Die Verschwörung, Folge 2 — Wie alles anfing

Straßenschild in Washington
Bild: privat

Washington, D. C.. Am 10. September 2001 besucht Hauptstadtreporter Jason Gilligan eine Pressekonferenz im Clubraum der Defiant Foundation, ein Think Tank, der die neue, konservative Regierung berät. Eingeladen haben der etwas zwielichtige Vorsitzende der Foundation, Lucius Prince, sowie Pentagonchef Dewey M. Drillson. Es geht um Aufrüstung. Der Präsident, derweil, bereitet sich auf eine Reise nach Floria vor, während er mit einem Hangover nach ein paar Bieren zu viel kämpft und schlechten Nachrichten von der Familie bekommt. Am Abend entspannt sich Drillson im Moulin Noir mit Luella, seiner Lieblingsmasseuse.

 

Das musste er Lucius Prince lassen, dachte Jason Gilligan, als er sich im Clubraum der Defiant Foundation umsah: Was Prince aus der Büroetage an der K Street gemacht hatte, war beeindruckend. Wobei Gilligan natürlich nicht mit der Defiant Foundation sympathisierte. Oder gar mit Prince, den seine Feinde – wie auch seine Freunde – »Fürst der Finsternis« nannten. Prince war Berater beim Pentagon und Vorsitzender der Defiant Foundation, dem wichtigsten Think Tank in Washington, D. C. Gilligan war Journalist. Ein Washingtoner Korrespondent mit kühlem Kopf und langer Erfahrung, der noch im Begriff war, sich auf die neue, konservative Regierung einzustellen, die nun seit einem Dreivierteljahr im Amt war.

Die Holzvertäfelung im Clubraum glänzte frisch geölt. Die Bar, an der Gilligan soeben seinen ersten Whiskey bestellt hatte, war gut bestückt. Zwölf Sorten Scotch, acht Sorten Malt, fünf verschiedene Gins. Von der Bar aus überblickte Gilligan die Sitzecke mit den grauen Ledersesseln, der kleinen Bibliothek und dem Ölgemälde von Ronald Reagan, bei dessen Anblick Gilligan sofort das Gesicht verzog. Sogar den Kamin hatte Prince restaurieren lassen. Der Atmosphäre wegen. Allerdings war es noch viel zu früh, um zu heizen, denn in Washington war es um diese Jahreszeit noch recht warm. Heute war der 10. September 2001. Ein eher ereignisloser Tag.

Der hochgewachsene, überaus schlanke Jason Gilligan war schon seit mehr als zwanzig Jahren Journalist. Er lebte in Georgetown, einer Art West Village von Washington, D.C. Er hatte an der Columbia School of Journalism in New York studiert, der wohl besten Fakultät der Welt für Journalisten. Und der teuersten.

Gilligan war von Connecticut nach New York gezogen, als die Watergate-Affäre aufflog und die Studenten auf dem Campus für das Ende des Vietnamkrieges protestierten. Bald trug Gilligan – zum Entsetzen seiner Mutter, die Mitglied der altehrwürdigen Daughters of the American Revolution war – lange Haare, einen Vollbart und löchrige Jeans, die um seine langen, dünnen Beine schlackerten.

Anfangs verbrachte er seine Abende bei Sit-ins aus Solidarität für die Black Panthers und aus Protest gegen den Einmarsch in Kambodscha. Er las Hegels Philosophie des dialektischen Materialismus und Marx’ Lehre von der Umverteilung der Produktionsmittel und studierte die Schriften von Marshall McLuhan, Mao Zedong und Jean Paul Sartre. Bis zu dem Tag, als er bei einer Demonstration gegen den militärisch-industriellen Komplex am Washington Square von einem Polizeiknüppel am Kopf getroffen wurde und die nächsten Wochen im St. Luke’s-Roosevelt Hospital in Hell’s Kitchen verbringen musste.

