Die Verschwörung, Folge 5 — The French Connection

Ground Zero, WTC
Bild: privat

Jason Gilligan sitzt nach dem Anschlag in New York fest und recherchiert, wer ein gewisser Osama bin Laden ist und was er mit Washington zu tun hat. Sein Chefredakteur drängt ihn, netter über New Yorks republikanischen Bürgermeister zu schreiben. Derweil sitzt Dewey Drillson im verrauchten Pentagon, das bei dem Anschlag ebenfalls getroffen wurde und hält eine Lagebesprechung ab. Zu der kommt auch Albert Rave, Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses. Sie streiten sich, ob sie in den Irak oder Afghanistan einmarschieren und was sie mit Bin Laden machen sollen. Luella, die wieder Besuch von Drillson bekommt, bringt ihn zum Sprechen.

 

Jason Gilligan saß noch immer in New York fest und hatte dort alle Hände voll zu tun. Noch am Tag des Anschlags auf das World Trade Center hatte Bürgermeister Benito Giovanni sämtliche Tunnel, Brücken und U-Bahn-Linien nach Manhattan für eine Woche sperren lassen. Das bedeutete, niemand kam herein – also auch keiner der Reporter, die außerhalb von Manhattan wohnten – und niemand kam heraus. Das hieß auch, wer am 11. September zufällig in der Stadt war, machte den Job derer, die jetzt nicht mehr kommen konnten. Also auch Gilligan.

Zu seinem Arbeitsalltag in Washington gehörte es, Pressekonferenzen in klimatisierten Räumen zu besuchen, mit überbezahlten und unterbeschäftigten Lobbyisten und Verteidigungsexperten zu lunchen oder in seinem eigenen Bürosessel, ein Glas Whiskey neben sich, in Akten oder Fachzeitschriften zu blättern. Nun war er damit beschäftigt, in Turnschuhen und geliehenen übergroßen Jogginghosen und mit einer Staubmaske aus Plastik vor dem Gesicht durch die giftig riechende Trümmerlandschaft von Downtown Manhattan zu waten und sich mit Polizisten herumzustreiten, wo er hindurfte, ohne dass ihm ein glühendes Metallteil auf den Kopf fallen konnte.

Gilligan sprach mit Feuerwehrmännern, mit Krankenschwestern  und mit Kindern, die fotokopierte Zettel an Zäune und Bäume hefteten, auf denen sie nach ihrem Vater oder ihrer Mutter suchten. Er sprach mit Studenten, die sich zum Blutspenden vor dem St.-Vincent-­Krankenhaus aufreihten, und mit Polizisten, die 16-Stunden-Schichten schoben. Und er sprach mit Benito Giovanni. Täglich. Giovanni war der Held der Stunde. Der Bürgermeister war gleich in der Minute zur Stelle gewesen, als die Türme zusammenbrachen, und saß nun im Rathaus und befehligte die Stadt, als sei sie eine Festung, die er verteidigen müsse. Und irgendwie war sie das ja auch.

Dabei war Gilligan nicht gerade ein Fan von Giovanni. Der Bürgermeister trug den Spitznamen »Manhattan Mussolini« – acht Jahre lang hatte er New York mit eiserner Faust regiert und es mit Hilfe einer solide aufgestockten Polizeitruppe geschafft, die Stadt von Graffitisprayern, Bettlern, Punks, Straßenmusikern, Obdachlosen, schwarzen Kids mit Ghettoblastern, Rauchern, Hütchenspielern, Müttern mit kleinen Kindern auf Wohlfahrt, sonstigen Arbeitsscheuen, AIDS-Kranken, unangepassten Künstlern, angepassten Künstlern, unangemeldeten Hotdog-Verkäufern, fliegenden Falafelhändlern, aufmüpfigen Taxifahrern, Prostituierten, Stripperinnen, Off-Off-Off-Broadway-Regisseuren, Turbanträgern, Fezträgern, Falschparkern und Menschen, die bei Rot über die Straße gingen, zu befreien. Nebenbei war er damit beschäftigt gewesen, so ziemlich jeden zu beleidigen, der sich ihm bis auf zehn Meter näherte. Darunter waren sämtliche Redaktionskollegen von Gilligan, soweit sie in New York arbeiteten, eine Reihe von Parteifreunden sowie die eigene Ehefrau, die aus dem Fernsehen erfuhr, dass Giovanni lieber mit seiner Geliebten Mafiafilme guckte, als im eigenen Ehebett zu schlafen.

