Die Verschwörung, Folge 4 — Top Secret

Ground Zero
Bild: privat

Am Morgen des 11. September feiern Vizepräsident Harry Burton und Pentagon-Stellvertreter Henry Wolfstetter ein Waffengeschäft mit Freunden aus Saudi-Arabien, darunter Scheich Mohammed Al-Bandar. Sie sind in einem Luxushotel in Washington. Auch Lucius Prince und Orinoko Oil, die Beraterin des Präsidenten sind dabei. Da ereilt sie die Nachricht vom Anschlag auf das World Trade Center. Derweil ist Jason Gilligan für eine Konferenz nach New York gereist. Er kommt bei den Twin Towers an, als die gerade zusammenbrechen. Der Präsident, der gerade Schulkindern in Florida vorliest, wird vom Secret Service an einen geheimnisvollen Ort geschafft.

 

»Auf eine wunderbare Freundschaft!«, sagte Mohammed Al-Bandar, hob das Champagnerglas und prostete seinen Geschäftspartnern zu. Es war eine recht gemischte Gruppe, die sich an diesem Morgen im Salon Napoleon eines Fünf-Sterne-Hotels in Washington, D.C., traf. Der Salon war seines Namens würdig: Perserteppiche, Louis-XIV.-Spiegel und kristallene, mit Blattgold belegte Kronleuchter. Um Mohammed Al-Bandar herum standen mehrere weiße Männer in dunklen Anzügen, dunkelhäutige Männer in weißen Kaftanen und traditionellem arabischen Kopfputz, ein einzelner, ebenfalls dunkelhäutiger Mann in einem weißen Anzug mit einer Rolex am Handgelenk, sowie eine sehr schlanke, sehr elegante dunkelhäutige Frau in einem hellgrauen Kostüm, schwarzen Stöckelschuhen und mit einer weißen Perlenkette, die nach drei Monatsgehältern aussah. Sie war die Beraterin des Präsidenten. Orinoko Oil.

Einer der weißen Männer im dunklen Anzug war Lucius Prince. Prince war an diesem Morgen zufrieden mit sich. Sehr zufrieden. Dies war Washington, wie er es liebte. Vorbei war die Zeit, in der Liberale, Demokraten, Pazifisten, Kommunisten und sonstiges Gesocks im Weißen Haus den Ton angaben. Wenn es nach Prince ginge, für immer. Endlich war es wieder möglich, vernünftig Geschäfte zu machen.

Neben Prince standen Doktor Henry Wolfstetter sowie Harold H. Burton, der als Einziger Scotch trank. On the Rocks. Harry Burton, der Vizepräsident, war ein massiger, fast kahler Mann. Ein Industriekapitän, dessen Gesicht weniger Emotionen verriet als das eines Pottwals im Eismeer. Wolfstetter, der Staatssekretär im Pentagon und damit Drillsons Stellvertreter, war ein kleiner, hypernervöser Brillenträger mit unordentlichen schwarzen Haaren, der schon wieder vergessen hatte, seinen Krawattenknoten richtig zu binden. In seinem Glas war Mineralwasser.

»Na, kommen Sie schon, Henry«, sagte Burton gönnerhaft. »Nehmen Sie doch auch mal einen Schluck Champagner. Unser lieber Lucius hier hat schon das dritte Glas.«

Bevor Wolfstetter etwas sagen konnte, klopfte Mohammed Al-Bandar – einer der Männer im weißen Kaftan – an sein Champagnerglas. Al-Bandar war im Vorstand des milliardenschweren Rüstungs- und Ölkonzerns, der diesen Empfang gab. Der Araber im weißen Anzug mit der Rolex, der neben ihm stand, war einer seiner Berater. Al-Bandar stammte aus einer alten saudischen Dynastie. Woher der andere stammte, wusste eigentlich keiner so genau. Außer Prince natürlich.

Al-Bandar hatte das gute Dutzend arabischer Investoren nach Washington eingeladen, weil er sie für die plutoniumbetriebene, hypersonare Superdrohne interessieren wollte, die sein Konzern gemeinsam mit dem Pentagon entwickelte. Die Drohne verband, wie es in dem streng geheimen Prospekt für Anleger hieß, die »Fernsteuerungstechnologie der Predator IV mit den Tarnfähigkeiten des Golfbombers und kann auf einem Radarschirm jedes beliebige Flugobjekt simulieren sowie selbsttätig Ziele anhand ihres genetischen Codes ermitteln und eliminieren«. Al-Bandar hoffte, dass diese lukrative Freundschaft noch lange erhalten bleiben würde. Jedenfalls länger als die fünfzehn Minuten, die sie hier noch hatten.

