
Manuel und Jason tauschen Informationen aus, um auf die Spur der Verschwörung zu kommen, aber alles läuft ins Leere. Da taucht in der Little A’Le’Inn, der einzigen Kneipe in Rachel, Nevada ein Paket aus London aus, von Bletchley Park. Es sollte an die Area 51 gehen. Der Inhalt ist rätselhaft. Außenminister Powder erfährt, dass Dewey Drillson ihn wegen Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen angelogen hat. Albert Rave macht sich Sorgen, dass Powder mit dem Präsidenten reden könnte. Luella, die sich nun Claudette nennt, hackt sich in die Emails zwischen Manuel, Jason und einem anonym gebliebenen WarriorKahless ein. Sie erfährt von dem Paket und auch, dass Sheik Al-Sahhaf darin verwickelt ist, der für den pakistanischen Geheimdienst arbeitet. Sie informiert Jason. Der versucht, seine Quellen anzuzapfen.
Die beiden Fremden am Tresen des Little A’Le’Inn sahen nicht so aus, als ob sie gerne redeten. Der eine starrte seit einer halben Stunde finster auf sein Bier. Der andere kaute auf einem Streichholz herum und warf ab und an einen gelangweilten Blick in den Raum. Beide waren glattrasiert, hatten kurze dunkle Haare und die sonnengegerbte dunkle Haut von Indianern. Oder Mexikanern. Oder Arabern. Das Little A’Le’Inn in Rachel, Nevada, war die einzige Bar im Umkreis von fünfzig Meilen.
Im Sommer war der Laden in dem unscheinbaren weißen Flachbau ein Treffpunkt von UFO-Süchtigen, die dem Verbleib des Roswell-Aliens nachspürten. An diesem kalten Winterabend aber war die Bar halbleer. Neben den beiden Fremden am Tresen saß einer der Cammo Dudes – allerdings in Zivil und nicht in Camouflage, da er Aus-gang hatte. Weiter hinten saßen noch ein junges Pärchen aus Norwegen, das ein kiloschweres Fernrohr mitschleppte, sowie drei Cowboys in Jeans und Flanellhemden, die noch ein schnelles Bier trinken wollten. Und ein langhaariger, schlaksiger Mann, der nicht bemerkte, dass er es war, den einer der beiden Fremden unauffällig beobachtete. Das war Manuel Goldstein.
»Noch ’n Bier, Manuel?«, fragte Tony Natchez. Er stand hinter dem Tresen und half aus. Pat, die Barfrau, besuchte an diesem Abend ihren Mann im Krankenhaus. Tony war gerne hilfsbereit. Er hatte auch das Schild »Earthlings Welcome« mit dem großköpfigen Außerirdischen vor der Tür besorgt. Und die Fahne mit dem UFO auf dem Dach der Bar.
»Nein, danke«, sagte Manuel. »Mach mir die Rechnung.« Seitdem die Feds seinen Trailer durchsucht hatten, war er häufiger im Little A’Le’Inn als früher, aber er wollte das Trinken nicht zur Angewohnheit werden lassen. Außerdem wollte er heute Abend noch arbeiten. Draußen wehte ihm eine eiskalte Sturmbö ins Gesicht. Sie veranlasste ihn, die Lederjacke noch fester um sich zu zurren. Es war Vollmond und der schwarzblaue Winterhimmel glitzerte. Am Horizont stiegen nadelförmige Flugobjekte auf. Manuel hob sein Fernglas, aber sie waren schon in der Stratosphäre. Als er es absetzte, zerschnitt ein scharfer Klingelton die nächtliche Stille. Sein Satellitentelefon.
Tony hatte darauf bestanden, ihm dieses Telefon zu geben. Fast umsonst sogar. Sein Hass auf die Feds war offenbar noch stärker als seine Liebe zum Geld. Und normale Mobiltelefone funktionierten im militärischen Sperrgebiet nicht. Falls er in einem schwarzen Hubschrauber entführt werde, könne er wenigstens um Hilfe rufen, hatte Tony gesagt.
Am anderen Ende war Jason Gilligan, der aus Washington anrief. »Wie gehts?«, fragte er.
