Die Verschwörung, Folge 25 — Cohibas

WTC
Bild: privat

Als Powder zum zweiten Mal aus einer Ohnmacht erwacht, ist er auf Kuba. Und er trifft dort auf eine illustre Gesellschaft, die sich vorgenommen hat, Amerika zu befreien. Gemeinsam treten nun die Guten, die so lange gekämpft haben, an, um die Bösen zu besiegen und um all die Verschwörungen, auch die um das World Trade Center, aufzudecken. Mehr soll hier nicht verraten werden.

 

Wahrscheinlich habe ich sieben Leben, dachte Tom Powder. So wie die sprichwörtliche Katze, die den Sturz vom Dach überlebt. Er saß, eine Decke um seine Beine gehüllt, auf einem mit einem Laken ausgeschlagenen Bett, das in einem Zimmer mit hohen Stuckdecken und marmornen Balustraden stand. Sein linker Arm tat weh. Ziemlich weh. Er hatte ihn sich bei der Bruchlandung aufgeschrammt, an die er sich ansonsten nur noch vage erinnerte. Außerdem fühlte er Stiche in seiner Brust, sobald er etwas tiefer einatmete. Er habe eine Rippenprellung, hatten die Ärzte ihm erklärt. Sein rechtes Bein fühlte sich an, als ob es brannte. Und er war sich nicht sicher, ob er schmerzfrei mit beiden Füßen würde auftreten können. Aber ansonsten fehlte ihm nichts. Neben ihm schlief Linda. Sie hatte ein bisschen mehr abbekommen. Ihr Kopf und ihre Schulter waren bandagiert und ihr rechter Arm lag in einer Schlinge. Zärtlich streichelte er ihre Stirn.

»Ich sehe, Herr Außenminister«, sagte ein dunkelhaariger, vollbärtiger Mann, der im Türrahmen erschien. »Sie haben sich bereits erholt. Nun wüsste ich gerne, warum Ihr Flugzeug im Sturzflug ausgerechnet auf unserer Insel notgelandet ist.« Der Mann sprach ein sonores, leicht gebrochenes Englisch mit spanischem Akzent. Der Mann war Fidel Castro.

Powder schluckte und räusperte sich. Noch war er ziemlich verwirrt. »Ich danke Ihnen für unsere Rettung, Comandante«, sagte er. »Es gibt tatsächlich viel zu erklären. Den USA und damit der ganzen Welt droht höchste Gefahr. Sie müssen uns helfen. Sie sind unsere letzte Hoffnung.«

Fidel Castro lächelte den unfreiwilligen Gast durch seinen langen dunklen Bart an. »Ich weiß«, sagte er. »Sie sind nicht der Einzige, der mich um Hilfe bittet. Kommen Sie mit!«

Vor dem Fenster von Fidels Präsidentenpalast, der Powder und Linda Asyl bot, erstreckte sich die pittoreske Altstadt von Havanna. Doch es war keine Zeit, die Aussicht zu bewundern. Der Comandante begleitete Powder die Treppe hinunter zu einer stählernen Tür tief im Keller. Er schloss die Tür auf. Dahinter befand sich eine weitere Tür, die ebenfalls aus Stahl war. Das Bild, das sich dem ehemaligen Außenminister dort bot, überraschte allerdings sogar ihn.