»Bevor wir das Buffet eröffnen, mein lieber Harry, lieber Lucius, lieber Doktor Wolfstetter, möchte ich noch kurz unser neuestes Vorhaben ansprechen«, sagte Mohammed Al-Bandar. »Nämlich die Pipeline von …« Er wurde jäh unterbrochen, als ein blasser und aufgelöster Page hereinstürzte, ihn fast umrannte, Burton am Ärmel packte und anfing, dem Vizepräsidenten zischend und spuckend ins Ohr zu flüstern. Der schwere, massige Mann mit der Glatze erstarrte. Entsetzlich lange fünf Sekunden geschah rein gar nichts. Dann drehte Burton sich suchend um. »Gibt es hier einen Fernseher?«, fragte er.

Der Fernseher fand sich in der Ecke auf einem Lacktischchen. Als der Page ihn einschaltete, flog gerade das zweite Flugzeug ins World Trade Center. Und zwar bereits in der fünften Wiederholung. Es war 9.28 Uhr. Alle starrten auf den Bildschirm. Niemand trank mehr etwas. Nicht einmal die Saudis.

Der Erste, der seine Stimme wiederfand, war Prince. »Wie konnte das passieren?«, fragte er laut in den Raum hinein, dessen Louis-XIV-Dekor plötzlich absurd antiquiert wirkte. Niemand fühlte sich angesprochen, aber alle sahen einander an. Wusste Prince etwas, was sie nicht wussten? Prince stellte das Champagnerglas ab und griff nach seinem Telefon. Im gleichen Moment brach hysterisches Geschnatter aus.

Nur Orinoko Oil trat in eine Ecke des Raumes, klappte ihr Mobiltelefon auf und wählte die erste Nummer der Kurzwahlliste. Dann fing sie leise an, zu sprechen. Auch Burton griff nach seinem Telefon. Er versuchte, Drillson zu erreichen. Kein Erfolg. Wütend starrte er das Gerät an. Dieser japanische Schrott. Oder war es finnischer Schrott? Endlich, nach einer Viertelstunde, nahm der Pentagon-Chef ab.

»Was zum Teufel ist da los?«, wollte Burton wissen.

»Feindliche Attacke«, antwortete Drillson knapp. »Das war kein Unfall, sondern ein Attentat. Wir haben Nachricht von NORAD, dass noch zwei weitere Passagiermaschinen entführt wurden, die gerade Kurs auf Washington nehmen.«

NORAD war das North American Aerospace Defense Command. »Um Gottes Willen«, sagte Burton. »Washington! Wissen Sie, was die vorhaben?«

Mohammed Al-Bandar sah Burton entgeistert an. Was ging da vor? Derweil hatte es Prince geschafft, in New York anzurufen. »Was ist denn bei euch los?«, fragte er ruhig und doch angespannt. Er hatte Joe Brisbane am Apparat, den Nachrichtenchef von FUC.

Brisbane war gerade dabei, Befehle durch die Redaktion zu brüllen, wobei er fünf Bildschirme gleichzeitig beobachtete. »Das World Trade Center brennt!« Brisbane schrie so laut ins Telefon, dass sogar Al-Bandar, der neben Prince stand, es hören konnte. »Beide Türme brennen! Ganz Downtown ist dicht. Alle Brücken gesperrt, alle U-Bahn-Stationen. JFK, La Guardia, alles zu! Sämtliche Feuerwehrmänner von New York sind dort und löschen! Falls es da überhaupt noch was zu löschen gibt. Ich habe vier Ü-Wagen hingeschickt, aber die lassen niemanden in die Nähe. Sie sagen, die Türme brechen jede Minute zusammen. Ich schicke gleich einen Hubschrau…«

Weg war er. Sekunden später ließ ein dumpfer, sehr tiefer und sehr ferner Schlag die Kristallleuchter im Salon Napoleon klirren. Leise, aber nachdrücklich. Der Champagner zitterte in den halbvollen Gläsern, als nähere sich ein Tyrannosaurus Rex.