»Geht so«, antwortete Manuel. »Es ist saukalt. Ansonsten passiert hier nix Besonderes.«
Eine Sekunde herrschte Schweigen. »Hast du noch etwas gefunden? Noch eine Wanze oder so?«
»Nö«, sagte Manuel. »Ich habe sogar Tony gebeten, das Telefon samt Leitung auseinanderzunehmen, aber auch der hat nichts mehr gefunden. Und du? Hast du diesen Fotografen aus New York aufgetrieben? Diesen Kenny?«
»Leider nein«, antwortete Jason. »Der ist wie vom Erdboden verschluckt und es gibt auch keine Redaktion und keine Fotoagentur, die jemals von ihm gehört hat.«
Ein weiterer kalter Windstoß ließ Manuel schneller traben. »Und deine scharfe Agentenbraut mit dem russischen Akzent? Die hatte ihn doch angeschleppt. Frag die doch mal, wo er abgeblieben ist!«
Jason hüstelte. »Ich, äh … ich kann sie nicht einfach anrufen. Sie meldet sich normalerweise bei mir. Oder auch nicht. Und sie hat einen französischen Akzent.«
»Das heißt, du hast ihre Nummer nicht?«, fragte Manuel.
Er konnte bis Nevada spüren, wie Jason sich wand. »Nein«, antwortete er endlich. »Und ihre Adresse habe ich auch nicht. Ich kenne nicht einmal die Stadt, in der sie wohnt. Und offen gestanden bin ich mir auch nicht hundertprozentig sicher, wie sie wirklich heißt.«
»Aha«, sagte Manuel. »Aber ich bin der verrückte Verschwörungstheoretiker. Bist du nicht verheiratet?«
»Bist du nicht darauf angewiesen, dass ich deine Satellitentelefonrechnung bezahle?«, konterte Jason und holte Luft. »Ich habe auch gute Nachrichten«, fuhr er fort. »Eine meiner Quellen hat mir bestätigt, dass ein Prototyp dieser Superdrohne, der Predator V, tatsächlich in einem militärischen Sperrgebiet irgendwo im Südwesten der USA getestet wird. Nur einsatzreif soll der Prototyp noch nicht sein. Aber ich werde mich mit diesem Senator aus Minnesota treffen, sobald er nach Washington kommt. Vielleicht erfahre ich dann mehr darüber.«
Am nächsten Morgen wurde Manuel von heftigen Fußtritten gegen seine Halsbeuge geweckt – zum Glück nur von der schwarz-grauen Katze. Sollte die Katze nicht langsam selbst für sich sorgen können? Manuel schielte auf die Uhr. Sieben Uhr früh! Noch während er zum Kühlschrank schlurfte, klingelte das Telefon.
Es war Tony Natchez. »Komm doch mal kurz im Little A’Le’Inn vorbei«, sagte Tony. »Sofort. Hier ist etwas angekommen, das dich bestimmt interessieren wird.«
Auf dem Tresen der Bar stand ein ziemlich schweres Paket. Ein Fedex-Bote hatte es abgegeben. Es kam aus London und der Absender lautete »Bletchley Park, Dienststelle 1268«. Das sagte Manuel nichts. Adressiert war es an einen gewissen Sheik Al-Sahhaf. Das sagte Manuel erst recht nichts.
»Mensch, Manuel«, sagte Tony. »Das ist dieser dunkelhäutige Typ, der dich gestern Abend die ganze Zeit von der Bar aus beobachtet hat.« Manuel fragte sich, woher Tony das wusste. »Der Name stand auf seiner Kreditkarte. Aber guck dir den Adressaufkleber mal genau an.«
Das Paket sollte an die »Groom Lake Military Facility« geliefert werden. Die Area 51. Manuel machte einen Schritt zurück. »Wieso hat Fedex das hier abgegeben?«, fragte er.
Tony zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich glaube, das war ein Versehen. Oder vielleicht haben die Wachposten den Boten nicht in die Area gelassen. Sollen wir es aufmachen?«
Schon während Tony sein Taschenmesser vorsichtig entlang der Klebelinien durch den Karton zog, ahnte Manuel, dass das ein Fehler war. Aber es war zu spät. Das Paket enthielt Stücke von Stahlstreben. Rotgraugeflammte, seltsam verbogene Stahlstreben. Als seien sie einem unglaublich heißen Feuer ausgesetzt gewesen. An einigen Streben klebte eine dunkelgraue Masse, die wie verbrannter Beton aussah.
»Was ist denn das?«, fragte Tony. Er guckte die Stahlstreben unschlüssig an und begann dann, den Karton auszuräumen. Ganz unten lag ein Stück Pappe, auf dem in dicken, mit Filzstift gemalten Buchstaben stand: »World Trade Center«. Darunter stand in etwas kleineren Buchstaben: »Bagdad«.
