Am 18. August dieses Jahres ist der Jazzmusiker und Klarinettist Rolf Kühn gestorben. Als Jazzer von internationalem Ruf hat er sich im letzten Jahr zu einem Gespräch mit Simone Rethel-Heesters getroffen. Ein Textauszug aus dem Buch »Alterslos -Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben«.
Rolf Kühn (RK): Wie geht es Dir?
Simone Rethel-Heesters (SRH): [Ich lache.] Das wollte ich Dich fragen! Sag mal, ist Dir nie der Gedanke gekommen, Dich zur Ruhe zu setzen?
RK: Ich kenne das Wort gar nicht.
SRH: Das gefällt mir! Du bist unglaublich beschäftigt, Du bringst fast jedes Jahr eine neue CD raus. Planst Du jetzt wieder eine?
RK: Ja natürlich, ich bin mit den Gedanken schon mittendrin.
SRH: Auf Deiner CD „Yellow and Blue“ habe ich festgestellt, dass Du auch mit ganz jungen Leuten zusammenarbeitest.
RK: Ja, da sind zwei Generationen zwischen uns. Ich habe drei Musikgruppen: Einmal die Neue mit „Yellow und Blue“, die „Units“, das sind ganz wilde Jungs und das Trio mit einer kroatischen Cellistin und einem südamerikanischen Perkussionisten. Und tja, wir sind sehr aktiv!
SRH: Kannst Du denn mit der heutigen Musik wie der Rapp-Musik etwas anfangen?
RK: Nein, gar nichts. Es sagt mir nichts, es berührt mich nicht. Die älteren Aufnahmen mit Tony Bennet, Frank Sinatra, Dean Martin, sind einfach großartig gemacht. Wenn die eine Ballade singen, transportieren sie den Text und das finde ich großartig. Sie erzählen mir eine Geschichte, die mich berührt, aber bei den neueren Musikrichtungen, da passiert es leider ganz selten, dass mich irgendein Text berührt.
SRH: Wärst Du gerne noch mal jünger?
RK: Tja, wenn man das könnte … Also, wenn Du mir 20 Jahre schenken würdest, würdest Du mir eine große Freude machen, natürlich. Aber wenn man sich so fühlt, wie ich mich fühle, Pläne hat, aktiv ist und die Gesundheit spielt mit – das ist doch wunderbar!
SRH: Würdest Du Dich gerne „zurückbeamen“ in die 70er-, 80er-Jahre oder würdest Du sagen: „Wir sind im Hier und Jetzt und ich kriege einfach 20 Jahre geschenkt?“
RK: Das Letztere, weil die Technik in jeder Hinsicht so fortgeschritten und so interessant ist. I-Pads und Tablets spielen eine große Rolle bei mir und machen mir enorm Freude. Ich kann alles hören, was ich hören möchte, auf Knopfdruck. Und jetzt noch 20 Jahre dazu, das ist ja gar nicht auszudenken, wie schön das wäre.
SRH: Ja, die Technik ist doch im Grunde eine unglaubliche Erleichterung für ältere Menschen. Jopie hatte Spaß an neuer Technik. Das Navi etwas fand er ganz toll. Mit der Frau, die die Fahrtrichtung ansagte, unterhielt er sich und sagte: „Das ist ein leichtes Mädchen, die kennt alle Straßen.“ Wenn man bedenkt, er hatte ja noch Kutschen miterlebt und Pferde, die die Straßenbahn gezogen haben.
RK: Ich war damals so zwölf oder 13 und wusste: immer, wenn Jopie nach Leipzig kam, war alles ausverkauft. Ich hätte ihn sehr gerne auf der Bühne gesehen. Ich kannte ihn natürlich von den Filmen. Mir haben seine anliegenden Ohren sehr imponiert, nicht nur die Stimme.
SRH: Ach ja?
RK: Ich dachte: Diese Ohren, die möchte ich auch gerne haben. Und dann las ich in einer Zeitschrift von einem sogenannten „AOB-Verfahren“, das abstehende Ohren zu anliegenden macht. Das hatte mir meine Mutter bestellt. Ich war ganz stolz, jetzt hatte ich die Heesters-Ohren. Aber nach ganz kurzer Zeit – es war nur ein Klebstoff, den man hinter die Ohren schmieren konnte – machte das eine Ohr „plopp“, und plötzlich ….