Alle verstummten. Außer Burton. »Was?«, japste der, noch immer am Telefon und durchbrach die Stille. »Das Pentagon?«

Als er bemerkte, dass ihn alle anstarrten, ließ er den Apparat sinken. Er war leichenblass. »Noch ein Flugzeug«, sagte er. »Es ist ins Pentagon eingeschlagen, direkt ins Pentagon, und ein viertes ist unterwegs zum Weißes Haus. Oder zum Capitol.« Alle sahen sich an. Das Hotel war vom Capitol nicht allzu weit entfernt. »Drillson hat bereits den Abschussbefehl gegeben«, warf Burton ein. Dann sah er auf, als sei er plötzlich geweckt worden. »Das ist natürlich Top Secret.« Er streckte sich. »Ich muss los.«

Als die Tür hinter Burton zufiel, starrten sich alle an. »Wer könnte das denn gewesen sein?«, fragte Mohammed Al-Bandar als Erster. »Das war doch bestimmt ein Anschlag, oder?«

Prince warf Wolfstetter einen fragenden Blick zu. Dessen Augen flackerten. Er räusperte sich. »Saddam Hussein«, sagte er bestimmt. »Wer denn sonst?«

Al-Bandar nickte langsam. »Aha«, sagte er unsicher.

Auch Orinoko ließ endlich das Mobiltelefon sinken und sah Wolfstetter an. Nun nickte auch Prince. »Das muss eine Geheimdienstoperation gewesen sein, das ist klar«, sagte er und nickte noch einmal. »Das haben Profis gemacht. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass eine Handvoll Zufalls-Attentäter so etwas hinbekommt.«

»Saddams Verbindungen zum internationalen Terrorismus sind doch allgemein bekannt«, sagte Wolfstetter. »Laut eines Gutachtens der CIA steckte er schon hinter dem ersten Anschlag auf das World Trade Center vor acht Jahren.«

»Sie haben wahrscheinlich recht«, meldete sich nun, zu aller Überraschung, der Araber im weißen Anzug mit der Rolex zu Wort. »Saddam hat seine Pläne zur Beherrschung der Welt niemals aufgegeben. Trotz der zurückgeschlagenen Invasion von Saudi – äh, Kuwait.«

Al-Bandar nickte noch immer zögerlich. »Hussein, diesem ungläubigen Hurensohn, ist alles zuzutrauen«, sagte er. »Aber könnte es nicht auch ein anderer Geheimdienst gewesen sein? Der Moss…«, gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass Wolfstetter Jude war, »… der Moskauer Geheimdienst, wie heißt der gleich noch mal?«

Prince verzog das Gesicht zu einer spöttischen Grimasse. »Das glaube ich kaum«, sagte er. »Der Kalte Krieg ist vorbei.«

»Arafat steckt wahrscheinlich ebenfalls dahinter«, sagte Wolfstetter.

Prince fing nun langsam an zu lächeln. »Da fällt mir etwas ein«, sagte er und wandte sich an den Hotelpagen, der immer noch im Raum stand: »Kriegen Sie für mich mal das CNN-Büro in Ramallah an die Strippe. Aber pronto!«

»CNN hat ein Büro in Ramallah?«, fragte der Araber im weißen Anzug erstaunt.

»Oder Jerusalem oder Tel Aviv. Nun machen Sie schon!«, schob Prince ungeduldig hinterher. »Seien Sie nicht so lahmarschig!«

Beim Stichwort »lahmarschig« fuhr Wolfstetter ruckartig zusammen. »Was ist eigentlich im Weißen Haus los?«, fragte er. »Wer hat da überhaupt das Kommando?«

»Ich finde es gleich heraus«, versprach Orinoko Oil. Sie drückte wieder eine Kurzwahltaste ihres Telefons. Die zweite. »Hallo«, sagte sie. Einige Minuten herrschte Schweigen, das nur von Orinokos »Ja?« und »Ach was!« unterbrochen wurde. Dann legte sie auf. »Das war Burton«, erklärte sie. »Er ist im Weißen Haus. Er sagt, er wisse, wer hinter dem Anschlag steckt. Ein gewisser Osama Bin Laden. Dieser Terrorist aus Saudi-Arabien, der schon für den ersten Anschlag auf das World Trade Center verantwortlich war. Albert Rave hat schon eine Presseerklärung herausgegeben.«

Prince und Wolfstetter sahen einander überrascht an. Keiner wusste, wer zuerst etwas sagen sollte, und vor allem was. »Weiß denn der Präsident …«, setzte Wolfstetter an.