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ließ er sich zuerst die Haare schneiden. Dann beschloss er, das nächste Semester ein wenig praxisnäher anzugehen. Er las die Klassiker des Journalismus: Edward R. Murrow, Gay Talese, Hunter S. Thompson. Er ließ sich den Bart stutzen und lernte Elisabeth kennen. Er schrieb in der Columbia Journalism Review Kommentare gegen die US-Interventionspolitik in Nicaragua, sprach sich für den untergetauchten Anarchisten Abbie Hoffman aus und sammelte auf dem Campus Unterschriften gegen Ronald Reagans Kandidatur als Präsident. Als Reagan dann doch Präsident geworden war, wetterte er bei seinen Freunden in der Kneipe gegen dessen Rüstungsprogramme. Dann bekam er eine Stelle als Reporter.

Er rasierte sich den Bart komplett ab und heiratete Elisabeth. Er schrieb Lokalreportagen über die Einsätze der Drogenfahndung am Times Square und die Mafia am Fulton Fish Market. Er überlebte den tyrannischen alten Chefredakteur, der keine Ivy-League-Söhnchen mochte, die sich als Revoluzzer gerierten, wurde politischer Redakteur und machte sich einen Namen als Experte für Landesverteidigung. Er verlor so viele Haare, dass seine Stirn höher wirkte als die eines Klingonen, tauschte sein billiges rundes Nickelgestell gegen ein ähnliches Modell, das mehr gekostet hatte als Ronald Reagans Toupet, ließ sich als Demokrat registrieren und kaufte eine Wohnung an New Yorks Upper West Side. Als Elisabeth sich beklagte, dass seine Karriere stagnierte, bat er darum, nach Washington versetzt zu werden. Das war nun fünf Jahre her. Nur Jeans trug er auch heute noch ab und zu. Diesel Jeans.

Als der Hausherr den Clubraum betrat, schreckte Gilligan aus seinen Gedanken auf. Lucius Prince war seit Jahrzehnten eine legendäre Figur der Washingtoner Gesellschaft. Es war schwer, ihm anzusehen, woher seine Vorfahren stammten. Irgendwoher zwischen Warschau und Wladiwostok, dachte Gilligan. Blasse, vernarbte Haut, dicke Wangen, enorme Tränensäcke, stahlgraue Augen, buschige Brauen, graue Haare. Sein Leib, in einen silbergrauen italienischen Anzug gehüllt, war deformiert von zu vielen Businesslunches, Galadinners und Weinproben. Hinzu kam eine sanfte Stimme, die so gar nicht zu seiner massigen Erscheinung passte. Gilligan wusste, dass Prince auch erstaunlich weiche Hände hatte. Hände, die geübt waren im Umgang mit Hummerzangen, Trüffelhobeln, Knoblauchpressen, Nudelwalzen, Crêpe-Eisen, Pfeffermühlen und Korkenziehern. Um seinen Mund spielte ein Zug von Genuss und ganz leiser Grausamkeit. Er weckte das Bild einer fetten Hyäne, die drauf und dran ist, das Gehirn einer Gazelle zu schlürfen. Und Kochen war nur sein Hobby.

Im Schlepptau von Prince betraten drei weitere Journalisten den Raum: Ein Korrespondent des Wall Street Journal, dem Gilligan kurz zunickte, einer vom Time Magazine und ein Fernsehreporter der Featurenews Universal Corporation, kurz FUC. Gilligan verzog das Gesicht. Seit wann wurden die zu Hintergrundgesprächen eingeladen?