Doch nach dem Angriff auf das World Trade Center war Giovanni wie Phönix aus der Asche gestiegen. Nun musste irgendwer in den sauren Apfel beißen und täglich ins Rathaus fahren. Und das war Gilligan, der es sich als Korrespondent in Washington bislang noch nicht mit dem Bürgermeister hatte verderben können. Und eines musste man Giovanni lassen, dachte Gilligan: Der Bürgermeister war immerhin hier. Wo der Präsident steckte, wusste hingegen noch immer niemand so recht.

So dauerte es mehrere Tage, bis Gilligan die Zeit fand, sich erneut zu fragen, warum ihm der Name Osama Bin Laden gleich so bekannt vorgekommen war. Und dann fiel es ihm wieder ein. Der Name hatte auf der Einladung gestanden. Der Einladung zu eben jener Fachkonferenz am 11. September, im achtzigsten Stock des World Trade Centers, die er – zum Glück – so knapp verpasst hatte. Diese Fachkonferenz über die Wall Street, die Verteidigungsindustrie und diese superteure plutoniumbetriebene Superdrohne, die das Pentagon unbedingt in Serie bauen wollte, für die Drillson aber vom Kongress keine Finanzierung bekommen hatte. Zumindest noch nicht. Das war wohl nur noch eine Frage von Wochen. Sobald der Kongress sich wieder traute, zu tagen.

Allerdings lautete der Name auf der Einladung natürlich nicht Osama Bin Laden, sondern hörte sich so ähnlich an. Mullah Bin Laden. Dieser Mullah Bin Laden und dessen Schwager Mohammed Al-Bandar waren beide Teilhaber eines milliardenschweren Rüstungskonzerns, bei dem vor allem Scheichs aus Saudi-Arabien investierten. In Washington hieß es, der Vater des Präsidenten sei ebenfalls daran beteiligt. Auch einer von Princes langjährigen Geschäftspartnern solle dort Berater sein. Einer dieser überangepassten Araber, die stets im Anzug und mit Rolex herumliefen. Aber Genaues wusste Gilligan auch nicht. Was er allerdings wusste, war, dass weder Mullah Bin Laden noch Mohammed Al-Bandar an der Konferenz im World Trade Center teilgenommen hatten. Sie hatten abgesagt, weil sie an diesem Tag einen eigenen Empfang in einem Fünf-Sterne-Hotel in Washington veranstaltet hatten. Das war für die beiden eine extrem glückliche Fügung, denn so waren sie noch am Leben.

Ob der gleiche Name wohl ein Zufall war? Wer wusste schon, wie geläufig der Name Bin Laden in Saudi-Arabien war? Gilligan dachte ein paar Minuten darüber nach und beschloss dann, seinen Chefredakteur zu fragen, ob das eine Geschichte werden könnte. Der runzelte nur die Stirn. »Wir befinden uns mitten im Krieg und das ganze Land hat sich hinter unseren Präsidenten gestellt«, sagte der. »Das ist wirklich nicht der richtige Moment, um irgendwelchen abstrusen Verschwörungstheorien nachzugehen.«

Tatsächlich wäre es auch gar nicht so einfach gewesen, diesen abstrusen Verschwörungstheorien nachzugehen. Denn sowohl Mohammed Al-Bandar als auch Mullah Bin Laden hatten die USA bereits verlassen. Nur einen Tag nach dem 11. September. Mit Delta Airlines nach Riad, wie man vermutete.