»Apropos Präsident«, fiel es Orinoko siedend heiß ein. »Wo steckt der eigentlich?«

Jason Gilligan stand mitten im Redaktionsbüro und hielt sich an der Lehne eines Bürostuhls fest. Die letzten paar Schritte hatte er nur unter Aufbietung all seiner Kräfte geschafft. Er sah aus wie der personifizierte Tod. In seinen Haaren war graue Asche. Die grauweißen Flocken hatten auch sein Gesicht bestäubt. Darunter zeichneten sich seine Augenfältchen scharf ab. Seine Knie zitterten und am linken Unterarm hatte er eine große knallrote Schramme, die sich vom Handgelenk bis fast zum Ellbogen zog. Eines seiner Hosenbeine war aufgerissen und sein Jackett war irgendwo verlorengegangen. Noch nie in seinem Leben war Gilligan derart erschöpft gewesen. Und das alles, weil er nicht in Washington geblieben war.

Heute früh war er mit dem Flugzeug in New York angekommen, um eine Fachkonferenz zu besuchen. Das Thema: »Wall Street und die Rüstungsindustrie: Wie wird sich die Entwicklung der plutoniumbetriebenen, hypersonaren Superdrohne, die die Fernsteuerungstechnologie der Predator IV mit den Tarnfähigkeiten des Golfbombers verbindet, langfristig auf den Dow Jones Index auswirken?«. Veranstaltungsort: World Trade Center, Nordturm, achtzigster Stock. Natürlich hatte die Zeitung, für die er arbeitete, mehr als genug Redakteure in New York, aber er war der für Rüstung zuständige Korrespondent. Außerdem hatte er es sich ganz nett vorgestellt, mal wieder Kollegen und Freunde aus seiner Zeit in Manhattan zu treffen. Vielleicht würde er sich sogar ein Musical angucken, später am Abend.

Die Konferenz war am 11. September für neun Uhr früh angesetzt – Einlass ab halb neun – aber er hatte es geschafft, die U-Bahn-Station zu verpassen, bloß weil er für einen Moment eingenickt war. Das Flugzeug war, viel zu früh für seinen Geschmack, um sechs Uhr morgens in Dulles, Washington, gestartet und anderthalb Stunden später in La Guardia gelandet. Dort hatte er kein Taxi bekommen, stattdessen den Bus genommen, war an der 125th Street in die U-Bahn-Linie 1 gestiegen und Richtung Downtown gefahren. Als er erwachte, sah er draußen gerade die Rector Street vorbeiziehen. Leise fluchend stieg er an der Endstation South Ferry aus, wo ihm zu spät einfiel, dass die U-Bahn hier sowieso wendete, und er so den abfahrenden Zug verpasste. Fünf Minuten musste er auf den nächsten Zug warten. Als er am World Trade Center ankam, war es 8.50 Uhr. Er hastete nach oben und erreichte die hohe, lichtdurchflutete Lobby exakt zu dem Zeitpunkt, als die Hölle losbrach.

Die Lobby bebte, als sei sie von einer megalomanischen Bestie angegriffen worden. Alle Fahrstühle standen still. Die Drehtüren hingen schief und verkantet in ihren verbogenen Eisenrahmen. Dann kam ein unendlicher Strom von Menschen, viele davon schwarz im Gesicht vom Rauch und mit roten Augen, die Nottreppen hinuntergestolpert. Manche schrien in ihre Mobiltelefone, manche weinten, die meisten rannten sofort an Gilligan vorbei, in Richtung U-Bahn. Nur er blieb stehen. Noch hatte der kühle, nüchterne Reporter in ihm die Oberhand. Was war hier los?

Um 9.02 Uhr brachen zwei Dutzend Feuerwehrleute mit Gewalt durch eine der dysfunktionalen Drehtüren und zerrten eine schwere Maschine hinter sich her. Draußen flatterten Tonnen von Papier vom Himmel herunter. Dann hörte Gilligan ein dumpfes Geräusch. Ganz so, als schlage ein schweres Gewicht auf dem Boden auf. Noch mal. Und noch mal. Gilligan machte einen Schritt auf die gläserne Außenwand zu und sah einen toten Mann auf dem Boden, inmitten von Metallteilen. Der Mann saß in einem Flugzeugsessel und war mit einem schwarzen Gurt angeschnallt. Er hatte keine Arme mehr. Neben ihm lag etwas, von dem Gilligan hoffte, dass es kein verstümmelter Torso war.