Prince gab einem Pagen ein Zeichen, der daraufhin die erste Servierplatte brachte. Gegrillte Shrimps mit Knoblauchdip. Fast zeitgleich betrat der Stargast den Clubraum: Dewey M. Drillson, der Verteidigungsminister. Drillson war ein alter Haudegen, der schon unter dem Vater des Präsidenten gedient hatte. Gilligan war kein Fan der neuen Regierung. Aber Drillson, so hoffte er, redete wenigstens Klartext. Bei ihm wusste man, woran man war. Prince stand auf und rückte einen der grauen Ledersessel für Drillson zurecht. Der setzte sich, blickte kurz in der Runde und winkte dem Pagen. »Einen Whiskey«, sagte er knapp.

Der Page brachte den Whiskey und dazu noch zwei Flaschen französischen Rotweins. Grand Cru 1998, einen der besten Jahrgänge. Und noch eine weitere Platte. Lachsröllchen mit Meerrettichsahne. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, meine Herren«, eröffnete Drillson das Gespräch. »Wir leben in gefährlichen Zeiten und die Presse muss sich dessen mehr bewusst sein als bisher. Viel mehr.«

Prince nickte bekräftigend. »Absolut«, sagte er.

Gilligan warf Prince einen flüchtigen Blick zu. Schleimte der sich etwa bei Drillson ein? »Könnten Sie das ein wenig präzisieren?«, fragte Gilligan und zog dabei die Augenbrauen hoch, was ihn noch hochmütiger aussehen ließ. »Der Kalte Krieg ist doch vorbei, oder etwa nicht?«

»Es gibt immer irgendwo Gefahren«, sagte Prince düster. »Wir dürfen die Bedrohung aus dem Fernen Osten nicht unterschätzen. Oder dem Mittleren Osten. Oder dem Nahen Osten.«

»Der Nahe Osten?«, fragte der Korrespondent des Wall Street Journal stirnrunzelnd.

Drillson beugte sich nach vorne. »Die größte Gefahr kommt aus dem Mittleren Osten«, sagte er und blickte finster in die Runde. Vielleicht war es aber auch nur sein normaler Gesichtsausdruck, dachte Gilligan. »Unseren Geheimdiensten zufolge planen islamische Extremisten Anschläge in den USA. Es gibt hunderte potenzielle Ziele, aber am wahrscheinlichsten ist das Cinderella-Schloss in Disneyland.«

Der Time-Korrespondent guckte erschrocken. »Das Cinderella-Schloss?«, fragte er.

Gilligan hielt das für eher unwahrscheinlich, aber wenn sein Kollege es glaubte, dann von ihm aus. Das Time Magazine war sowieso ein Blatt für Leser, deren Aufmerksamkeitsspanne der Dauer einer Waschmittelwerbung entsprach.

»Gehört Disneyland nicht inzwischen den Arabern?«, warf der Reporter vom Wall Street Journal ein.

»Noch nicht«, sagte Prince. »Das ist übrigens ein weiteres Problem. Der Ausverkauf unserer nationalen Kulturgüter an das Ausland.«

»Aber ihr Jungs seid doch auf alles vorbereitet.« Der Reporter von Featurenews lächelte breit. Er begegnete Prince und Drillson in einer penetrant kumpelhaften Art, die Gilligan auf Anhieb unsympathisch war. »Ihr habt das doch im Griff, oder?«, fügte der Reporter hinzu. »Nicht so wie dieses Weichei Clinton.«

»Aber sicher haben wir das im Griff«, betonte Prince, der sich bei »Clinton« und »Weichei« nur mit Mühe das Grinsen verkneifen konnte. »Aber wir könnten noch besser vorbereitet sein. Wesentlich besser. Wenn man uns Militärexperten freie Hand lassen würde, gäbe es keine Gefahren mehr für unser Land. Leider genießen wir in Teilen der Bevölkerung einen schlechten Ruf«, erklärte er und warf Gilligan einen strafenden Blick zu, »den wir vor allem der liberalen Presse zu verdanken haben.« Gilligan zuckte merklich zusammen, tat aber so, als habe es keiner bemerkt.