Hinter dem schwer gesicherten Eingang verbarg sich ein Konferenzsaal mit einem Großbildschirm und einer kubanischen Flagge an der Stirnseite. In der Mitte stand ein langer hölzerner Tisch. Um den Tisch herum saßen ein paar Dutzend Menschen, die Powder ernst und erwartungsvoll ansahen. Fidels Bruder Raoul war darunter sowie einige weitere Vertraute von El Comandante. Viel erstaunter war Powder jedoch über die vielen Gesichter, die nicht aus Kuba kamen. Der französische Außenminister. Der Chef der Notenbank von China. Zwei irische und drei italienische Oppositionspolitiker. Ein deutscher Filmemacher. Muammar Gaddafi. Kronprinz Abdullah, der offensichtlich noch am Leben war. Mehrere hochrangige Demokraten aus Florida, Kalifornien, Vermont und Oregon. Jesse Ventura, Michael Moore, Oliver Stone, der Sohn von Ronald Reagan und dieser hibbelige Fernsehkomiker von der Daily Show. Tim Robbins, Charlton Heston, Barbra Streisand und die Frau von Arnold Schwarzenegger. Der geschasste Chef des FSB, der seinen Posten für Lucius Prince hatte räumen müssen. Der Botschafter des Vatikans bei der UNO. Der spanische Verteidigungsminister. Ein Mann, der den Turban der Sikhs trug, und eine Frau vom ANC, die Powder aus Südafrika kannte. Vier Regierungschefs aus Südamerika, darunter die Präsidenten von Mexiko und Venezuela. Der geschasste CIA-Direktor, der ausnahmsweise nüchtern wirkte. Und ein General der U. S. Army, der vor ein paar Monaten unter rätselhaften Umständen zurückgetreten war. »Willkommen, mein lieber Tom«, sagte der französische Außenminister und grinste ein wenig anzüglich. »Endlich ist jemand von der amerikanischen Regierung gekommen.«

Powder verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen. Ihm tat noch immer alles weh.

»Hier ist der Plan«, erläuterte der französische Außenminister, nachdem Powder sich gesetzt hatte. »Eine internationale Brigade unter Ihrer Führung« – er nickte dem ehemaligen General zu – wird sich um Guantanamo Bay zusammenziehen, auf Befehl das Lager stürmen, die US-Soldaten festsetzen und alle Gefangenen befreien. Wir wissen übrigens, dass dort auch Amerikaner eingesperrt sind. Zusammen mit einer französischen Geheimagentin.«

»Woher wissen Sie das denn?«, fragte Powder erstaunt.

»Wir haben einen informellen Mitarbeiter in der Area 51«, erläuterte der ehemalige CIA-Direktor. »Dieser Mitarbeiter hat uns berichtet, dass diese Agentin zusammen mit zwei Amerikanern in der Area war und von dort nach Guantanamo geschickt wurde.«

»Natürlich«, meldete sich der französische Außenminister wieder zu Wort, »wird sich unsere Truppe nicht lange gegen die geballte Macht der U. S. Army widersetzen können, sobald erst einmal Verstärkung vom Festland geschickt wurde. Aber das wird nicht so schnell möglich sein. Der größte Teil der Army ist nämlich im Mittleren Osten stationiert und die restlichen Bataillone belagern St. Petersburg auf Flugzeugträgern in der Ostsee. Wir müssen lediglich Zeit gewinnen.«

Der ältere der beiden irischen Oppositionsführer, dessen Name Powder entfallen war, räusperte sich. »Wir haben bereits mit Hilfe der BBC eine Kette von leistungsstarken Fernsehmasten rund um die Küste der USA installiert«, sagte er. »Gleich nach der Befreiung werden wir das amerikanische Volk wissen lassen, was ihre Regierung in Washington wirklich im Schilde führt.«

»Und Sie, Tom«, schloss der französische Außenminister, »werden im Fernsehen als Kronzeuge auftreten. In den USA wird nämlich behauptet, Sie seien tot.«

 

Der Angriff der internationalen Brigaden geschah am übernächsten Tag im Morgengrauen. Er kam für die GIs in Guantanamo Bay völlig überraschend. Es floss kaum Blut. Einer Fallschirmtruppe der Franzosen gelang es sogar, den Kurzwellensender auf der Militärbase zu zerstören, noch bevor die GIs Hilfe herbeirufen konnten. Nach wenigen Stunden war Guantanamo Bay zum ersten Mal in seiner Geschichte in kubanischer Hand.