Als er sich in seinem Käfer auf den Heimweg machte, grübelte Manuel über das merkwürdige Paket nach. Hoffentlich konnte Tony es wieder so zukleben, dass keiner es merkte, dachte er. Sonst gab es bestimmt Ärger. Es war noch früh am Tag. Manuel hatte das gute Fernglas und das Satellitentelefon dabei. Er beschloss, den Berghang hinaufzusteigen.
Als er hoch genug geklettert war, um die Hangars auf der Area sehen zu können, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht. Wenigstens war es jetzt nicht mehr ganz so kalt. Manuel trug nun einen Daunenanorak. Das war nicht sein erster Winter in den Bergen von Nevada. Er hielt das Fernglas vor seine Augen und ließ den Blick zwischen den Hangars hin- und herwandern.
Er sah Flugzeuge, Soldaten und die üblichen Geheimdienstler. Dazu noch ein paar Cammo Dudes und allerlei Gerät. Die Sonne wanderte weiter und wieder kam der kalte Wind auf, der ihm gestern Nacht fast die Ohren abgefroren hätte. Gerade wollte er aufgeben, da erblickte er etwas Seltsames. Einen dunkelhäutigen Zivilisten mit kurzen dunklen Haaren. Er wirkte südländisch, aber das war in Nevada nicht ungewöhnlich. Manuel drückte das Fernglas fester vor seine Augen und drehte daran. Ob das der Mann war, den der gestern in der Bar gesehen hatte? Er versuchte, sich an dessen Aussehen zu erinnern. Er hätte aufmerksamer sein sollen.
Nach ein paar Minuten ließ er das Fernglas sinken. Der Mann könnte Araber oder auch Mexikaner sein. Oder Indianer. Manuel seufzte. Er beschloss, nach Hause zu gehen, sich aufzuwärmen und eine Mail an JEdgarH zu schicken. Nein, an Jason Gilligan. Und eine an WarriorKahless.
»Sie haben mich reingelegt!«
Tom Powder zitterte vor Wut, was sehr selten vorkam, denn eigentlich war er ein ausgeglichener Mensch. Vor allem in Gegenwart von Dewey Drillson verlor er normalerweise nicht seine Beherrschung. Aber das war zu viel.
»Saddam Hussein hat überhaupt keine Cruise-Missiles! Und Sie …«, er keuchte, »und Sie … ihretwegen habe ich mich vor den gesamten Vereinten Nationen blamiert.«
Drillson blieb so kühl wie ein Eiszapfen in der Antarktis. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte er. »Natürlich hat Saddam massenweise Cruise-Missiles. Sogar mit atomaren Raketensprengköpfen. Das hat unser Geheimdienst mit hundertprozentiger Sicherheit herausgefunden.«
»Sie meinen«, sagte Powder und streckte sich ein bisschen, »Sie meinen dieses alberne Amt für Strategischen Einfluss.«
»Amt für Strategischen Einfluss?«, echote Doktor Henry Wolfstetter. Als er den gereizten Außenminister den Flur zum Ministerzimmer hatte entlangtraben hören, wie ein Nashorn mit posttraumatischem Stresssyndrom, beeilte er sich, seinem Chef zur Seite zu stehen. Und das Amt für Strategischen Einfluss war sein Baby. Das ging den Außenminister nichts an.
Powder ignorierte seinerseits den kleinen Brillenträger. »Also erstens«, sagte er zu Drillson, »hat die BBC noch am Tag meines Auftritts vor der UN ein Interview mit dem obersten Waffeninspektor gesendet, der behauptet, dass das alles nicht stimmt. Aber vor allem habe ich das hier!« Absichtlich ließ er mit lautem Krachen ein Dossier auf Drillsons Schreibtisch fallen, das die Aufschrift »Streng geheim« trug.
»Darf ich das überhaupt lesen?«, frotzelte der Pentagon-Chef, griff dann aber unter Powders bösem Blick doch nach dem Papierbündel. Es war ein Bericht des Bureau of Diplomatic Security, des Geheimdienstes des Auswärtigen Amtes, der Powder unterstand und dessen Agenten die CIA mindestens genauso hassten wie die Freudianer die Heideggerianer. Diesem Bericht zufolge war vor ein paar Tagen ein LKW-Konvoy an der Grenze von Saudi-Arabien zum Irak angehalten worden, der mehr als zehn Meter lange gebrauchte Stahlstreben transportierte. Auf jede der Stahlstreben waren in dicker roter Farbe die Worte »Cruise Missile« gepinselt worden. Nach Aushändigung eines kleineren Betrages durften die Fahrer dann wieder Gas geben.