»Dabei wollen wir doch nur dafür sorgen, dass Amerika gegen seine Feinde gerüstet ist. Und davon gibt es leider viel zu viele«, erklärte Prince und beendete seine kleine Rede.

»Korea zum Beispiel«, warf Drillson ein. »Ich meine, äh, Nordkorea. Oder Japan. Ich habe den Japanern noch nie getraut. Nicht seit Pearl Harbor.«

»Sind die Japaner nicht unsere Alliierten?«, fragte der Reporter vom Time Magazine ein wenig irritiert.

»Was verstehen Sie denn eigentlich unter freier Hand?«, hakte Gilligan nach.

»Die Waffentechnologie ist heutzutage so hoch entwickelt, dass wir uns gegen alles und jeden schützen könnten«, erklärte Drillson. »Wir könnten einen digitalen Abwehrschirm gegen ABC-Waffen aus dem Weltraum installieren, angeschlossen an eine lasergesteuerte Satelliten-Phalanx. Oder Photonen-Torpedos. Oder diese neuartigen Chamäleon-Panzer einsetzen, deren Lackierung sich an die Farbe der Oberfläche anpasst. Oder die nächste Generation von plutoniumgetriebenen, hypersonaren Superdrohnen, die die Fernsteuerungstechnologie der Predator IV mit der Tarnfähigkeit des Golfbombers verbinden und auf einem Radarschirm jedes fliegende Objekt simulieren können. Technisch ist das alles längst möglich, aber unser Kongress begreift einfach nicht die Zeichen der Zeit und gibt kein grünes Licht für die Finanzierung.« Er hob kurz die Hand und Prince schenkte ihm Whiskey nach.

»Natürlich ist das nicht billig«, ergänzte Prince. »Wir reden hier von ein paar Milliarden Dollar. Aber langfristig zahlen sich solche Investitionen immer aus.«

Gilligan lächelte höflich. Nicht ganz billig. Ja, darauf würde er wetten.

Prince lächelte zurück. »Darf ich Ihnen noch ein Glas Rotwein nachschenken?«

Die Journalisten hatten gerade erst den Clubraum der Defiant Foundation verlassen, da bestellten die beiden Politiker noch eine weitere Flasche Grand Cru. Endlich konnten sie sich entspannen, hoffte Prince. Doch Drillson sah immer noch grimmig drein. Vermutlich zählte er im Geist die Mittelstreckenraketen der Mongolen, dachte Prince. »Ist für den morgigen Flug des Präsidenten nach Florida alles geregelt?«, fragte Drillson.

»Das ist nichts Wichtiges. Nur ein Termin in einer Grundschule.«

»Aber natürlich ist alles geregelt«, beruhigte ihn Prince. Er war überrascht, dass sich Drillson um solch eine Kleinigkeit sorgte. »Wo wir gerade von Florida reden, ich habe dafür gesorgt, dass mit den Kubanern alles geklärt ist. Alle Rechnungen wurden bezahlt.«

»Gut«, antwortete Drillson. »Wir müssen uns die Kubaner warmhalten. Das sind unsere Alliierten, und zwar langfristig. Seit 1963, Sie wissen schon – Dallas.« Er grinste.

Prince nickte und sah auf seine Uhr. Sieben Uhr abends. »Ich gehe mal besser«, sagte er. »Ich muss mich auf den Empfang morgen früh vorbereiten.«

»Welchen Empfang?« Drillson zog fragend die Brauen hoch.

»Das habe ich doch schon erzählt. Den Empfang im Salon Napoleon«, sagte Prince und versuchte seine Antwort nebensächlich klingen zu lassen. »Es geht um die Ölindustrie, den Mittleren Osten und so weiter. Geschäftlich.«

Scherenschnittartige Lichtfiguren wirbelten im Kreis um ihn herum. In einem Kreis, der sich viel zu schnell drehte. Der Präsident hätte das Phänomen als eine überdimensionierte Laterna Magica beschrieben, in deren Zentrum er sich befand, hätte er gewusst, was eine Laterna Magica war. Mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegend, holte er Luft. Sein Rücken schmerzte. Viele winzig kleine Stiche, die von innen zu kommen schienen.

