mann, der bereit ist, alles zu tun, um zu überleben. Der nicht mehr an die Grenze zwischen Gut und Böse glaubt, sondern nur noch an die Grenze zwischen Leben und Tod.

    „Was bleibt mir noch zu verlieren?“ fragt sich Olaf Schloz laut, als er Horsts Ausweis in seiner Hand zerknüllt, bis die Ecken einbrechen und die Tinte verschmiert. Sein Blick schweift flüchtig durch den Raum, über den brüchigen Tisch, die verfallenden Wände, die wie stumme Zeugen der düsteren Entscheidung in ihm zu lauern scheinen. Aber anders als Cookies hat er keine Angst. Sein Herz geht ruhig, sein Puls ist normal.

    Er hat diese tiefe Gewissheit, dass er nicht ungeschoren davonkommen würde. Irgendjemand, irgendetwas würde immer hinter ihm herjagen, wie der Schatten eines Wolfes, der darauf wartet, zuschlagen zu können. Sie sind die Wölfe und werden sie immer sein – doch er ist kein Schaf. Er ist einer, der zurückschlagen kann. Einer der kämpfen kann. Er ist Olaf Schloz. Er ist ein Fuchs. Schlau, abwartend, und immer einen Schritt voraus. Die Wölfe mochten in Rudeln jagten, er jagt allein. Nicht mit roher Gewalt – okay, abgesehen von Crazy Horst – sondern mit List und Geduld. Denn ein Fuchs weiß, dass er nicht immer stärker sein muss. Er braucht nur den einen richtigen Moment, die eine richtige Entscheidung. In einer Welt, in der die Wölfe nach dem einfachen Sieg streben, spielt er das lange Spiel. Das Spiel, das die anderen nicht kennen. Und wenn sie es kannten, nicht verstehen würden. Während sie in der Dunkelheit heulen, lauert er im Schatten, bereit zu kommen, wenn sie alle es am wenigsten erwarten.

    Olaf lächelt jetzt. „Ich kann nicht zurück“, murmelt er in die Stille der Nacht und richtet sich von seinem Melkschemel auf. Der Gedanke, das Spiel einfach zu beenden, ist so fern wie der Horizont, der völlig von der dichten Dunkelheit der Heidewelt verschluckt worden ist. Das Spiel hatte doch gerade erst begonnen!

    Und so steht er dort, im Halbdunkel des Speichers und denkt an die Wahl, die er treffen muss – und längst getroffen hat. In diesem neuen Leben – einem Leben, in dem er sein anderes, sein neues Gesicht trägt – wird es keinen Raum für Zweifel mehr geben. Keinen Raum für Rückzug. Nur noch für Entscheidungen. Ein Mann, der einst zu wenig entschieden hatte, würde ab heute nicht mehr aufhören zu bestimmen – und sei es bis zum letzten Atemzug. Und diese erste, diese nächste, diese nächste erste Entscheidung würde wieder mal alles verändern. Denn Olaf ist sich jetzt sicher: Es ist an der Zeit, in diesem Land die Verantwortung zu übernehmen. Nicht als Wolf. Nicht als Schaf. Sondern als Fuchs.

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