Er begriff immer noch nicht, was gerade geschah, aber es dämmerte ihm, dass er hier ebenfalls schnell wegmusste. Als er über die defekte Rolltreppe nach unten hastete, stand das Wasser in der Einkaufspassage bereits knöchelhoch. Die Sprinkleranlage spritzte völlig sinnlos drauflos, denn es brannte gar nicht. Er schaffte es, noch ein Stockwerk tiefer zu gelangen, aber inzwischen fuhr die U-Bahn schon nicht mehr. Sogar die Metallgitter auf dem Bahnsteig waren versperrt. Er drehte sich um und rannte zurück, fand die Drehtür des Buchladens im World Trade Center, der sich über drei Stockwerke nach oben zog, und gelangte durch den Laden auf die Church Street. Dort lief er zwei Polizisten in die Arme. »Weg hier, verschwinde!«, schrie einer der beiden ihn an. »Bloß weg!«

Gilligan rannte weiter. Die Luft war voller Rauch, der giftig roch und zum Schneiden dick war. Die Haut unter seiner Kleidung begann zu jucken. Als er sich umdrehte, sah er die beiden gewaltigen Türme rauchen wie apokalyptische Fackeln. Hinter ihnen war der Himmel so schwarz wie bei einer Sonnenfinsternis.

Nirgends fuhr eine U-Bahn. Auf keiner der Linien. Auf der Straße taumelten ihm Menschen mit aufgerissenen Augen entgegen, die mit weißer Asche bedeckt waren. Er wusste noch nicht, dass er genauso aussah. Erst an der Canal Street blieb er ein paar Minuten lang stehen, erschöpft vom Laufen. Seine Augen brannten und in seinem Mund hatte er einen unangenehm metallischen Geschmack. Den langen, schmalen Körper halb gekrümmt, eine Hand an einen Laternenpfahl gestützt, blickte er noch einmal zurück. Und dann geschah es.

Die rauchenden Türme schienen sich an ihren Konturen aufzulösen. Ein fernes Grollen, dann gab der eine Turm nach. Wie in Zeitlupe sackte er in kleinen ruckartigen Bewegungen zusammen und brach Stockwerk für Stockwerk ein. Gleichzeitig erhob sich rund um den Sockel eine Wolke aus Betonstaub, schwarzem Rauch und Feuer, die den Turm verschlang. Die Wolke breitete sich innerhalb von Minuten über ganz Downtown aus, so dass Gilligan heftig zu husten anfing. Er zog sein Hemd nach oben, presste es gegen den Mund und rannte weiter.

Gilligan brauchte zu Fuß fast eine Stunde, um das New Yorker Büro seiner Zeitung zu erreichen. Dort lief auf allen TV-Schirmen das gleiche Bild. Ein Flugzeug, ein orangener Feuerball, eine dunkle Wolke. Als die Nachricht hereinkam, dass auch das Pentagon von einem Flugzeug getroffen worden war, fühlte sich Gilligan endgültig so, als befände er sich in einem schlechten Film. Und niemand wusste, wer eigentlich gerade das Land regierte. Der Präsident schien verschollen zu sein.

Gegen 11 Uhr stellte sich zumindest heraus, wo der Vizepräsident steckte. Harold H. Burton hatte sich in einem Bunker unter dem Weißen Haus verbarrikadiert und erteilte von dort aus Befehle. Und er wusste bereits, wer hinter dem Anschlag steckte: ein gewisser Osama Bin Laden. Ein islamischer Terrorist, der Amerika hasste und auch den ersten Anschlag auf das World Trade Center verübt hatte.

Beim Namen »Bin Laden« spürte Gilligan ein Ziehen in seinem Inneren. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor. Sehr bekannt. Und zwar nicht im Zusammenhang mit Terrorismus, sondern mit etwas viel Näherliegendem. Bloß was?

Der Präsident lächelte, breit und ein bisschen zu selbstgefällig. Für diese Zweitklässler in Florida war er ein Held. Immerhin konnte er besser lesen als die. Zwanzig kleine Jungen und Mädchen saßen aufgereiht da und guckten ihn erwartungsvoll an. Und er las vor. Die Kleine Ziege. Das Buch, aus dem ihm seine Mutter vorgelesen hatte, als er selbst im Alter dieser Kinder war.

Er liebte die Geschichte von der kleinen Ziege, die sich in den Bergen verirrt hatte. Nun saß sie ganz allein in einer Höhle, wusste nicht, wo sie war, und meckerte um Hilfe. So ein dummes Tier.