Gilligan seufzte innerlich, hielt aber den Mund. Als der Chefredakteur bereits an der Tür stand, drehte der sich noch einmal zu ihm um. »Weißt du, was du machen solltest, Jason?«, sagte er. »Schreib doch ein schönes, großes Portrait über den privaten Benito Giovanni. Darüber, wie unser Bürgermeister nach dem schrecklichsten Anschlag, der die Vereinigten Staaten jemals getroffen hat, zum größten Helden des angehenden Millenniums wurde oder so ähnlich. Sagen wir vierhundert Zeilen.« Und, als Gilligan das Gesicht verzog: »Man muss mit der Zeit gehen, mein Junge.«

Der Ostflügel des Pentagons rauchte noch immer, aber das hatte Dewey Drillson nicht davon abgehalten, zur Lagebesprechung in den kleinen Sitzungssaal einzuladen. Der Verteidigungsminister sah aus, als habe er die letzten Tage in der Wolfsschanze verbracht. Sein Haar war wirr, seine Augen waren geschwollen und in seinen zahllosen Falten hatte sich dunkler Staub abgelagert, als sei er im Zentrum der Explosion gewesen. Aber das bildete er sich hoffentlich nur ein, dachte Lucius Prince.

Prince – Hobbykoch, Fachmann für saudi-arabische Investitionsmodelle, Chef der Defiant Foundation und Berater des Pentagon – hockte in einem der Sessel aus Kalbsleder. Neben ihm saßen der Kommunikationsdirektor Albert Rave, der Vizepräsident Harold H. Burton sowie der Staatssekretär des Pentagon, Doktor Henry Wolfstetter.

Alle standen noch immer unter Schock. Washington war stets paranoid gewesen, aber nun war die Panik mit Händen zu fassen. Dies war die erste Attacke auf die Hauptstadt, seit die Briten 1814 das Weiße Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatten. Wolfstetter sah noch gequälter drein als sonst. »Warum, zum Teufel«, fragte er Burton, »mussten Sie unbedingt sofort verkünden, dass Osama Bin Laden hinter dem Anschlag steckt? Da hätte es doch wirklich bessere Optionen gegeben!«

»Bessere Optionen?«, fragte Albert Rave irritiert. »Was meinen Sie denn damit?«

Burton ignorierte ihn. »Na hören Sie mal«, sagte er zu Wolfstetter, das Gesicht so unbeweglich wie frischer Fisch auf einem Wochenmarkt in Denver. »Der Führer des islamischen Dschihad? Der schrecklichste Terrorist, den Saudi-Arabien jemals hervorgebracht hat und der für Dutzende von Anschlägen verantwortlich ist?«

Prince grinste in sich hinein. Wahrscheinlich finanziert er auch den Wahlkampf von Hillary Clinton, dachte er.

»Ob Bin Laden etwas mit dem Anschlag zu tun hat, ist doch gar nicht erwiesen«, sagte Wolfstetter, immer noch verärgert, zu Burton. »Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass Saddam Hussein dahintersteckt.«

Prince warf Drillson einen fragenden Blick zu. Der sah noch immer finster aus und sagte nichts. Offensichtich überließ er heute Wolfstetter das Reden. »Nach unseren Geheimdienstberichten deutet jedenfalls alles auf Hussein hin«, sekundierte Prince.

Burton zog die Brauen hoch. »Unsere Geheimdienste?«, spottete er. »Ich wusste gar nicht, dass die CIA Ihnen untersteht. Oder welchen Geheimdienst meinen Sie?«

»Andererseits«, fügte Prince hinzu, ohne Burtons Frage zu beantworten, »halten es unsere Geheimdienste auch für gut möglich, dass der Iran hinter dem Anschlag steckt. Vergessen Sie nicht, dass die Mullahs immer schon die Feinde Amerikas waren. Wenn wir schon über militärische Optionen reden …«

»Ich finde«, unterbrach ihn Wolfstetter und knetete dabei seine Finger, »ich finde, wir müssen viel strategischer denken. Es geht doch darum, dass die gesamte arabische Welt eine Bedrohung für die USA darstellt. Und da ist der Irak wichtiger als der Iran. Und erst recht wichtiger als ein einzelner, heimatloser Terrorist.«

»Heimatlos?«, fragte Burton. »So weit ich das überblicke, kommt Osama Bin Laden aus Saudi-Arabien, einer Brutstätte für Islamisten sondergleichen. Wir hatten bisher viel Geduld, aber das saudische Herrscherhaus bekommt ganz offensichtlich die Lage nicht in den Griff. Deshalb sollte es unser erstes und wichtigstes Ziel sein, dort eine Demokratisierung zu erreichen. Zur Not auch mit militärischen Mitteln.«

