
Vic spürt, wie Konflikte und Gewalt in Deutschland zunehmend in der Luft liegen, und spielt in ihrer Wohnung mit Bihan, einem Flüchtlingskind Mensch Ärgere dich nicht.
In diesem Land hat es schon über fünfzig Jahre keinen Krieg gegeben. Wer zu lange ohne Gewalt gelebt hat, sehnt sich nach ihr. Davon ist Vic überzeugt. Man muss kein Anthropologe sein, um zu wissen, dass wir Menschen von unserer genetischen Ausstattung her nicht nur auf Liebe und Fürsorge, sondern auch Kampf und Konflikt gepolt sind.
Deswegen wird es immer Krieg geben.
So abscheulich er ist.
Vic ist nur eine Beobachterin, eine Chronistin. Ob sie den Wunsch habe, Menschen deshalb einen Spiegel vorhalten zu wollen, um sie zu Besinnung zu bringen, wurde sie einmal von einem Redakteur gefragt. Sie hatte lachend den Kopf geschüttelt. Ich bin nur eine Chronikerin, hatte sie gesagt. Eine Chronistin der Gewalt.
Dem Redakteur hatte diese Bezeichnung sichtlich gefallen, denn er benutzte sie in einem Artikel, den er über sie verfasst hatte, nachdem sie nach ihrer Zeit in Afghanistan nach Deutschland zurückgekehrt war und ihre erste Ausstellung eröffnet hatte. „Fatalistisch“, hatte er sie genannt. Und „unkonventionell“. Es war ihm unbegreiflich, wie sie als Fotografin ihren festen Job bei der dpa aufgeben konnte.
„Wie werden sie jetzt leben?“, hatte er Vic gefragt.
Vic hatte ihm ihn die Augen gesehen. Ihr war klar, dass nur ein verwöhnter Europäer eine solche Frage stellen konnte. Weil nur ein Europäer daran glaubte, dass das Schlimmste, das einem zustoßen kann, der ökonomische Absturz war. Oder dass man sich gezwungen sehen konnte, irgendeinen Job anzunehmen, für den man nicht ursprünglich ausgebildet worden war.
Wer so viel Elend und Unsicherheit gesehen hat, kann über eine solche Frage nur lachen. Was sollte ihr schon passieren? Sie würde schon nicht verhungern. Im Gegensatz zu den Millionen anderen auf dieser Welt.
Bihan klopft an die Tür
„Hey, alles gut?“
„Ja, darf reinkommen?“
„Klar darfst du“, sagt Vic und bedeutet Bihan einzutreten.
Bihan geht auf das Sofa zu, auf das Vic ein weißes Betttuch gelegt hat, was ihm eine gewisse Eleganz verleiht. Vic fühlt sich in ihrer 30-Quadratmeter-Wohnung wohl. Im Vergleich zu den Hütten, in denen sie damals in Afghanistan gehaust hatte, ist ihr neues zu Hause geradezu luxuriös.
Bihan spricht nicht viel. Wenn sie nicht am Resopaltisch in der Küche sitzen und Mensch Ärger dich nicht spielen, sitzt sie nur da und blickt ernst auf die bunten Spielfiguren, die Bihan immer „Pferdchen“ nennt.
„Wie läufts s Bihan?“, fragt Vic. „Alles gut in der Schule?“
Bihan geht auf die Mittelschule in die 7. Klasse. Sie hätte das Zeug dazu aufs Gymnasium zu gehen, aber ihr Deutsch ist nicht gut genug. Ihre Eltern werden sie jedenfalls nicht fördern. Nicht weil es Bihan egal ist, aber weil sie das System nicht verstehen. Sie verstehen nicht, dass man in Deutschland auch als Frau gute Noten braucht, und einen Job. Im Kopf lebt die Familie noch in Afghanistan. Und zwar in einem Afghanistan, wo Frauen auf dem Land 15 Kinder haben und kaum lesen und schreiben können.
Bihan zuckt mit den Schultern. Sie mag nicht gern über die Schule reden und Vic ist die letzte, die sie dazu zwingen würde. Wenn sie auf ihren vielen Auslandsaufenthalten etwas gelernt hat, dann ist es, sich nicht einzumischen. Menschen leben, wie sie leben, und man macht ihr Leben nicht besser, wenn man ihnen sagt, dass ihr Leben falsch ist.
Vic weiß, dass ihre Einstellung ihre Arbeitgeber immer irritiert hatte. Die öffentlichen Sender, denen es immer darum ging, Dinge zu bewegen und zu ändern. Und deswegen immer Menschen bewegen wollten. Und deswegen immer diese Fotos wollten, die Menschen emotional erreichen, um ein Statement zu machen. Vic denkt nicht daran, Menschen emotional zu erreichen oder ein Statement zu machen. Alles, was sie will, ist, ihnen zu zeigen, wie die Welt ist.
Natürlich würde sie lieber in einer Welt leben, in der Menschen über ihre eigene Grausamkeit erschrecken und gütig und menschlich sind. Aber es ist nicht ihre Rolle, das einzufordern. Noch die Rolle von irgendjemandem. So wie niemand Menschen zur Grausamkeit zwingen kann, kann auch niemand sie zur Menschlichkeit zwingen.
Es geschieht oder es geschieht nicht.
Vic hält nichts davon, über andere zu richten, sie zu bekehren oder aufzuklären. Wie eingebildet und bescheuert muss man sein, um zu glauben, dass man die Menschheit erziehen kann?
„Willst du spielen?“, fragt Vic.
Bihan nickt.