Er hielt die Luft lieber wieder an und atmete dann ganz langsam aus. Jetzt schmerzten seine Rippen. Als Nächstes fing sein Magen an, sich wie ein schwerfälliges, blindes Tier zu bewegen. Es war ein unangenehmes Gefühl. In einem Versuch, sich aus dem präsidialen Körper zu befreien, setzte sich sein Magen in Bewegung und presste sich von innen vergeblich gegen seine Bauchdecke.

Stöhnend öffnete der Präsident die Augen. Die Laterna Magica drehte sich noch immer, aber wurde schon langsamer. Er war in seinem Schlafzimmer. Der Präsident schloss erneut die Augen. Sein Magen machte den zweiten Ausbruchsversuch. Er blähte sich auf, schaffte es wieder nicht, durch die Bauchdecke zu brechen, und krampfte sich stattdessen trotzig zusammen, wie ein Gefangener, der passiven Widerstand leistet.

Der Magen gab vorerst auf.

Die Stimme. Die Stimme war irgendwo da draußen und wollte zu ihm herein. Der Präsident, schwach und angeschlagen, mobilisierte alle verbliebenen Kräfte. Nicht wieder diese Stimme. Sie brachte nur Unglück, so viel wusste er. Er halluzinierte eine dicke rosa Steppdecke herbei, die sich um ihn herumlegte. Leider auch um die Laterna Magica, deren Lichter einfach nicht weggehen wollten. Dann brach die Stimme durch die Decke.

»Du musst aufstehen«, sagte die Stimme. Eine weibliche Stimme. Sie klang ärgerlich. »Es ist schon Mittag! Höchste Zeit! Du musst heute noch nach Florida fliegen. Du hast ein Dinner mit deinem Bruder und morgen ist der Termin in dieser Schule. Orinoko Oil hat schon zum zweiten Mal hier angerufen, um zu fragen, wann endlich die Air Force One mit dir abheben wird. Wo warst du bloß gestern Abend wieder?«

Linda. Seine Frau. Der Präsident seufzte und öffnete nun endgültig die Augen. »Irgendwie geht es mir nicht gut«, wimmerte er. »Vielleicht war das Steak, das ich gestern Abend gegessen habe, nicht in Ordnung. Oder die Sauce.«

»Oder eins von den zehn Bieren«, sagte Linda giftig. Sie war bestimmt schon seit Stunden auf. Er hatte gehört, wie sie im Vorraum Sachen vom Fußboden aufklaubte. Deutlich lauter, als nötig gewesen wäre. Sie sollte sich mal nicht so haben. Wer war sie, Mamie Eisenhower? Sie sollte froh sein, die First Lady spielen zu dürfen.

Seine gebügelten Jeans über dem Arm und ein Paar Cowboystiefel in der linken Hand, kam sie wieder herein. Die dunklen Haare hatte sie achtlos zurückgesteckt. Sie ließ sich gehen, dachte er. Auch das noch.

»Deine Sachen sind gepackt. Auch das Buch. Die Air Force One steht bereits seit einer halben Stunde auf dem Rollfeld«, ermahnte sie ihn. »Gleich kommt der Secret Service, um dich abzuholen.«

»Ja, ja«, nölte er. Auf die Ellbogen gestützt und ganz langsam, um seinen rebellierenden Magen nicht zu ärgern, richtete er sich auf und griff zur Fernbedienung, um den Fernseher einzuschalten. ESPN. Die Vorbereitung zum Viertelfinale des Super Bowl. Noch immer halb benommen, saß er ein paar Minuten auf dem Bett und sah mit einem Auge zu. Endlich beruhigte sich das Zimmer und hörte auf, sich zu drehen. Sein Magen rollte sich endgültig zu einem beleidigten Ball zusammen und schwieg. Der Präsident stand auf.