Fidel Castro an seiner Seite, sah sich Powder staunend um, als ihm die befreiten Menschen aus den Käfigen entgegentaumelten. Woher kamen all diese Frauen, die so amerikanisch aussahen? »Herr Außenminister?«, flüsterte eine schlanke, blonde Frau in der orangenen Uniform, die alle hier trugen. Powder hatte das Gefühl, sie vor langer Zeit schon einmal irgendwo im Fernsehen gesehen zu haben. »Ich bin so froh, dass Sie da sind. Seit unser Flug mitten in der Luft von unsichtbarer Hand entführt wurde, lebe ich in Angst und Schrecken. Ohne Claudette wäre ich bereits tot.«

Neben der Blondine stand eine dunkelhaarige Frau mit langen Beinen, einem Pagenschnitt und einer seltsamen Tätowierung. Es war eine rote Schlange, deren Kopf sich in einen Pfeil verwandelte. Sie lächelte und drehte sich zu Powder um. »Ich bin Sharona Eins«, sagte sie.

Bevor Powder etwas erwidern konnte, stürzten zwei Männer auf sie zu. Einer von ihnen kam dem Außenminister vage bekannt vor. War das nicht dieser Journalist aus Washington, der vor ein paar Monaten urplötzlich verschwunden war? Der Journalist umarmte die dunkelhaarige Frau und drückte sie heftig an sich. »Claudette«, sagte er. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen.«

»Ich auch«, flüsterte sie und hielt sich an ihm fest. Zum ersten Mal, seit sie gefangen genommen worden war, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Der andere, jüngere Mann mit langen braunen Haaren stand ein wenig verlegen daneben, bis Claudette ihre Arme ausstreckte und ihn ebenfalls umarmte.

Dann drehte sie sich erneut zu Powder um. »Es gibt noch jemanden, den wir befreien müssen«, sagte sie. »Irgendwo hier ist ein Trakt für Langzeitgefangene. Ich glaube, in dieser Richtung.« Sie wies nach Nordwesten.

Nachdem er die überlebenden Passagiere zweier Flüge gesehen hatte, die doch eigentlich vor zwei Jahren abgestützt waren, glaubte Powder, ihn könne nichts mehr überraschen. Doch er irrte sich. Der Mann, der ihnen aus dem schwer gesicherten Zellentrakt entgegentaumelte, blinzelte unsicher in die Sonne. Auf den ersten Blick sah er recht normal aus, war mittelgroß, stämmig, trug olivgrüne Tarnkleidung und hatte schlohweiße Haare. Er musste mindestens siebzig Jahre alt sein. Aber seine Aura verriet, dass er kein gewöhnlicher Gefangener war.

»Hallo«, sagte der Mann und lächelte Claudette an. »Sind Sie die Dame, die mich mit den Klopfzeichen aufgemuntert hat?« Dann wandte er sich an Powder. »Mein Name ist Ernesto«, sagte er. »Ernesto Che Guevara. Ich hätte nie gedacht, dass ich Kuba noch einmal als freier Mann betrete. Und wer sind Sie?«

In Havanna herrschte Hochspannung. Auf allen Straßen der kubanischen Hauptstadt patrouillierten Soldaten. Ein herannahender tropischer Wirbelsturm verdüsterte den Horizont. Und der staatliche kubanische Fernsehsender kündigte eine wichtige Übertragung an.

In Castros Präsidentenpalast, tief unten im Konferenzsaal, hatte sich die gleiche internationale Truppe versammelt, die bereits die Befreiung von Guantanamo Bay geplant hatte. Alle waren nervös, auch wenn keiner es zugeben wollte. Der französische Außenminister sah aus, als wolle er am liebsten an seinen Fingernägeln kauen. Der Botschafter des Vatikans betete einen Rosenkranz nach dem anderen. Ebenso wie Kronprinz Abdullah. Der ehemalige CIA-Chef tastete unauffällig nach dem Flachmann, den er sicherheitshalber in die Jackentasche gesteckt hatte. Und Tom Powder saß an einem Pult und bereitete sich innerlich auf die bevorstehende Fernsehübertragung vor. Rechts neben ihm saß Linda. Und links neben ihm die befreite blonde Fernsehmoderatorin.