Ein kleines rothaariges Mädchen in der ersten Reihe strahlte aufgeregt. Er warf ihr einen herablassenden Blick zu. Nachher würde er mit den Jungs des Secret Service vielleicht noch ein Bier trinken gehen. Oder zwei. Oder drei. Nach Washington kam er früh genug zurück. Sogar das Dinner mit seinem blasierten Bruder hatte er gestern auch gut überstanden. War er überhaupt schon auf Sendung?

Der Präsident sah sich suchend um. Ja, da war eine Kamera. Er grinste. Klar war er auf Sendung, er war immerhin der Präsident. Er grinste noch einmal direkt in die Kamera. Hoffentlich lief sie auch wirklich. Allerdings würde dann womöglich sein Bruder zusehen und später, bei einer dieser langweiligen Barbecue-Partys ihrer Eltern, sarkastische Bemerkungen machen. Aus dem Augenwinkel heraus nahm er wahr, dass einer seiner Stabsoffiziere zur Tür hereinkam. Der Mann sah besorgt aus. Was wollte der jetzt bloß? Der Stabsoffizier beugte sich zu ihm herunter. »Mister President«, flüsterte er ihm ins Ohr, »ein Flugzeug ist gerade in das World Trade Center geflogen. Eine Passagiermaschine.«

Das musste ein verdammt schlechter Pilot gewesen sein. Warum erzählt der mir das? Ich bin doch kein Kontrollturm, dachte der Präsident. Ich lese jetzt Die Kleine Ziege. Er starrte die Buchstaben an, merkte dann, dass er das Buch aus irgendeinem Grund verkehrt herum hielt, und drehte es um.

Mitten in der Geschichte kam der Stabsoffizier erneut herein. »Ein zweites Flugzeug ist in das World Trade Center geflogen«, flüsterte er ihm nun schon etwas lauter ins Ohr. »Sie müssen eine Rede an die Nation halten.«

»Erst«, sagte der Präsident tadelnd, »lese ich in Ruhe fertig.« Und das tat er dann auch.

Danach ging alles ganz schnell. In wenigen Minuten wurde er an Bord der Air Force One geschafft, die mit laufendem Motor auf einem nahen Flugfeld gewartet hatte. Wenige Minuten später hob die Maschine ab. »Warum musste ich denn unbedingt aus Florida weg?«, fragte der Präsident, während sie schon über Disney World flogen.

»Wir handeln auf Befehl ihrer Beraterin, Miss Oil«, sagte einer der Secret-Service-Männer. »Sie hat gerade angerufen. Es gab Drohungen, dass die Terroristen auch Sie im Visier haben. Und die Air Force One.«

»Sie waren eine halbe Stunde live auf Sendung«, erläuterte ein anderer Secret-Service-Agent. »Jeder Terrorist wusste, wo Sie waren, und hätte Sie attackieren können.«

Ob es dann so eine gute Idee war, mit genau dieser Maschine wie auf dem Präsentierteller herumzujetten? Der Präsident war dumm, aber ganz sicher nicht blöd. »Und wohin bringen Sie mich jetzt?«, fragte er.

»An einen geheimen Ort, Mister President«, sagte der erste Secret-Service-Mann. »An einen Ort, der so geheim ist, dass nicht einmal Sie ihn kennen. Aber dafür ist er vollkommen sicher.«

Es dauerte fast drei Stunden, bis sich die Tragflächen der Air Force One wieder senkten. Der Präsident blickte durch das Bullauge. Unter ihm lag ein riesiges abgezäuntes Gelände. Offensichtlich militärisches Sperrgebiet. Ein gutes Dutzend Flugzeughangars und eine turmhohe Antenne, die sich nach oben weitete wie ein Trichter. Eine weiße Fläche, vermutlich ein Salzsee. Neben dem Salzsee erstreckte sich eine geteerte Bahn, auf der die Air Force One zur Landung ansetzte.

Ein Bataillon von Soldaten, Offizieren und Zivilisten, die aussahen wie verkleidete Soldaten, empfing den Präsidenten, als er auf das Rollfeld taumelte und in die Sonne blinzelte. »Willkommen auf der Airbase Groom Lake, Mister President«, sagte ein Offizier mit drei Sternen an den Schultern. Bestimmt ein General, dachte der Präsident und starrte den vermeintlichen General verständnislos an. Wo war er? »Auf der Area 51«, erläuterte der General.