»Wieso muss ich überhaupt zu diesem blöden Termin?«, fragte er. »Kindern in der Grundschule vorlesen? Früher hat so was die First Lady gemacht. Und dafür nach Florida fliegen? Gibt es denn keine Kinder in Washington?«

»Der Termin ist seit Wochen geplant«, gab Linda ihm zu verstehen. »Und in Florida wohnen eine Menge Wähler, die alle noch davon überzeugt werden müssen, dass du der Präsident bist. Erinnerst du dich? Versuch lieber, dich nicht allzu sehr zu blamieren. Du wirst im Fernsehen sein. Stottere nicht, verlies dich nicht und nimm ein Deo mit.«

»Ich schaffe es ja sonst auch, von Kärtchen abzulesen«, maulte er und zupfte sich vor dem Spiegel das Hemd zurecht. Er sah gar nicht so schlecht aus. Was Linda bloß immer zu meckern hatte? Na gut, ein bisschen Bauchspeck könnte er loswerden. Und vielleicht die grauen Haare färben. Andererseits gaben sie ihm etwas Staatsmännisches. Langsam ging es ihm besser. Aus welchem Buch sollte er eigentlich vorlesen?

Das Telefon klingelte, aber noch bevor er darüber nachdenken konnte, ob er abheben wollte, hatte Linda schon nach dem Hörer gegriffen. »Ja, ja, er kommt gleich«, sagte sie, ohne abzuwarten, wer am Apparat war. Plötzlich wurde sie laut. »Was! Wie bitte?!«

Ein paar Minuten herrschte Schweigen. »Sie haben WAS?!«, rief sie.

»Was meinen Sie mit ›Sie wissen schon‹?« Linda zischte, als würde eine Kreissäge bei vollem Betrieb in heißes Wasser getaucht.

Plötzlich lief sie rot an. »Alle beide?«, fragte sie. »Wo denn?« Mit einem Mal entwich ihr die Farbe und sie sank langsam wie eine Mario­nette, deren Fäden nachgaben, auf die Couch. Ihre linke Hand hielt noch immer das Telefon umklammert, während sich die Finger der rechten Hand ins Sofakissen krallten.

»Gibt es Zeugen?«, wollte sie wissen. »Ich meine außer … äh … außer den Betroffenen? Presse? Fotografen? Waren noch andere Leute in der Bar?«

Während sie weiter zuhörte, kehrte die Farbe langsam wieder in ihr Gesicht zurück. »Sind Sie ganz sicher?«, fragte sie.

Ohne sich zu verabschieden, legte sie auf. Noch immer sprachlos, starrte sie ihren Mann an und gab sich schließlich einen Ruck. »Betty und Wilma«, sagte sie, »… die Zwillinge … sie haben …« Sie stockte.

Er blickte auf. Hoffentlich hatten sie nichts angestellt, was auf ihn zurückfallen könnte. Die Presse meinte es derzeit nicht gut mit ihm.

»Die Zwillinge …«, fuhr sie fort, fest entschlossen, es hinter sich zu bringen, »die Zwillinge haben einen Wettbewerb mit ihren Leibwächtern veranstaltet. Wer es zuerst schafft, einem der Männer …« Sie hielt erneut inne.

»Einem der Männer was?«, fragte er. Langsam wurde er unruhig. Sein Magen begann schon wieder, sich zu rühren.

»Sie haben gewettet, welche von ihnen es als Erste schafft, einem der Leibwächter einen zu blasen. Der Einsatz war eine Flasche Tequila.«

»Tequila!«, blaffte er. »Wie oft habe ich den beiden schon gesagt, dass sie keinen Alkohol … Was?! Ihren Leibwächtern …!« Erst jetzt begriff er, was seine Frau gerade gesagt hatte.