Auf dem großen Bildschirm am Stirnende des Konferenzsaals lief FUC, der einzige Nachrichtensender, der in den USA noch zugelassen war. Dort wurde nichts über den Kampf in Kuba berichtet, aber die US-Regierung musste mittlerweile Bescheid wissen. Es war vermutlich nur noch eine Frage von Tagen, wenn nicht von Stunden, bis die Marines in der Schweinebucht landeten. FUC zeigte gerade Werbung für eine Autoversicherung – »Fünfzehn Minuten sparen Ihnen fünfzehn Prozent oder mehr« – und dann kam Joe Brisbane ins Bild. Powder war aufgeregt. Auch Jason, Claudette und Manuel, die mit den Passagieren des Fluges 77 weiter hinten standen, starrten den FUC-Senderchef gespannt an.

»Meine lieben amerikanischen Freunde«, fing Brisbane an. »Im ständigen Bemühen, Sicherheit vor den Terroristen zu gewährleisten, haben wir ein neues Gesetz verfügt. Demnach ist jeder Amerikaner, der über eine Schusswaffe verfügt, verpflichtet, diese bei den dafür eigens eingerichteten Regierungsstellen abzuliefern. Ich wiederhole: Jeder Amerikaner ist ausnahmslos dazu verpflichtet, seine Waffen und seine gesamte Munition …«

»Das wäre ein guter Moment, um etwas zu sagen«, bemerkte Manuel zu Powder.

Der BBC-Techniker drückte auf einen Knopf. Schlagartig verzerrte sich Brisbanes Gesicht und das Abbild des FUC-Senderchefs verschwand vom Bildschirm. Einige Sekunden war lediglich graues Rauschen zu sehen, dann war Tom Powder im Bild. Auf sämtlichen Bildschirmen der USA. Hoffentlich.

»Bürger Amerikas!«, rief Powder. »Wir rufen Sie auf in dieser Zeit höchster Gefahr, im Geiste unserer Gründungsväter Widerstand gegen die Regierung in Washington zu leisten. Diese Leute sind dabei, die USA in eine faschistische Diktatur zu verwandeln. Sie beabsichtigen nicht, jemals wieder freie Wahlen zuzulassen oder ihre Macht freiwillig abzugeben. Sie lügen und sie betrügen. In Wirklichkeit sterben unsere Soldaten im Irak, um die Kassen von Ölkonzernen wie Oilocal zu füllen. Alles, was Sie über Massenvernichtungswaffen gelesen oder gehört haben, wurde gefälscht. Und diese Verbrecher im Weißen Haus schrecken vor nichts zurück. Sie haben den Präsidenten und den Vizepräsidenten ermorden lassen. Sie haben dreitausend Menschen aus dem World Trade Center auf dem Gewissen und dreihundert Feuerwehrmänner. Und sie haben sogar amerikanische Bürger interniert – Bürger, die angeblich Flugzeugentführern zum Opfer gefallen sind.«

Dann schwenkte die BBC-Kamera auf die blonde Moderatorin. Sie trug inzwischen eines der Kostüme, in dem ihre Fernsehzuschauer sie kannten, hatte sich geduscht und die Haare hochgesteckt. Trotzdem sah man ihr die Strapazen der letzten Monate an. »Amerikaner, traut diesen Leuten nicht!«, rief sie. »Wehrt euch! Ich saß in dem Flugzeug, das angeblich von Terroristen ins Pentagon gesteuert wurde. Das ist eine Lüge! Das Flugzeug wurde mittels amerikanischer Fernsteuerungstechnik entführt und in die Area 51 gebracht. Alle Passagiere leben noch! Helft uns, weiterzuleben!«

Als Nächstes schwenkte die Kamera auf Linda. »Liebe amerikanische Mitbürger, wehrt euch gegen die Verbrecher im Weißen Haus!«, rief sie ungewohnt laut. »Dewey Drillson, Albert Rave und Benito Giovanni haben meinen Mann ermordet. Sogar mein Schwiegervater und seine neue Ehefrau waren an diesem Komplott beteiligt. Lassen Sie nicht zu, dass die USA in einen Polizeistaat verwandelt werden!«

Dann folgte ein Schnitt auf Charlton Heston, der am zerstörten Zaun von Guantanamo Bay stand. »Aus meinen toten, kalten Händen sollen Sie meine Waffe winden!«, rief er, eine Winchester schwenkend. Nach diesen Worten setzte ein Zusammenschnitt aller Nachrichten von BBC World ein, die in den letzten Monaten außerhalb der USA zu sehen waren.