Bei den Stichworten »saudisches Herrscherhaus« und »Demokratisierung« schlug Princes inneres Warnsystem roten Alarm. »Es wäre strategisch extrem ungünstig, ausgerechnet jetzt das saudische Herrscherhaus zu destabilisieren«, warf er schnell ein. »Der Kronprinz hilft uns in dieser schwierigen Situation bereits, so gut er kann. Und die Saudis waren immer unsere treuesten Alliierten im Mittleren Osten.«

»Abgesehen von Israel natürlich«, sagte Wolfstetter und zog dabei die Augenbrauen hoch. »Aber Lucius hat Recht, Saudi-Arabien anzugreifen, das geht wirklich nicht. Wir sollten dort einmarschieren, wo es uns strategisch am meisten bringt. Und unter diesem Gesichtspunkt wäre der Irak optimal. Noch vor dem Iran.«

Prince nickte. »Dann könnten wir auch das Pipeline-Projekt verwirklichen«, sagte er. »Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Welches Pipeline-Projekt?«, fragte Rave. Prince ignorierte ihn.

Burton sah noch immer nicht begeistert aus. »Saddam ist doch der Einzige im Mittleren Osten, mit dem man vernünftig reden kann«, entgegnete er. »Keiner dieser wahnsinnigen islamistischen Ajatollahs. Von dem kleinen Ausrutscher in Kuwait einmal abgesehen. Aber wer macht denn keine Fehler? Außerdem ist das ewig her.«

»Wir wissen alle, dass Sie ihn mögen«, sagte Prince mit gewohnt falscher Sanftheit in der Stimme. »Sonst wäre er ja auch nicht …«

Drillson stand auf, die Faust leicht geballt. Ein Zeichen, dass er begann, die Geduld zu verlieren. »Warum schicken wir nicht einfach ein B-52-Geschwader hinunter und veranstalten ein Flächenbombardement von Istanbul bis Islamabad?«, schlug er vor. Er bekam das Gefühl, dass sich seine Berater in unwesentlichen Details verloren.

»Das wäre wohl ein wenig übertrieben«, sagte Wolfstetter, so als habe Drillson den Vorschlag ernst gemeint. Oder hatte er?

Nun hob Prince die Hand. »Hier ein Kompromiss«, sagte er. »Wir marschieren zuerst in Afghanistan ein. Unsere Pipeline ließe sich auch über Zentralasien führen und Afghanistan liegt strategisch sehr günstig zwischen Russland und dem Mittleren Osten. Wir müssen lediglich verkünden, dass sich Osama Bin Laden in irgendwelchen afghanischen Höhlen versteckt hält. Dann sehen wir weiter.«

»Das klingt doch gut«, freute sich Drillson. »Dann hätten wir schon mal einen Brückenkopf im Feindesland. Wobei es im Irak natürlich bessere Ziele gäbe, die wir bombardieren könnten. Da hat Doktor Wolfstetter durchaus recht.«

»Allerdings haben wir eine Kontaktperson in Afghanistan, die dafür sorgen könnte, dass uns die Taliban bloß Scheingefechte liefern.« Wolfstetter fing an, sich mit Princes Vorschlag anzufreunden. »Und zwar die Nichte unseres CIA-Direktors. Vor allem aber sind die Verträge praktisch fertig und wir haben den Taliban sowieso schon eine Anzahlung überwiesen. Vierzig Millionen Dollar.«

»Überwiesen?«, fragte Rave erschrocken.

Prince winkte ab. »Bargeld. Im Koffer, natürlich. Ist nur so eine Redensart.«

Rave hatte noch einen Einwand. »Und wenn die Presse darauf zurückkommt, dass fast alle Attentäter laut den Passagierlisten aus Saudi-Arabien stammen?«

Burton überlegte sich, ihn einfach zu ignorieren, zuckte dann aber nur mit den Schultern. »Das regeln wir, wenn es so weit ist. Das sind sowieso nicht die echten Passagierlisten. Wir haben bloß ein paar arabisch klingende Namen daraufsetzen lassen. Für alle Fälle.«

Rave sah ihn mehr erstaunt als beunruhigt an. »Wer saß denn dann am Steuer, als die Maschinen ins World Trade Center krachten?«, fragte er.