SRH: … warst Du dann …
RK: … ein halber Heesters. Und dann, zehn Minuten später, machte es wieder „plopp“ und das war’s mit dem AOB-Verfahren. [Wir lachen.]
SRH: Du bist am 9. September 1929 in Köln geboren, aufgewachsen aber in Leipzig, Dein Vater war Zirkusartist.
RK: Ich wollte schon als kleiner Junge auf die Bühne, ich wollte unbedingt Akrobat werden. Ich habe schon als Vierjähriger mit meinem Vater und meinem Onkel, die sich die „Kühnen Brüder“ nannten, trainiert. Schon mit vier Jahren habe ich 100 Flickflacks absolviert.
SRH: Ihr seid auch mit dem berühmten Clown Charlie Rivel aufgetreten …
RK: Mein Vater war mit ihm und seinen Kindern im gleichen Programm. Ich war ungefähr acht, neun Jahre alt und sah die Kinder mit Klarinette und Saxofon bewaffnet. Sie konnten sich toll bewegen, waren hervorragende Tänzer und sehr gute Instrumentalisten. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich sagte mir: das will ich auch können und mit Akrobatik verbinden. Ich war anfangs sehr faul, sodass sich mein Lehrer bei meiner Mutter beschwert hat [er lacht]. Meine Mutter hat mich überzeugt: „Wenn Du keine Lust hast, zu üben, dann lassen wir das einfach, dann wirst Du Straßenkehrer.“ Das hat gewirkt bei mir. Ich wurde ein besessener „Über“ und das bin ich Gott sei Dank bis heute geblieben.
SRH: Als Du zwölf warst, hat Dir Dein Vater die erste Klarinette geschenkt.
RK: [Er lacht.] Ja, neben dem ersten Eindruck mit den Rivel-Kindern, kam eines Morgens eine Sendung im Radio und da war ein Klarinettist dabei. An diesem Morgen wusste ich: Das will ich machen.
SRH: Als Du noch klein warst, sind Deine Mutter und Du bei Deinem Vater mitgereist. Dann kam aber eine schlimme Zeit, denn die Nazis kamen an die Macht und Deine Mutter war Jüdin.
RK: Man hat meinem Vater nahegelegt, sich von meiner Mutter scheiden zu lassen. Er dachte nicht einen Bruchteil einer Sekunde an Scheidung und das war gleichzeitig das Aus für seinen Beruf. Als Strafe für diese Verweigerung hat man ihn dienstverpflichtet, mit schlechter Verpflegung und ganz schwerer Arbeit in der sogenannten Organisation Todt, das war ein Arbeitslager.
SRH: Durch die Ehe mit Deinem Vater war Deine Mutter anfangs geschützt?
RK: Bis Ende 43, 44 galt der Schutz der Ehe, aber kurz vor Kriegsende kam der gefürchtete blaue Brief von der Gestapo. Wir hatten eine befreundete Familie, die ihrerseits mit einem Gestapomann gut befreundet war. Mein Vater durfte ab und zu Wochenende nach Leipzig kommen und so bekam er eine Verabredung mit diesem Gestapo-Offizier im Hauptquartier. Der war zwar ein harter Brocken, aber er sagte: „Ich zerreiße jetzt vor Ihren Augen den Brief. Ich nehme das auf meine Kappe. Das gilt für sechs Monate, dann kann ich nichts mehr für Sie tun. Sie brauchen auch nicht wiederzukommen.“ Das heißt, wenn der Krieg länger gedauert hätte, ein, zwei Monate, hätte meine Mutter weggemusst. Zum Schluss gab es keine Rücksichtnahme mehr.
SRH: Da müsst Ihr ja in einer schrecklichen Angst gelebt haben, – da hat das Ende des Krieges ihr eigentlich das Leben gerettet?
RK: Das ist vollkommen richtig. [Lange Pause.] Ja.
SRH: Kurz nach dem Krieg, hattest du schon ein erstes Engagement?