Die BBC schaffte es genau zwölf Minuten lang, das Störsignal zu senden. Dann rauschte es auf den Bildschirmen, und Sekunden später war Joe Brisbane wieder im Bild. Er sah leichenblass aus. »Meine Damen und Herren«, fing er an. »Bitte entschuldigen Sie diese Störung. Wir glauben, dass Außerirdische für diese Desinformationskampagne verantwortlich …« Schlagartig wurde der Bildschirm dunkel. Und das blieb er vorerst auch.

Historiker, die diese Zeitperiode später analysierten, waren sich uneins darüber, was den Aufstand gegen Washington letztlich ausgelöst hatte. Manche glaubten, dass viele Amerikaner eine starke Affinität zu ihrem Außenminister hatten. Andere vermuteten wiederum, dass der Fernsehauftritt der First Lady den Ausschlag gegeben hatte, da sie sehr beliebt gewesen sei. Kommunikationswissenschaftler rühmten die BBC, die es verstanden habe, in wenigen Minuten die tatsächliche Lage zusammenzufassen, während Pragmatiker daran erinnerten, dass die Regierung kurz zuvor verfügt hatte, alle Waffen abzugeben. Dies habe die republikanisch-konservative Wählerschaft gegen Washington aufgebracht. Tatsächlich seien, als der Aufstand losbrach, bereits tausende von empörten Amerikanern, vor allem aus dem Mittelwesten, dabei gewesen, sich gen Washington auf den Weg zu machen. Revisionisten vertraten die Ansicht, dass die Waffenlieferungen des französischen Geheimdienstes eine wichtige Rolle gespielt hätten. Dagegen wurde eingewandt, dass es in den USA sowieso keinen Mangel an Waffen gegeben habe.

Einig waren sich aber alle Historiker, dass diese zweite amerikanische Revolution das Land ergriff wie ein Lauffeuer. Als sich die Sicherheitskräfte weigerten, das Weiße Haus zu verteidigen, war das Schicksal von Drillson, Giovanni, Rave, Wilbur und Orinoko besiegelt. Sie wurden an die Wand des Lincoln Memorials gestellt und von wütenden Waffennarren erschossen, an deren Spitze die Brüder Tony und Tim Natchez aus Rachel, Nevada, standen.

Doktor Henry Wolfstetter hatte sich derweil nach Israel abgesetzt, während Lucius Prince das Massaker in Moskau überlebt hatte und im Jahr 2025 Wladimir Putin ablösen sollte.

Auch Joe Brisbane hatte in allerletzter Sekunde einen Flug nach Australien erwischt. Dort hatte sich allerdings herausgestellt, dass sich sein Boss mit der Übernahme von Time Warner ein wenig übernommen hatte. Er war auf den Schulden sitzengeblieben, die rund dreihundert Milliarden Dollar betrugen, und musste Konkurs anmelden. Dies sollte Brisbanes weiterer Karriere allerdings nicht schaden. Er heuerte als Informationsminister für den saudischen Herrscher Khalid Ibn Sultan an. Dessen erste diplomatische Kontaktaufnahme mit der neuen amerikanischen Regierung bestand darin, sie zur Beerdigung von Kronprinz Abdullah einzuladen. Che Guevara, der amerikanische Interimspräsident, musste leider absagen. Er sei zu sehr damit beschäftigt, den Wahlkampf vorzubereiten.

»Und hier finden wir nun die Lösung?« fragte Manuel staunend. Er stand neben Jason Gilligan und sah sich um. Diese verstaubten Regalreihen voller Papier waren nichts für ihn. Warum machte sich niemand die Mühe, das Archiv zu digitalisieren?