»Mein Gott«, sagte Drillson mit gespielter Erschütterung, so dass selbst Wolfstetter die Ironie bemerkte. »Wer konnte ahnen, dass arabische Grenzer bestechlich sind …«
Wolfstetter, der über Drillsons Schulter mitgelesen hatte, sah allerdings tatsächlich betroffen aus. »Stahlstreben?«, fragte er. »Was, zum Teufel …«
Mit einer ruckartigen Bewegung nahm Powder sein Dossier wieder an sich. Dann richtete er sich auf und sah Drillson direkt ins Gesicht. »Das wird Konsequenzen haben«, sagte er. »Das verspreche ich Ihnen.«
Von der Tür her war ein Räuspern zu hören. »Wollen Sie uns etwa drohen?«, fragte Albert Rave, der, vom Lärm angelockt, nun ebenfalls aufgetaucht war.
Rave schob seinen dicklichen, kleinen Körper in den Raum und stellte sich zwischen Drillson und Powder, die beide einen guten Kopf größer waren als er. »Was haben Sie vor? Wollen Sie etwa einen zweiten Auftritt vor den Vereinten Nationen inszenieren und alles zurücknehmen?«, fragte er. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass dies das Ende ihrer Karriere wäre. Und zwar für alle Zeiten.«
Powder war klar, dass Rave damit nicht ganz Unrecht hatte. Und er wusste auch, dass er sich nicht provozieren lassen durfte. »Überlassen Sie bitte mir, was ich tue«, gab er kühl zurück. »Aber eines kann ich ihnen zusichern: Ich werde den Präsidenten informieren. Vielleicht sollte er endlich erfahren, was seine Untergebenen hinter seinem Rücken treiben. Denn davon« – er deutete auf das Dossier, das er mit seinem linken Unterarm gegen seinen Körper drückte – »weiß er garantiert nichts.«
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Gebrauchte Stahlstreben«, sagte er. »Pffhht.«
Kaum war Powder gegangen, sahen sich Wolfstetter und Rave besorgt an. Wolfstetter, weil er immer besorgt dreinsah, und Rave, weil er ein Problem witterte, das Drilllson vermutlich noch gar nicht erkannt hatte. »Was machen wir, wenn er seine Drohung wahr macht?«, fragte Rave. »Dann könnten wir in der Patsche sitzen.«
»Na und«, antwortete Drillson. »Der Präsident kann sich doch kaum noch erinnern, wer unser Onkel Tom hier eigentlich ist. Meinen Sie, der glaubt ihm die Geschichte?«
Rave schüttelte ungeduldig den Kopf. »Vergessen Sie nicht, dass wir hier von unserem Präsidenten reden«, sagte er. »Sie kennen ihn doch. Der ist wie Jar Jar Binks auf Marihuana. Was machen wir, wenn sich der Präsident verplappert und auf einer Pressekonferenz erzählt, Saddam beziehe Cruise-Missiles aus Saudi-Arabien?«
»Jar Jar Binks?«, fragte Wolfstetter. Popkultur war nicht seine Stärke und Rave machte keine Anstalten, ihn aufzuklären.
Drillson zuckte mit den Schultern. »Das passiert schon nicht«, sagte er. »Und er gibt seine Pressekonferenzen ja auch nicht allein.« Dann drehte er sich zu Rave um. »Ich will, dass Powder besser überwacht wird«, erklärte er, wobei seine Stimme an Schärfe deutlich zulegte. »Es fehlte gerade noch, dass der jetzt aus der Reihe tanzt.«
Claudette Betancour stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Endlich eine heiße Spur. Es war sogar die erste wirklich heiße Spur seit Wochen. Zumindest hoffte sie das. Sie betrachtete den flimmernden Computerbildschirm und las die E-Mail noch einmal.