RK: Das erste Engagement war in einem Kaffeehaus, ich war 16 und spielte mit einer Band nachmittags zum Tee und abends dann zum Tanz. Ich war der jüngste in der Band. Die Leute waren nach dem Krieg hungrig nach Amüsement, die wollten was erleben, die hatten Spaß, der scheiß Krieg war vorbei. Eines Tages kam ein Mann namens Kurt Henkel, der den Auftrag hatte, für den Mitteldeutschen Rundfunk eine Bigband zusammenzustellen. Der hörte mich spielen und engagierte mich leider nicht wegen des guten Klarinettenspiels, er wollte mich als Akkordeonspieler für Tangos haben. Und als er merkte, dass das mit der Band doch ein ziemlicher Erfolg war – gerade wenn ich Klarinette spielte –, [verlegen] das klingt blöd, es war ein jugendlicher Erfolg, man kann ruhig darüber sprechen, ohne großspurig zu klingen. Und plötzlich hatte ich das, was ich wollte, ich konnte solistisch in der Bigband spielen und das hat er mir sogar im Übermaß gestattet.
SRH: Und dann wurde die Jazzpianistin Jutta Hipp auf Dich aufmerksam?
RK: Sie begann unser Gespräch nicht gerade mit einem Kompliment: „Du klingst ja ganz nett, aber ich würde Dir [er lacht] gerne mal einen wirklich guten Klarinettisten auf einer Platte vorführen, der heißt Benny Goodman.“ Ich hatte diesen Namen in der Zone – wie man damals sagte – noch nie gehört und das war wirklich eine Initialzündung. Es war „Halleluja“ und ich bin heute noch begeistert von dieser Aufnahme.
SRH: Später bist Du dann nach Berlin gekommen?
RK: Mit einer Band spielten wir in der Nürnberger Straße in einem Lokal, in dem abends das ganze Music-Department vom RIAS-Berlin als Gäste waren. Die hörten mich spielen und macht mir am gleichen Abend ein Angebot für das renommierte Große RIAS-Tanzorchester.
SRH: 1954 hast Du etwas sehr Gewagtes gemacht: Du wolltest unbedingt Buddy DeFranco kennenlernen und wusstest, wann er am Flughafen Tempelhof landen würde. Du bist mit viel Chuzpe mit einer Freundin, die gut englisch sprach, zum Flughafen Tempelhof gefahren und hast Ihn dort abgefangen, er ist tatsächlich zu Dir in den alten VW eingestiegen und Du hast ihn zum Hotel gefahren!
RK: Ja. Buddy DeFranco war derjenige, der den sogenannten Bebop-Stil auf die Klarinette transferieren konnte und das hatte ich bis dahin noch nicht gehört. Goodman kannte ich dann natürlich in- und auswendig und später habe ich ja auch in seiner Band gespielt. Aber Buddy war ausschlaggebend, um das Spielen in die moderne Spielart umzusetzen. Er erzählte uns wie er aufgewachsen ist, von seinen Erfolgen und seinen Niederlagen, er war sehr offen und nachts um eins sagte er: „Jetzt haben wir die ganze Zeit über mich gesprochen, ich würde gerne hören, wie Du spielst.“ [Er lacht.] Dann stieg der große Buddy DeFranco wieder in meinen alten VW und wir sind nachts noch in meine möblierte Bude, ich habe ihm was vorgespielt und er sagte: „Du musst nach Amerika kommen!“ Das war der Auslöser! Wir sind ein Leben lang Freunde geblieben. Wir haben auch gemeinsam zwei Platten gemacht. Man kann sagen, das war Liebe auf den ersten Blick.
SRH: Was ist denn der Unterschied zwischen Bebop und Swing?
RK: Swing war ja sozusagen der King für die 30er-, 40er- und 50er-Jahre. Charlie Parker und Dizzy Gillespie erweiterten die Swing Art mit ganz neuen Themen, mit neuen Phrasen, mit enormer technischer Brillanz. So hatte vorher noch niemand gespielt! Bebop ist komplizierter als der Swing, mehr Soli, mehr Improvisation. Buddy hatte es umgesetzt für die Klarinette. Ein ganz ungewöhnliches Unterfangen.
SRH: In dem großen Interview mit der „Zeit“, mit der Überschrift: „Rolf Kühn, einer der besten Jazz Klarinettisten der Welt“ hast du gesagt, es gab bei Dir die Leipziger, die Berliner und die New Yorker Periode. Lass uns mal über die New Yorker Periode sprechen. Es war sehr gewagt, dass Du ein festes Engagement beim RIAS aufgegeben hast, um in eine ungewisse Zukunft zu gehen.