»Ich hoffe«, sagte Jason und fühlte in seiner Tasche den Schlüssel, den ihm Außenminister Tom Powder gegeben hatte. »Ich bin auch zum ersten Mal hier.« Mit der Regierung Che Guevara, die alle Gesetze der letzten Monate abgeschafft hatte, herrschte in Washington eine völlig neue, offene Atmosphäre. Offen genug, dass Jason, Manuel und Claudette einfach so in das CIA-Archiv in Langley gehen und streng geheime Akten durchstöbern konnten. Vermutlich war es nur eine Frage von Wochen, bis irgendein Bürokrat dem Ganzen wieder einen Riegel vorschob, aber die Zeit wollten sie nutzen.

Die graue Tür mit der Aufschrift »Galerie III« sah genau so aus, wie Powder es ihnen beschrieben hatte. Dahinter standen noch immer die Kartons. »Gott sei Dank«, sagte Claudette. »Ich hatte schon befürchtet, Dewey und die anderen hätten hier aufgeräumt.«

Jason nickte erleichtert. »Offenbar haben sie sich zu sicher gefühlt«, sagte er. »Jetzt, wo sie tot sind, kann es Ihnen ja egal sein.«

Als Jason nach dem Karton mit der Aufschrift »World Trade Center« griff, zitterte seine Hand. Wie viele Menschen hatten für diesen Irrsinn sterben müssen? Dann gab er sich einen Ruck und öffnete den Karton. »Gutachten« stand auf dem obersten Ordner.

Es war Sprengstoff gewesen. Das World Trade Center war von oben bis unten mit Sprengstoff versehen gewesen und ein Knopfdruck hatte die Twin Towers zusammenstürzen lassen wie ein Kartenhaus. Die Sprengung wurde vom Gebäude World Trade Center 7 vorgenommen. Dieses Hochhaus brannte am späteren Nachmittag langsam ab, was alle Spuren vernichtet hatte. In World Trade Center 7 befanden sich auch die New Yorker Zentrale der CIA, die Börsenaufsicht sowie der Kontrollraum des Bürgermeisters. Es war Benito Giovanni gewesen, der den Knopf zur Sprengung gedrückt hatte. Am 11. September, um 11 Uhr.

Als Nächstes hatte Drillson veranlasst, dass die stählernen Überreste des World Trade Centers nach Pakistan geschafft und in ein Lager mit hohen Sicherheitszäunen verfrachtet wurden. Denn die chemischen Spuren der Sprengung wären an dem Stahl nachzuweisen gewesen. Den Stahl von Pakistan aus in der Irak zu schicken, war ebenfalls Drillsons Idee gewesen. Er wollte die Überreste in einem der Präsidentenpaläste Saddam Husseins unterbringen und diesen beim Einmarsch so gründlich bombardieren lassen, dass nichts mehr davon übrigblieb.

Leider kam ihm in Pakistan dieser Journalist in die Quere, der herausfand, was sich in dem Lager befand. Um ihn hatte sich Orinoko Oil gekümmert. Auch um den allzu neugierigen FBI-Mann, der unbedingt in Sachen World Trade Center ermitteln wollte, sowie um die Biochemikerin und den Senator aus Minnesota. Für das Anthrax war Orinoko Oil ebenfalls verantwortlich. Nur der tote Wissenschaftler ging auf das Konto des MI5. Der Totenkopfbund hatte auch Mitglieder in Großbritannien. Die entsprechende Namensliste fand sich ebenfalls im Regal. Darauf stand auch der Name des geheimen Vorsitzenden. Es war Wilbur.

»Jesus!«, rief Manuel. »Aber die Flugzeuge … Ich habe die Flugzeuge doch selbst ins World Trade Center fliegen sehen …«

Claudette nickte. »Lies weiter«, sagte Jason.