»Was weiß ich«, sagte Burton mit unverändert ausdrucksloser Miene. »Die Russen, die Chinesen, Hollywood, Fidel Castro, Fernsteuerung durch Wesen vom Mars. Ist doch egal. Wichtig ist, was wir jetzt daraus machen.«

»Vielleicht«, sagte Prince, der der Versuchung nicht widerstehen konnte, Burton ein bisschen Kontra zu geben, »steckt ja doch der französische Geheimdienst dahinter?«

Alle sahen sich an. »Da könnte etwas dran sein«, sagte Drillson. »Ich habe denen noch nie getraut. Aber vielleicht war’s doch die CIA?«

»Vollkommen ausgeschlossen«, sagte Burton und verzog seinen linken Mundwinkel zur vagen Andeutung eines halben Lächelns. »Die sind dazu viel zu dusselig. Erstens wüssten wir es dann bereits, weil in diesem Fall der CIA-Direktor versehentlich seine Fingerabdrücke auf der Black Box hinterlassen hätte, und außerdem hätten sie alle drei Flugzeuge ins J. Edgar Hoover Building gesteuert.« Das J. Edgar Hoover Building war das Hauptquartier des FBI in Washington.

»Ich dachte, alle Black Boxes seien beim Aufprall zerstört worden?«, fragte Rave.

»Befand sich nicht die New Yorker Außenstelle des FBI im World Trade Center?«, fragte Prince.

Nun verlor Drillson endgültig die Geduld. »Ist das hier eine Strategiebesprechung des Pentagon oder planen wir den nächsten Film von Oliver Stone?«, polterte er. »Also, es läuft folgendermaßen ab: Ich lasse den Feldzug gegen Afghanistan vorbereiten. Sie, Wolfstetter, reden mit der Nichte des CIA-Direktors. Und Sie, Prince, sagen Ihren Freunden im Mittleren Osten Bescheid, dass sie stillhalten sollen.«

»Bevor Sie gehen, da wäre noch etwas«, sagte Prince. »Orinoko Oil.« Alle stöhnten hörbar auf. Alle außer Burton. Die Beraterin des Präsidenten war im Pentagon nur unwesentlich beliebter als Jane Fonda. »Das geht so nicht mehr weiter. Diese Flug-Arie des Präsidenten quer durch Amerika am 11. September ging auf ihr Konto. Das hätte richtig schiefgehen können. Er hätte abgeschossen werden können!«

»Sie meinen, unser lieber Harry hätte jetzt Präsident sein können?«, warf Drillson trocken ein. »Aber ich glaube auch, dass sie überfordert ist«, fügte er dann schnell hinzu. »Wir müssen den Präsidenten auf Vordermann bringen, und zwar sofort. Kein Alkohol, keine achtwöchigen Urlaube mehr, keine dusseligen Sprüche im Fernsehen. Und das mit den Kärtchen zum Ablesen, das können wir vergessen. Das klappt nicht. Jeder Idiot merkt doch sofort, dass der ein Legastheniker ist. Wenn wir den noch mal so auf Sendung lassen, überstehen wir nicht mal einen Feldzug gegen Albanien.«

»Albanien gehört inzwischen zu den Guten«, warf Wolfstetter schnell ein.

Rave grinste plötzlich boshaft. »Vielleicht können wir Miss Oil auf die Vermisstenliste für das Pentagon setzen lassen«, schlug er vor. »Dann wären wir sie los.«

Drillson lächelte gequält. »Leider zu spät. Das hätte uns gleich am ersten Tag einfallen müssen. Sie wurde schon von zu vielen Journalisten gesehen.« Dann grinste auch er. »Aber mit unserem Doktor Wolfstetter hier könnte es noch klappen.« Und, als der zusammenzuckte: »War nur ein Scherz.«

Burton schüttelte den Kopf. »Ich finde, Sie sind ungerecht«, sagte er. »Wir hatten bisher schließlich andere Prioritäten, was den Präsidenten angeht. Wenn ich Miss Oil bitte …«