»Wow!«, entfuhr es dem Präsidenten. Seine Stimmung fing an, sich aufzuhellen. »Es gibt wirklich eine Area 51?«

»Ja, aber das ist Top Secret«, sagte der General. Er hielt nichts davon, Präsidenten in militärische Geheimnisse einzuweihen. Irgendwann würden sie abgewählt und schrieben ihre Memoiren. Und dann wussten sie zu viel. Nicht alle verbrachten ihre Zeit im Weißen Haus damit, sich von Praktikantinnen einen blasen zu lassen.

Der Präsident strahlte wie ein großes Kind. »Kann ich die UFOs sehen? Wo sind die versteckt?«

Der General schüttelte den Kopf, blickte nun aber schon etwas milder drein. Mit diesem Präsidenten würde es später keine Probleme geben. »Da muss ich Sie leider enttäuschen«, erklärte er. »Es gibt keine UFOs. Jedenfalls nicht hier. Aber Sie sind nicht der erste Präsident, der danach fragt. Eisenhower wollte das auch schon wissen.« Und dann fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu: »Nun kommen Sie schon. Miss Oil hat eine Rede an die Nation vorbereitet, die Sie vorlesen sollen. Irgendwas mit Freiheit, großartige Nation, Blut, Schweiß und Tränen, Rache, tot oder lebendig und so weiter.«

Mit diesen Worten nahm der General den Präsidenten am Ellbogen und führte ihn zu dem großen Hangar. Zwei Secret-Service-Agenten folgten ihnen. Der Präsident staunte. »Gibt es denn hier die technische Ausrüstung für eine Fernsehübertragung?«, fragte er.

Der General nickte. »Und ob«, antwortete er. »Und Sie können sich sogar unter verschiedenen Hintergrundbildern ein passendes aussuchen.«

»Haben Sie etwas mit UFOs drauf?« Der Präsident gab nicht auf. »Damit könnten wir doch signalisieren, dass wir gegen alles gerüstet sind?«

Der General runzelte die Stirn, antwortete aber nicht. Er winkte dem Präsidenten und den beiden Secret-Service-Agenten zu, damit sie ihm in einen der Hangars folgten. Darin stand ein futuristischer Bomber, der mehr einer Rakete ähnelte als einem Flugzeug und der so schwarz war, dass er alles Licht zu verschlucken schien. Daneben war ein weißes Schiff aufgebockt, das wie ein Raumschiff aussah. Oberhalb des gebogenen Rumpfes befand sich ein runder Aufsatz, der einer überdimensionierten, beleuchteten Untertasse ähnelte. Am Bug waren zwei Antriebsdüsen montiert. Der Präsident blieb stehen und starrte das Raumschiff fasziniert an.

»Kommen Sie«, sagte der General ungeduldig. »Das ist bloß eine Attrappe.« Im Boden des Hangars war eine Falltür eingelassen. Der General wies einen der Wachleute an, sie anzuheben. Sie alle bestiegen eine eiserne Leiter, die tief in den Unterbauch des Hangars bis zu einer Lobby mit Aufzügen führte. Sie traten in einen der Aufzüge, der sie in minutenlanger Fahrt noch tiefer in den Keller brachte. Ganz unten angekommen, betraten sie einen unglaublich langen, weißgekalkten Gang mit unendlich vielen Türen, die alle gleich aussahen. Als sich der General umdrehte, um mit einem der Secret-Service-Agenten zu reden, nutzte der Präsident die Gelegenheit, um eine der Türen zu öffnen. Immerhin war er der Präsident. Hinter der Tür befand sich eine karge graue Höhlenlandschaft, die im Hintergrund in sehr hohe Berge mit ein paar weißen Gletschern überging. Der Hintergrund war gemalt. Eine Ziege meckerte vom Band.

Noch während der Präsident die künstliche Landschaft bestaunte, zog ihn der General wieder von der Tür weg. Ein wenig ruppiger, als angebracht gewesen wäre. Dann bugsierte er ihn zur übernächsten Tür und öffnete sie. Dahinter lag eine Landschaft, die schon auf den ersten Blick vollkommen kalt und still wirkte. Eine weiße, kraterähnliche Oberfläche mit zackigen, abgebrochenen Felsen und feinem Staub, der wie in Zeitlupe durch den luftleeren Raum schwebte. Eine Mondlandschaft, über der sich ein dunkler Sternenhimmel wölbte. Ganz oben am Sternenhimmel leuchtete die Erde. Eine blau schimmernde Kugel, wundervoll anzusehen. »Verdammt«, fluchte der General, stieß hastig die Tür zu und zerrte den Präsidenten zur nächsten Tür.