Die Flugzeuge waren die perfekte Tarnung gewesen, wenngleich unfreiwillig. Harry Burton hatte die gleiche Idee gehabt wie der Totenkopfbund: Ein »katastrophales und katalysierendes Ereignis – ein neues Pearl Harbor« sollte den Grund für einen Eroberungsfeldzug im Mittleren Osten liefern, der die Ölquellen sichern sollte. Es war Burton, der die Attentäter angestiftet und bezahlt hatte und sie im Glauben ließ, es gehe um eine Flugzeugentführung. Giovanni wiederum, der vom World Trade Center 7 aus die Fernsteuerung der schwarzen Drohne manipuliert hatte, war es gelungen, die entführten Maschinen ins World Trade Center rasen zu lassen. Das hatte Burton daraufhin mehr als überrascht. Besonders die Tatsache, dass nach den Crashs der gesamte Gebäudekomplex zusammenstürzte.

Noch ärgerlicher fand Burton allerdings, dass die Rakete, die er aufs Pentagon hatte abschießen lassen, nicht Drillsons Büro getroffen hatte.

Manuel bibberte. »Kommt, lass uns gehen«, sagte er zu Jason und Claudette. Er nahm den Karton an sich und stand auf. Jason nickte. Den Arm um Claudette gelegt, verließ er das CIA-Hauptquartier. Ein langer Albtraum war vorbei.

Erst in der Sonne beruhigte sich Manuel wieder. »Und nun?«, fragte er Jason. »Schreibst du etwas darüber?«

»Ich denke nicht«, antwortete er. »Ich bin jetzt Chefredakteur der Zeitung und habe jede Menge Organisationskram am Hals. Aber wie wäre es, wenn du darüber schreibst? Du kannst bei unserer Zeitung als Reporter anfangen. Von mir aus sofort. Oder willst du lieber erst deine Doktorarbeit fertigschreiben? Was war noch gleich das Thema?«

»Quasare und schwarze Löcher als Phänotypen der galaktischen … ach, ist doch egal«, sagte Manuel. »Klar fange ich bei dir als Reporter an. Aber heute will ich mich erst mal mit Tony und Tim in einer Bar in Georgetown treffen. Die alten Zeiten und so.«

»Wir nehmen heute auch frei«, sagte Jason. »Besonders gruselig fand ich übrigens, wie sie die Leiche vom alten Bormann im Keller von Drillsons Haus gefunden haben. Der war bereits seit zehn Jahren tot und vollkommen mumifiziert.«

Am Springbrunnen vor den National Archives, in Sichtweite des Regierungsviertels, verabschiedete sich Manuel von Jason und Claudette. Er lächelte, als die beiden Hand in Hand zum Teich spazierten, wo eine Rockband in der Sonne spielte. Sehr ernst schien Jason seine neuen Pflichten als Chefredakteur nicht zu nehmen. Aber nun musste er auch los. Und zwar keineswegs zu Tony und Tim. Manuel lief zur Stadtvilla von Linda und Tom Powder. Allerdings waren die beiden gar nicht zu Hause. Sie waren in die Flitterwochen gefahren. Aber das machte nichts, denn Manuel hatte die Wochen in Washington genutzt, um neue Freunde zu finden. Besser gesagt, neue Freundinnen.

Als Manuel klingelte, wusste er nicht, welche der Zwillingsschwestern ihm die Tür öffnete, aber das Mädchen umschlang ihn so leidenschaftlich, dass er es aufgab, darüber nachzudenken. Er küsste sie auf den Mund und den Hals. Dann tastete sich seine Hand zu ihrer Brust hoch. »Wilma«, flüsterte er.

»Ich bin Betty«, flüsterte sie zurück.

»Da bist du ja endlich«, sagte eine Stimme aus Richtung des Schlafzimmers. »Komm!« Es war Wilma, die ein fast durchsichtiges Hemd trug. Sonst nichts.

Immer noch beide Arme um Betty geschlungen, sah Manuel auf. »Sofort«, antwortete er und lächelte verlegen. »Haltet mich nicht für völlig verrückt, aber ich muss für eine Sekunde meine E-Mails checken. Dann komme ich sofort zu euch ins Schlafzimmer.«

In seiner Inbox war nur eine einzige E-Mail.

»Morgen wird die Bombe fallen«, hieß es in der Nachricht. »Es wird die Mutter aller Bomben sein.«

Sie kam von Niitaka.

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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