»Was du gesehen hast, stimmt vermutlich. Nach allem, was ich gehört habe, soll Sheik Al-Sahhaf tatsächlich in der Area gewesen sein. Wahrscheinlich arbeitet er für den pakistanischen Geheimdienst ISI, gilt aber als unsicherer Kantonist. Manche verdächtigen ihn, ein Doppelagent für den Irak zu sein. Bletchley Park, Dienststelle 1268, das muss irgendein Amt innerhalb des britischen Geheimdienstes sein. Aber was das für Metallstücke in diesem Paket waren und warum sie an diesen Al-Sahhaf geschickt wurden, das kann ich dir beim besten Willen nicht erklären. Und da stand wirklich ›World Trade Center‹ drauf? Und ›Bagdad‹?«
Die E-Mail stammte von einem gewissen WarriorKahless und wurde an eine gewisse LeiaOrgia geschickt, die sie wiederum an JEdgarH weitergeleitet hatte. Und Claudette hatte die E-Mail abgefangen. Denn hinter JEdgarH verbarg sich Jason Gilligan und dessen Passwort zu knacken, war ziemlich einfach gewesen. Hinter dem Usernamen LeiaOrgia wiederum verbarg sich vermutlich dieser Jung-Anarchist, der in dem Trailer nahe der Area 51 lebte. Nur wer WarriorKahless war, das hatte Claudette leider noch nicht herausfinden können.
Sie lehnte sich zurück, streckte sich auf ihrem Bett aus und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Diese amerikanischen Motelzimmer, die sie alle paar Wochen wechselte, sahen alle gleich aus. Zwei riesige Doppelbetten, ein Fernseher und ein Wandschrank. Eine kleine Ablage mit einer wackeligen Kaffeekanne, einem vorgepackten Beutel Kaffee, Milchpulver und Sweet’N Low. Dazu ein Buntdruck an der Wand – eine Landschaft oder Blumen – und eine einzige freie Steckdose, die meist so ungünstig unter dem Bett angebracht war, dass sie sich verrenken musste, um ihren Laptop einzustöpseln.
Claudette rollte sich auf die Seite, griff nach der Fernbedienung und knipste den Fernseher an. BBC World. Vor der Erdkugel mit der Friedenspalme, dem Wappen der Vereinten Nationen, sprach der Außenminister der USA. Ohne Ton. Er sah ein wenig verbittert aus. Sie lächelte. Das Hotelzimmer war zwar trostlos, aber wenigstens war sie nicht mehr in Washington. Viel länger hätte sie es nicht mehr ertragen, die alten Leiber nackter Politiker zu berühren. Obwohl das nicht der Grund dafür war, dass das Deuxième Bureau sie aus dem Moulin Noir abgezogen hatte. Es hatte Hinweise gegeben, sie stehe kurz vor der Enttarnung.
Claudette war es gewohnt, allein zu sein. Die Fremde. Die Außenseiterin. Sie war an den Hängen der savoyischen Alpen aufgewachsen, in einem kleinen, sehr konservativen Bauerndorf nahe der Schweizer Grenze. Ihre Mutter stammte aus Algerien, ihr Vater, ein Franzose, hatte beide verlassen, bevor Claudettes Erinnerung einsetzte. Sie hatte das Dorf gehasst. Den Schnee im Winter, die kalten Abende mit der Mutter, die demonstrativ und stumm vor sich hin litt, den protestantischen Pfarrer, der sie scharf im Auge behielt, wenn die Kollekte herumging, die Söhne der Bauern, die ihr »Negerin« nachriefen und die, seit sie zwölf war, versuchten, sie abzupassen und ihr unter das Hemd zu greifen. Bald darauf hatte ihre Mutter sie ins Lyceum nach Grenoble geschickt, in ein staatliches Internat. Dort war sie das Mädchen vom Lande gewesen, das gebrauchte Kleider trug, grauweiße Handtücher von der Caritas benutzte und mit angestrichenen Büchern aus der Leihbibliothek lernte. Aber sie war gut gewesen. Sehr gut sogar. Die Beste ihres Jahrgangs.
Als sich das zierliche junge Mädchen mit den ernsten Augen ein halbes Jahr vor dem Baccalauréat beim Deuxième Bureau bewarb, hatte sie damit gerechnet, dass der Job hart sein würde und vielleicht sogar gefährlich, aber sie hatte sich vorgestellt, dass die Gefahr darin bestehen würde, von feindlichen Agenten niedergeschossen zu werden oder in einem KGB-Gefängnis zu verschwinden.
In den USA absolvierte sie ihren ersten Auslandseinsatz und ihr wurde klar, dass ihr ein ganz anderer Aspekt am meisten zu schaffen machte. Es war ihr Privatleben, das unter ihrem Agentendasein zwischen Hotelzimmer und Flugzeug litt. Sie war Anfang dreißig, allein und auf unabsehbare Zeit nicht in der Lage, einem Mann zu erzählen, was sie in Wirklichkeit tat. Und falls sie es doch einmal erzählen sollte, konnte sie sich keinesfalls sicher sein, ob ein Mann es begreifen oder gar tolerieren würde. Erst recht kein Amerikaner. Auch nicht dieser Jason. Der konnte sich so verständnisvoll geben, wie er wollte.