Sie gehen in die Küche. Vic packt das Spiel aus und legt die Figuren auf die kleinen runden Felder.
„Ich habe nächste Woche Geburtstag“, sagt Bihan. „Ich werde 13.“
Vic nickt.
„Und ich darf ab da Kopftuch tragen, sagt Maadar.“
Vic nickt und wirft einen Blick auf ihre schönen langen Haare.
Vic ist sich sicher, dass Bihan nicht zum Kopftuch gezwungen wird. Und sichtlich freut Bihan sich darauf. Warum sollte sie es auch nicht tragen? Schließlich tragen es alle Frauen in ihrer Familie. Ihre Mutter. Ihre ältere Schwester. Ihre Oma daheim. Vic wird den Teufel tun, ihr das ausreden zu wollen.
„Na dann wollen wir mal sehen, wer dieses Mal gewinnt“, sagt Vic und hält ihr den Becher mit dem Würfel hin.
Bihan hält den Becher unentschlossen in der Hand.
„Und dann … soll ich heiraten.“
„Wann? Auch nächste Woche?“, sagt Vic und bemüht sich zu lachen, um die Situation etwas aufzulockern, denn Bihan sieht auf einmal angespannt aus.
„Nein, aber nächstes Jahr. Wir gehen für die Hochzeit nach Algerien.“
„Verstehe. Und wer ist der Glückliche?“
„Mein Cousin. Bashir.“
„Das Pummelchen?“
Bihan prustet auf einmal los. Dann hält sie erschrocken inne und hält sich die Hand vor den Mund.
„Du hast ihn so genannt, als du ihn mir mal auf einem Foto gezeigt hast“, sagt Vic.
Bihan wird sofort wieder still und nickt langsam.
„Er … er ist … nett … glaube ich. Wir haben draußen Fußball gespielt.“
Vic nickt. Als seine Ehefrau würde sie mit Sicherheit nicht mehr Fußball mit ihm spielen.
„Komm, du bist dran“, sagt Vic und hält ihr den Becher mit den beiden Würfeln hin.
Bihan würfelt. Zwei Sechser.
„Du bist ein Glückskind, Bihan.“
Vic meint es nicht einmal zynisch. Das Pummelchen ist bestimmt in Ordnung. Westler hören es nicht gerne, aber arrangierte Ehen sind im Schnitt nicht unglücklicher als Ehen, die freiwillig geschlossen werden. Wie soll man schon den perfekten Mann finden? Und dann, wenn man sich verliebt, auch noch wissen, ob dieser Mann auch der richtige für eine Ehe ist? Wenn Vic heiraten müsste, würde sie sich die Ehe auch arrangieren lassen. Sie muss selber bei dem Gedanken schmunzeln. Denn Vic will nicht heiraten. Wen auch?
Wetten dass, wenn die Integrationsbeauftragte, die ab und zu hier vorbeischaute, das mitbekommt, sie einen Herzanfall bekommt und alles daran tun wird, die Ehe zu vereiteln? Natürlich in gutem Glauben. Immer in gutem Glauben.
The road to hell is paved with good intentions.
So wie in Afghanistan. Oder im Irak.
Je weniger die Menschen sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen, desto weniger Schaden können sie anrichten.
Am sichersten ist es, man lebt als Einsiedler oder als Mönch in einem abgeschiedenen Kloster und beschränkt sich darauf, Muster in Sand zu rechen.
Leider kann es sich Vic nicht erlauben, irgendwo auf einem Berg zu sitzen und Sand zu rechen. Denn von irgendwas muss sie ja leben. Also nimmt sie kleine Gelegenheitsjobs an. Oder verkauft ab und zu ein paar ihrer Fotos.
Sie hat auch keine Probleme damit, irgendwo zu kellnern. Hauptsache man kann leben, ohne all zu viel Wind zu machen.
Wenn das mehr Menschen versuchen würden, wäre die Welt vielleicht tatsächlich eine bessere.
Aber sie wäre die letzte, die rumlaufen und das verkünden würde.
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Kann man nicht ganz normale Leute in die Erzählung einbringen, die Arbeiten, Steuern und Abgaben bezahlen und abends vor der Idiotenlaterne müde Einschlafen.
Warum, Bihan und Bashir sind doch ganz normale Leute, oder?!
Vielleicht in Helmand oder Belutschistan wo Kinderehen an der Tagesordnung sind.
https://www.gesetze-im-internet.de/bgbeg/art_229__44.html
☝️ Aber hier ist’s nicht normal 👆
Wer will sowas lesen?
Ich bin glücklich über jeden Text, der meinen Horizont erweitert.
Wenn ich deutsches Spießbürgertum sehen will, brauche ich nicht ins Internetz gehen.
Gruß vom Narf
ich bin froh das ich so frei bin, selbst zu entscheiden was ich lese oder nicht.
So prickend finde ich diese Reihe nicht, aber ich muss die ja nicht Lesen.😉
Ich gehe davon aus, dass die wenigsten Leute Filme/Bücher über sich selbst sehen/lesen möchte. Anderenfalls sollte sie sich einen Slogan aus der DDR zu eigen machen „Greif‘ zur Feder, Kumpel“.
Ist das jetzt der neue Trend, Kinderehen zu verharmlosen und salonfähig zu machen?
Schon früh am morgen fiebere ich der neuen Fortsetzung entgegen? Ficken sie heute mal wieder?
Wenn Sie Pornos suchen gibt es an einschlägigen Seiten keinen Mangel. In diesem Magazin werden Sie wahrscheinlich nur sehr bedingt fündig.