Drillson unterbrach ihn. »Zumindest sollten wir ihr jemanden zur Seite stellen, der ihr hilft, den Präsidenten zu coachen, so dass er vorzeigbar wird. Bloß wen?«

Rave räusperte sich. »Ich denke«, sagte er nachdenklich, »ich kann mich um den Präsidenten kümmern. Nur mit dem Verfassen von Presseerklärungen fühle ich mich sowieso nicht ausgelastet.«

Als Burton und Prince das Pentagon verließen, war der Vizepräsident noch immer schlecht gelaunt. »Hat sich eigentlich jemand um die Sippschaft von Bin Laden gekümmert?«, fragte er Prince. »Die sind ja hoffentlich nicht mehr in Washington, oder?«

»Keine Sorge, die wurden umgehend ausgeflogen«, antwortete Prince. »Nach Genf.« Dann lächelte er wie die Sphinx nach dreitausend Jahren der Verwitterung. »Und das ist nicht das Einzige, um das sich gekümmert wurde. Erinnern Sie sich an diesen neugierigen FBI-Agenten aus New York, der unbedingt in Pakistan gegen die Bin Ladens ermitteln wollte? Wie hieß der gleich wieder? O’Hara? Um den haben wir uns auch gekümmert.«

Im Taxi zur Defiant Foundation klappte Prince sein Mobiltelefon auf und tippte eine Nummer ein. Eine sehr lange Nummer. »Ich bin’s«, sagte er. »Es läuft alles nach Plan. Ich melde mich.«

»Eigentlich gibt es nur zwei Sorten von Menschen«, erklärte Harry Burton. »Menschen, die Geld anziehen, und Menschen, die Geld abstoßen.« Der Vizepräsident verzichtete darauf, auszuführen, zu welcher Sorte er gehörte. Das verstand sich von selbst. »Mehr muss niemand über die Welt wissen.«

»Yes, Sir«, sagte Luella und strich ihre glänzenden schwarzen Haare zurück. Der feiste, kahle Burton war einer ihrer anspruchsvolleren Kunden. Am Anfang hatte sie es mit den üblichen Methoden versucht. Ätherische Öle. Champagner, Massagen. Sogar Body-to-Body-Massagen in der ovalen Badewanne. Nichts. Er kam einfach nicht zum Höhepunkt.

»Drillson zum Beispiel lernt es nie«, sagte Burton. Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen und höhnte: »Zack, zack! Rührt euch. Jawoll! Achtung! Bin ich denn hier nur von Weicheiern umgeben? Das kann ja nicht klappen! Los, alles hört auf mein Kommando!« Er zuckte mit den Schultern. »Aber er ist ein nützlicher Idiot. Man braucht Leute wie ihn, um Krieg zu führen.«

»No, Sir«, sagte Luella. Sie hatte es auch auf die harte Tour versucht. Da standen viele drauf. Vor allem solche, die in höheren Positionen für die Regierung arbeiteten. Hand- und Fußfesseln aus schwarzem Leder, Seidenpeitschen und eine etwas solidere Peitsche aus geflochtenem Aluminium (der neueste Schrei aus Amsterdam). Handschellen aus Plastik, aus Silber und aus Titan. Ein Dildo. Ein Polizeiknüppel, in Schweineblut getaucht, mit dem sie auf seine gefesselten Beine schlug. Dann zog sie ihm eine Plastiktüte über den Kopf und tauchte seinen Kopf für volle fünf Minuten unter Wasser. Dazu schlug sie mit einer neunschwänzigen Lederpeitsche auf seinen Hintern. Nichts half.

»Ich hingegen«, sagte Burton und lächelte selbstzufrieden, »weiß, wofür es sich zu leben lohnt. Staaten, nationale Grenzen, das ist heutzutage vollkommen unwichtig. Echtes Business ist international. Global. Unsere Geschäftspartner leben überall: Irak, Iran, Pakistan, Indien, China. Der saudische Kronprinz kennt meine Kontonummer genauso wie dieser pakistanische Möchtegern-Präsident. Öl ist schließlich auch überall das gleiche Schmiermittel. Und es geht nicht bloß ums Öl. Wo Öl gefördert wird, wird gebaut. Häuser, Infrastruktur, Überlandleitungen, Datentransfernetze. Ölpumpen, Ölförderanlagen, Öllager, Öltanks. Öltanker. Pipelines, Autobahnen von Izmir bis Shanghai, Flughäfen, Containerhäfen, Brücken, Fabriken, Büros, Hotels, Wohnblöcke, Paläste, Shopping Malls. Wir reden hier von Milliarden und Abermilliarden von Dollars. Sobald unsere Truppen erst dort stehen, rollt der Rubel, das steht fest.«