»Genau«, sagte sie, erschöpft. »Zum Glück war niemand von der Presse da. Das hoffe ich zumindest. Es war gestern früh um vier, in einer Bar in Austin. Geschlossene Gesellschaft. Wenn allerdings einer der Leibwächter redet …«

»Solche Leute reden grundsätzlich nicht, die sind auf Diskretion getrimmt«, sagte er ein bisschen zu schnell.

Er beschloss, sich jetzt doch schnell aus dem Staub zu machen. »Kümmere du dich darum«, trug er ihr auf und griff nach seinem Jackett. »Ich muss los! Die Air Force One wartet. Und kein Wort zu niemandem. Ich rede mal mit Orinoko. Wofür habe ich eine Beraterin? Vielleicht fällt der etwas ein.«

Leicht schwankend verließ er das Weiße Haus. Tequila. Wer wohl gewonnen hatte? Er grinste. Doch schnell wurde er wieder ernst. So ging das wirklich nicht. Linda musste unbedingt mit den beiden reden. Immerhin war er der Präsident.

Dewey Drillson stöhnte. Diese Besprechung mit Prince und den Journalisten hatte länger gedauert als gedacht. Danach war noch Henry Wolfstetter, sein Vize, vorbeigekommen. Und wenn der einmal anfing zu reden, hörte er nicht so bald auf. Es war weit nach sieben, als er in seinem Lieblingsetablissement ankam. Im Moulin Noir.

Der Verteidigungsminister lag mit halb geschlossenen Augen auf einer weichen Gummimatte neben dem Whirlpool. Sein nackter Körper war umhüllt von Schaum, der nach Rosen duftete. Er genoss die Wärme, die sanfte Musik und vor allem die Hände der Frau, die seinen Körper durchknetete. Luella hieß sie. Bestimmt war das nicht ihr richtiger Name, aber das war ihm egal. Luella trug ihre schwarzen, glatten Haare halblang, mit Pony. Ihre braunen Augen blickten ihn aus einem mädchenhaften Gesicht an. Sie hatte schimmernde bronzefarbene Haut, lange Beine, frauliche Hüften, eine Taille wie eine römische Göttin und dazu perfekt geformte Brüste, die beim Massieren wippten. Oberhalb der linken Brust hatte sie eine kleine Tätowierung. Eine rote, sich windende Schlange, deren Kopf sich in einen Pfeil verwandelte. Darüber hinaus hatte Luella sehr lange, schlanke Finger, die in diesen Minuten Drillsons Beine durchkneteten und dann langsam hochwanderten.

Ob sie wohl Englisch konnte? Luella sprach fast nie. Wenn sie nicht ab und zu »Yes, Sir« oder »No, Sir« sagen würde, hätte er sie für stumm gehalten. Wahrscheinlich sprach sie nur spanisch. Oder irgendeinen indianischen Dialekt. Sie sah nach Karibik aus. Vielleicht Trinidad und Tobago oder Guadeloupe. Er buchte immer Luella, wenn er hierherkam.

Schaum tropfte von Luellas nackten Brüsten auf ihre Oberschenkel. Eigentlich war ihm hier im Moulin Noir immer ein ganz klein wenig unwohl. Natürlich nicht aus moralischen Gründen. Aber wenn ein verdammter Reporter das herausfand … Andererseits war das wohl wichtigste Kapital solcher Etablissements Diskretion. Wenn alle seine Beamten so diskret wären wie die Mädchen hier, ließe sich das Land wesentlich reibungsloser regieren.

Er öffnete ein Auge. »Wo kommst du her, Luella?«, fragte er träge.

»Yes, Sir«, war ihre Antwort.

»Weißt du, dass du der erste vernünftige Mensch bist, der mir heute untergekommen ist?«

»Yes, Sir.« Sie drehte ihn sehr geschickt um und rieb eine warme  ölige Flüssigkeit auf seine Haut. Ein Duft wie Zimt und Frühlingssonne. Dann begann sie, seine Schulterblätter zu massieren. Langsam fing Drillson an, sich zu entspannen.