Sie richtete sich wieder auf, stützte sich auf den Ellbogen, strich sich das schwarze Haar aus der Stirn und schaltete um. FUC. Wieder der Außenminister, aber auf diesem Sender sah er so aus, als trage er zwei Hörnchen auf der Stirn. Sheik Al-Sahhaf also. Sie wusste, dass Al-Sahhaf tatsächlich für den ISI arbeitete. Er war verdächtigt worden, diesen Journalisten in Pakistan umgebracht zu haben, war aber irgendwie wieder aus der Sache rausgekommen. Vielleicht war er unschuldig. Oder aber es lag daran, dass die CIA ihn womöglich ebenfalls bezahlte. Möglicherweise war er auch der Mann, der Geld an die Attentäter des World Trade Centers geschickt hatte. Beim pakistanischen Geheimdienst wusste man nie. Dort verwendete man häufig den gleichen Namen für verschiedene Männer oder gab einem Agenten mehrere Namen.
Mehr noch interessierte sie, wer eigentlich dieser WarriorKahless war. Sie hatte schon vergeblich versucht, seine IP-Adresse herauszufinden. Sein Server war sehr gut getarnt. Es würde wohl einfacher sein, mehr über diese Adresse in Bletchley Park herauszufinden. Das Deuxième Bureau hatte natürlich auch in London eine Niederlassung und die sollte sich darum kümmern, fand Claudette. Vielleicht fand sich dort auch jemand, der wusste, was es mit diesem geheimnisvollen Paket auf sich hatte. Verfärbte Metallstücke?
Sie stand auf, um zu duschen. Bevor sie den Laptop zuklappte, zögerte sie noch einen Moment. Es war nicht ganz fair, Jasons E-Mails anzuzapfen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Und vielleicht konnte er ihr ja sogar helfen. Sie hockte sich im Schneidersitz auf das Bett, zog den Laptop zu sich heran und begann zu tippen.
»Hallo Jason – kannst du dich noch an deine Geschichte über Sheik Al-Sahhaf von vor ein paar Monaten erinnern, die du mir zu verdanken hattest?«
Wenige Minuten später kam die Antwort. »Du meinst, die Geschichte, wegen der ich fast gefeuert worden wäre? Ja klar! Wo bist du? Was machst du?«
Sie lächelte. »Ich bin bei der Arbeit. Könntest du versuchen, so viel wie irgend möglich über diesen Al-Sahhaf in Erfahrung zu bringen? Ich erkläre dir das alles später, versprochen.«
Die Antwort blinkte prompt auf. »Ich sehe mal zu, was ich tun kann. Ich muss nur ein bisschen aufpassen. Mein Chef glaubt inzwischen, ich arbeite zu wenig.«
Nach ein paar Minuten folgte noch eine zweite E-Mail, die unbeantwortet blieb: »Ich vermisse dich und muss dich fragen: Wie kann ich dich erreichen?«
Als Claudette aus der Dusche stieg, liefen die Nachrichten. Ein Bild von einem kleinen Flugzeug im Schnee war zu sehen. Hastig griff sie nach der Fernbedienung und drehte den Ton auf. »… seit langen Jahren Senator für den Staat Minnesota in Washington, ist tot«, sagte der Nachrichtensprecher. »Auch seine Frau und zwei seiner engsten Mitarbeiter sind bei dem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Vermutlich war schlechtes Wetter die Ursache. Möglicherweise liegt aber auch ein Pilotenfehler …«
Es sollte bis zum Abend dauern, bis Claudette die nächste Nachricht von Jason bekam. »Dieser Sheik Al-Sahhaf hat angeblich nichts mit den Geheimdiensten zu tun. Es soll sich dabei um Missverständnisse und Verwechslungen handeln, melden meine Quellen. Mir wurde erzählt, dass er ein ganz gewöhnlicher arabischer Geschäftsmann sei. Wobei ich mir kaum vorstellen kann, dass das stimmt. Interessant ist: Er hat vor kurzem ein Joint Venture gegründet. Eine Agentur für die Privatisierung von Staatsbetrieben sowie für Ex- und Importe aller Art. Mit Sitz in Genf und Dubai. Sein Partner ist Achmed Abul Abbas Al Gossarah.«
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