»Yes, Sir«, sagte Luella. Bei einer ähnlichen Tirade vor ein paar Monaten war sie auf eine geniale Idee gekommen. Wenn Burton vorbeikam – und das tat er inzwischen mindestens einmal pro Woche –, packte sie ihn in die ovale Badewanne. Die Badewanne war gefüllt mit Scheinchen. Tausenden von grünen Scheinchen. Dollars. Greenbucks. Zaster. Kohle. Penunzen. Pinkepinke. Burton kam, sobald sich die ersten Dollarscheine um seine Eier wickelten.

Am erstaunlichsten fand Luella, die allerlei gewohnt war, dass Burtons Penis die Dollarscheine offenbar unterscheiden konnte. War die Badewanne mit Einern gefüllt, blieb er unentschlossen in der Waagerechten. Bei Zwanzigern wurde er hart. Und Hunderter erregten ihn so sehr, dass er Luellas Berührungen nicht mehr bedurfte. Einmal hatte sie, um die Spesenrechnung niedriger zu halten (die Revision des Weißen Hauses hatte sich bei ihrem Chef beschwert), mit falschen Hundert-Dollar-Scheinen experimentiert. Burtons Erektion war in sich zusammengefallen wie die Laune der Wall-Street-Analysten nach dem Absturz von AOL.

»Den ersten Auftrag haben wir übrigens schon«, sagte Burton. »Unsere Firma räumt die Ruine des World Trade Centers ab. Muss ganz schnell gehen, wegen der Umwelt und so. Den Stahl haben wir schon weiterverkauft.« Er sah noch selbstzufriedener aus, als es Luella für möglich gehalten hätte. »Und wohin, das rätst du nie.«

Als er gegangen war, holte sie das Geld aus der Wanne, stopfte es in einen Plastiksack und gab den Sack der Putzfrau. Zum Waschen und Trocknen. So sensibel war Burtons Schwanz dann doch wieder nicht, dass er gebrauchtes Geld ablehnte.

Endlich allein in ihrer Garderobe, sank sie erschöpft auf ihr rotes Sofa und steckte sich eine Zigarette an. Den Rauchmelder an der Decke hatte sie gleich am ersten Tag abmontiert und eine Sprinkleranlage gab es in diesem Schuppen sowieso nicht. Dazu schenkte sie sich einen Martini ein. Bitter, mit einer einzelnen grünen Olive. Sie ließ sich die Oliven aus der Heimat kommen. Das Zeug hier schmeckte nach Plastik.

Luella strich sich die Haare zurück, die unangenehm an ihrer Kopfhaut klebten, und stöhnte. An Tagen wie diesen hatte sie das Gefühl, sie müsse sich stundenlang duschen. Meist tat sie es dann auch. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Noch sah sie wie Mitte zwanzig aus. Na gut, Ende zwanzig. Sie würde noch einige Zeit auf diesem Posten arbeiten können. Allerdings hatte sie heute weniger erfahren, als sie erhofft hatte. Aber Burton würde wiederkommen. Und die anderen auch.

Ihre Methode war die richtige, da war sie sich sicher. Hundertprozentig. Natürlich hätte sie auch antworten können. »Das ist ja interessant, Herr Vizepräsident, welcher saudische Kronprinz denn? Abdullah Aziz oder Mehmout Moufaz? Und war das nicht der, der in den libanesischen Bankenskandal verwickelt war? Da gibt’s doch noch einen internationalen Haftbefehl.« Je dümmer sie tat, desto mehr erzählten sie.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht. Gleich musste der Anruf kommen. Manchmal fragte sie sich, ob die Leitung wirklich abhörsicher war. Doch die Kollegen, die sie installiert hatten, waren Profis. Wie sie.