Hier sah es so aus wie in Franklin D. Roosevelts Arbeitszimmer um 1942, nur die Bilder und der Kalender waren auf modernen Stand gebracht worden. Ein massiver Schreibtisch aus Teakholz. Darauf eine kleine amerikanische Flagge mit einem Sockel aus Marmor. Daneben die Flaggen von New York, West Virginia und Maryland. Eine altmodische Schreibgarnitur, ebenfalls aus Marmor. Ein paar dicke Wälzer mit unlesbaren Titeln, die eindrucksvoll neben einer hölzernen Standuhr drapiert waren. Ein altes, cremefarbenes Telefon mit Wählscheibe. Ein silberner Bilderrahmen mit den Fotos der First Lady und den Zwillingen. An der Wand eine Weltkarte (mit Australien zwischen dem Kap Horn und dem Kap der Guten Hoffnung) sowie ein paar Urkunden aus schwerem, cremefarbenem Papier. In der Ecke stand ein Fernseher. Er zeigte das aktuelle Programm von CNN. In Farbe.

Das World Trade Center bestand nur noch aus zwei rauchenden Stümpfen, die bereits in sich zusammengesackt und in der gewaltigen Rauchwolke kaum noch zu erkennen waren. Sirenen heulten. Dann ein Schnitt in den Mittleren Osten, nach Ramallah: Eine Gruppe palästinensischer Kinder hopste fröhlich um eine halb verschleierte Frau herum. Sie freuten sich sichtlich. Eine Stimme aus dem Off erklärte in vorwurfsvollem Ton, die Palästinenser feierten, dass der »Große Satan« von Allah bestraft worden sei. Schnitt auf Lucius Prince, der dem CNN-Reporter erklärte, wie betroffen ihn dieser offen gezeigte Hass mache.

Der Präsident setzte sich hinter den Schreibtisch, in den ledernen Drehstuhl, während eine Videokamera hereingefahren wurde. Dann reichte der General dem Präsidenten ein Manuskript. Orinoko Oil hatte die Rede in extra großen Buchstaben geschrieben und rasch gefaxt. Der Präsident räusperte sich. »Der Freitag – äh – die Freiheit selbst ist an diesem Morgen von einem Feigling ohne Gesicht angegriffen worden«, fing er an.

Kaum war die Aufzeichnung vorbei – der letzte Satz war von ihm selbst spontan hinzugefügt worden: »Wir kriegen die Leutchen, die das getan haben, garantiert!« –, klingelte das cremefarbene Telefon auf dem Teakholzschreibtisch. Der Präsident starrte es verwundert an. Das war also echt? Bevor er irgendetwas tun konnte, hatte der General sich schon den Hörer geschnappt. Er lauschte für ein paar Minuten, dann legte er auf.

»Das war Miss Oil«, erklärte er dem Präsidenten. »Wir müssen hier weg und zu einer anderen Airbase. Das Pentagon fürchtet, dass das Fernsehsignal zurückverfolgt werden kann. Und dann wären Sie in Gefahr.«

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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2 Kommentare

  1. George W. Bush ist nicht dumm. Wenn man sich mal anschaut, was er die letzten Jahre so getan hat, erkennt man sehr deutlich, dass ihn Schuldgefühle zerfressen. Er umgibt sich mit invaliden Veteranen von den Kriegen, die er zu verantworten hatte. Heutzutage malt er „Kunst“ und die Gewinne gehen auch an Veteranen. Er hat also immerhin ein Gewissen, im krassen Gegensatz zu den Leuten, die ihn „installierten“ mithilfe seines Vaters.

    Sein freudscher Versprecher zur Ukraine ist ein wirklich echter freudscher Versprecher. Da weiß man nicht, ob das traurig, lustig oder einfach nur daneben ist.

    Den Lebensweg von Danny Patrick Rose finde ich recht interessant. Ich wusste noch gar nicht das Kekse auch Pflanzen sind.
    Sein Schreibstil lässt sich echt gut lesen und es ist äußerst unterhaltsam.

    1. „bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte“ – das ist sogar ziemlich einfach: Kakteen haben Stacheln und in Kekse kann man Löcher spießen. Man muss dann nur eine Weile auf das Ergebnis warten. So wie die Katze auf ihr viertes Bein.
      The Onion ein Politfachblatt … t-online ein Portal für gutes Benehmen.

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