»Manchmal glaube ich, in D. C. arbeiten ausschließlich Vollidioten. Vizepräsident Burton kennt gerade einmal den Unterschied zwischen einem Öltanker und einem Ölsardinensandwich. Verstehst du?

»No, Sir.«

»Und dieser Prince – wenn der nicht für den Mossad arbeitet, fress ich einen Besen. Und Wolfstetter ist auch so ein Fall für die Irrenanstalt. Der wurde mir als großes strategisches Genie angepriesen. Wenn der ein großer Stratege ist, dann war die Schlacht am Little Bighorn ein großer Sieg für General Custer.«

»Yes, Sir.«

»Aber am unglaublichsten ist unser schwachsinniger Präsident. Gegen den wirkt Arnold Schwarzenegger wie Albert Einstein. Was sage ich? Gegen den wirkt Ronald Reagan wie Albert Einstein. Wenn ich an die Energie denke, die in seine Ausbildung gesteckt wurde. Dabei hatte sein Bruder viel bessere Anlagen. Aber leider kann der ja nicht Präsident werden.« Drillson drehte sich wieder auf den Rücken. Er hatte sich in Rage geredet und ihm wurde es langsam unbequem. »Wir haben die stärkste Armee in der Geschichte der gesamten Menschheit und was machen wir damit? Nichts. Wegen dieser Schwachköpfe!«

»No, Sir.« Sie machte unbeirrt mit der Massage weiter. Ihre Finger wanderten genau an die Stelle, an der er sie brauchte. Er spürte, wie sich seine Aggression auf den wichtigsten Teil seines Körpers verlagerte. Gleich war er so weit.

»Aber noch schlimmer ist dieser Neger. Ein Neger in der Regierung. Seit wann gibt’s denn so was? Was sind wir? Ein Volk von Urwaldaffen? Dieser Powder soll angeblich die schwarzen Wähler an die Republikaner binden. Schwarze Wähler? Zu meiner Zeit durften Schwarze überhaupt nicht wählen, und das war richtig so.«

»Yes, Sir.«

Das Testosteron wirkte jetzt genau dort, wo Luellas Finger ihn massierten. »Das sind doch alles Weicheier«, blaffte er. »Feiglinge! Die begreifen gar nichts. Was wir brauchen, ist ein Schicksalsschlag, der dieses dekadente Land bis ins Mark erschüttert. Der diesen Hüh­nerhabichten im Weißen Haus vorführt, wie die Welt da draußen wirklich ist. Stahl und Blut! Wir brauchen endlich … endlich! Ja! Ja! Ja!«

Luella hatte es geschafft. Wie immer. Sein Goldkind. Was machte es da schon aus, dass Luella vielleicht einen oder zwei Tropfen schwarzen Blutes in ihren Adern hatte? Er war schließlich kein Rassist.

Schlaff und erschöpft rollte sich Drillson in den Whirlpool. Fast hätte er das Klingeln seines Mobiltelefons überhört, das am Rand des Pools lag. Wer störte ihn jetzt noch? »Ja«, sagte er knapp. Dann spannte sich sein Körper an. »Ja«, sagte er wieder. »Ich bin vorbereitet. Ich werde im Südflügel sein.«

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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11 Kommentare

  1. netter Artikel, so als unbelasteter und freier Roman.
    Ein Krimi😉 Nicht mehr und nicht weniger.
    Schön zu lesen.
    Hab leider den ersten Teil verpasst, aber das ist ja nachholbar.
    Dank an Overton.

    1. Das korrelliert halt mit der deutschländerwürstchenaussenpolitik, die auch nach innen geht….
      Weiss aber nicht was es mit diesem Roman zu tun hat.

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