Als das Telefon endlich klingelte, war sie schon beim dritten Martini. »Hallo«, sagte sie in dem rauchigen Akzent, den sie bei ihren Kunden ablegte. »Hier Sharona Eins.«

»Bikini Vier«, antwortete eine männliche Stimme. Manchmal würde sie gerne wissen, wer sich diese albernen Codenamen ausdachte.

»Haben Sie mehr über den Schaden am Pentagon herausgefunden?«, fragte Luella.

»Leider nein«, sagte Bikini Vier. »Es gibt nur einige wenige vom FBI freigegebene Standbilder, und die Zeitangaben darauf sind offensichtlich manipuliert.«

»Und diese Überwachungskamera an der Tankstelle gegenüber? Sind Sie an die Bilder herangekommen?«

»Nein, leider auch nicht«, erklärte Bikini Vier. »Der Besitzer hat mir erzählt, das FBI habe sie beschlagnahmt. Schon eine Stunde nach dem Einschlag. Dazu sämtliche Kopien. Hat denn irgendwer sonst aus unserer Gruppe Fotos von der unmittelbaren Einschlagstelle auftreiben können?«

»Nicht mal gegen Geld«, sagte Luella alias Sharona Eins. »Die scheinen völlig vom Markt verschwunden zu sein. Haben Sie eine Liste der Opfer?«

»Das ja«, sagte Bikini Vier. »Aber die meisten der Toten sind Handwerker. Der betroffene Flügel wurde gerade renoviert. Drillson sitzt genau am anderen Ende des Pentagon. Wolfstetter normalerweise auch. Er und Burton waren allerdings zum Zeitpunkt des Anschlags auf einem Empfang, und zwar zusammen mit ein paar Arabern, darunter Mohammed Al-Bandar und Achmed Abul Abbas Al Gossarah.«

Luella stieß einen überraschten Pfiff aus. »Das haben sie bisher unter der Decke gehalten«, sagte sie. »Haben wir herausgefunden, wie sie das mit der Flugbahn hinbekommen haben? Die müssen mit achthundert Sachen anderthalb Meter über dem Asphalt gebrettert sein.« Luella hoffte, dass Bikini Vier wenigstens das wusste.

»Nee. Das ist auch unseren Navigationsspezialisten ein völliges Rätsel«, gab Bikini Vier ein wenig kleinlaut zu. »Schade, dass die Piloten tot sind – die würden wir sofort einstellen. Was hat denn Burton heute erzählt?«

»Redete nur vom Geld, wie immer. Aufträge und so. Eine seiner Firmen soll den Schutt vom World Trade Center fortschaffen. Er hat mir aber nicht gesagt, wohin. Ich vermute mal die Philippinen oder Indonesien. Vielleicht bekommen wir da doch noch die Hand drauf. Welcher unserer Agenten sitzt denn in Manila?«

»Jesus Sieben«, sagte Bikini Vier und, als er ihr Kichern hörte: »Früher hieß er Robespierre Fünf, aber seit er sich mal beschwert hatte, dass die Sekretärin des Chefs zu viel Parfüm trägt, haben sie ihm den Namen angehängt.«

»Wann fahren Sie denn nach Pennsylvania?«, fragte Luella alias Sharona Eins. »Sie wollten doch so bald wie möglich zur Absturzstelle.«

»Morgen«, antwortete er. »Es dauerte ewig, bis der Dienstreiseantrag durchging.«

»Seien Sie bloß vorsichtig«, sagte Luella. »In der Luft rund um die Absturzstelle wurde eine ungewöhnlich hohe Konzentration eines Nervengases gemessen. Wenn Sie davon zu viel einatmen, kommen Sie nie wieder raus aus dem Krankenhaus. Schon deshalb, weil Sie sonst reden könnten.«

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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Ein Kommentar

  1. „Konzentration eines Nervengases gemessen“ – Moment mal, dieser Zacken geht jetzt aber wirklich zu weit raus aus dem Plot, ja? Die beschlagnahmten Video-Bänder der Tankstelle sind eigentlich schon unzulässig.
    Noch ein Korken von Brisanz und die weiteren Veröffentlichungen werden untersagt!

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