
Jule beschließt, einen jungen Rechten zu entführen, um damit ein deutliches Zeichen des Widerstands gegen Rechts zu setzen.
Auf allen Landesebenen haben sie sich getroffen. Die Vorsitzenden der Verbände. Die Vorsitzenden der einzelnen Gruppen der Ortsvereine der Verbände. Und haben es durchgesprochen. Die Möglichkeiten eruiert. Was man tun kann, wenn überall in Deutschland in einer Woche die Faschisten auf die Straße gehen.
Gegendemos am gleichen Ort?
An anderen Orten?
Letztlich würde jeder Ortsverein seine eigene Aktion starten.
„Aktionsplan Punktuelle Rebellion“, nannten sie es.
Sie mussten spektakulär werden. Originell. Durchschlagend.
In den Zoom-Fensterchen überboten sich die Mitglieder mit Adjektiven.
Jule hatte das Wort ergriffen.
„Die Welt war noch nie, noch nie auf so globale Weise dem Faschismus ausgesetzt. Was bedeutet, dass wir auf zwei Fronten agieren müssen. Wir müssen nicht nur den Menschen die Augen öffnen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Faschisten wissen, dass wir uns nicht klaglos ergeben werden wie in 1933.“
Ob sie denn schon etwas plane, fragte jemand aus FCFW in Hamburg.
„Ich arbeite da an was“, hatte sie geantwortet.
Das der Plan schon verdammt fortgeschritten war, sagte sie nicht.
Die Vorsitzenden ermahnten die Mitglieder dazu, in der Legalität zu bleiben. Zumindest nicht zu weit davon abzudriften. Wie immer die einzelnen Aktionen aussehen.
„Machen wir etwas wirklich Kriminelles, nehmen wir alle Schaden.“
Jule ist froh, nichts gesagt zu haben.
Bislang hat sie es nur mit Philipp durchgesprochen. Ja, es ist eine große Sache. Und ja, sie ist nicht unriskant. Aber wenn sie das Ganze in 24 Stunden über die Bühne bringen, würde niemand ins Gefängnis wandern. Sie hatte sich informiert.
Sie werden es durchziehen. Morgen auf der Demo.
Sie würden sich einen dieser Idioten mitnehmen.
Genauer gesagt entführen.
Aber de jure mitnehmen. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn es darum geht, nicht ins Gefängnis zu kommen.
Außerdem würde es nicht um Lösegeld gehen.
Sondern um Aufmerksamkeit. Den Widerstand sichtbar zu machen. Sie würde dazu posten.
Es wäre ein starkes Statement, nach dem Motto: Mit uns nicht!
Ihre Eltern waren nächste Woche auf der Biennale in Venedig.
Der ideale Zeitpunkt also, um den Mitgenommenen ins Haus ihrer Eltern aufs Land zu bringen. Das nächste Kuhdorf war zwei Kilometer entfernt. Niemand würde da nach einem entführten Rechtsradikalen suchen.
Bleibt nur der heikle Moment des Transports.
Technisch gesehen, der Moment des Kidnappings. Einen Menschen aus einer Menschenmenge heraus einfach mitzunehmen, ist nicht gerade eine diskrete Angelegenheit. Aber vielleicht muss man gerade darin den Vorteil sehen. Weil, wenn viele schauen, niemand etwas wirklich sieht.
„Verstanden“, sagt Jule.
Am Ende würden sie alle sehen, wie gut die Aktion war.
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Frage. Die konkrete Ausgestaltung von Gesellschaft findet aktuell und bereits schon länger, fast auschließlich weit rechts im politisch möglichen Spektrum statt. Dies unabhängig davon wer gerade unter welcher Farbe Regierung spielt. Wer genau soll also entführt werden?
Die Frage ziehlt auch darauf aufzuzeigen, daß diese kurze Geschichte mit ideologischen Vorannahmen beladen ist, die den tatsächlichen Machtzentren allzu pass sind.