RK: Es gehört ein bisschen Mut dazu, Selbstvertrauen, eine innere Sicherheit, um diesen Schritt zu wagen. Ich hatte rückblickend wahnsinnig viel Glück. Der berühmte Konzertpianist Friedrich Gulda, den ich gut aus Berlin kannte, liebte Jazz heiß und innig, und den traf ich am Broadway anlässlich seiner Konzertreise in die USA. Er fragte mich: „Kennst Du John Hammond?“ Er war der Entdecker von vielen weltberühmten Künstlern etwa Goodman Count Basie, Billie Holiday, Ray Charles. Er hat sie alle produziert, er hat sie weltberühmt gemacht. Friedrich Gulda – ich nannte ihn Fritz – sagte: “Soll ich irgendetwas organisieren, damit der Dich mal hört?“ Er hat daraufhin am Broadway ein Studio gemietet und Hammond, mit dem er befreundet war, eingeladen. Wir beide, also Fritz und ich, haben ihm vorgespielt. „Ja“, sagte Hammond, „mir gefällt was ich da höre.“ Ab da ging es wie von selbst. Er hatte mir Engagements vermittelt in den New Yorker Clubs und in Chicago.
SRH: Ich zitiere an dieser Stelle Leonard Feather, der zu Deinem Album „Streamline“, das Hammond produzierte, über Dich schrieb. „Rolf Kühn, die Ankunft eines neuen Meisters. Friedrich Gulda lobt nur selten zeitgenössische Musiker, doch er beharrte darauf, dass dieser junge Deutsche der beste Jazz-Klarinettist sei, den er kenne. Er war von dem Ton, der Phrasierung und der Technik dieses europäischen Klarinettisten überwältigt und überzeugt, den größten Jazz Klarinettisten seit Goodman zu hören.“
RK: Was Hammond für mich gemacht hat, könnte man als schicksalhaftes Glück bezeichnen.
SRH: Du hast auch mit Benny Goodman gearbeitet.
RK: Ja, er hielt große Distanz zu seinen Bandmitgliedern. Aber er war neugierig auf neue Klarinettisten. Ich kann mich an die erste Probe erinnern, er ließ mich ein Solo spielen und ich sah aus den Augenwinkeln, dass ein Lächeln über sein Gesicht huschte und damit war ich engagiert. Man muss mal den Riesensprung von Leipzig bis dahin betrachten. Du kommst an die Quelle der Musik, die du liebst, und sitzt plötzlich in der Band, von der du immer geträumt hast. Ich dachte ich träume und fürchtete ich wache wieder in der sächsischen Nachbarschaft auf.
Allein in New York lebten – ich rede von 1956 – dreißigtausend Musiker, zwanzigtausend ohne Job, ich konnte das alles überspringen und war gleich in der Top-Szene: Goodman, Artie Shaw und Buddy DeFranco, speziell für mein Instrument, diese drei haben mich am meisten beeindruckt.
SRH: Dann frage ich mich, warum Du 1961 wieder aus Amerika zurückgekehrt bist?
RK: Der Gedanke war: viel mehr kann ich nicht erreichen. Es sind einfach zu viele in dieser Stadt und außerdem kamen wirklich tolle Angebote von den deutschen Radiostationen, abgesehen von den familiären Verbindungen, meine Eltern lebten ja noch in Leipzig.
SRH: Dann kam die Berliner Periode: Du warst für 13 Jahre Chefdirigent am Theater des Westens.
RK: Helmut Baumann bekam das Angebot, als künstlerischer Leiter ans Theater des Westens zu gehen, und fragte mich unvermittelt, ob ich Lust hätte, das mit ihm zusammen zu machen. Es war eine große Herausforderung, ich habe das Orchester so übernommen, wie es war und wir haben hart gearbeitet, Orchester-Arbeit und Bühne sind zwei ganz verschiedene Dinge. Ich sehe es als Erweiterung des musikalischen Horizonts. Die Bühne war eine ganz wichtige Zeit für mich, um andere Musikarten kennen zu lernen.
SRH: Was kannst Du heute besser als vor 70 Jahren?
RK: Ich versuche, immer Neues in Bezug auf das Instrument rauszufinden, um alles noch mehr zu perfektionieren. Es ist nach wie vor spannend und ich hoffe diese Art Spannung hört nie auf.
SRH: Bist Du gerne mit älteren Menschen zusammen?
RK: Ältere Menschen interessieren mich eigentlich herzlich wenig, ganz einfach, weil viele von ihnen negativ eingestellt sind und keine Neugierde mehr haben. Die haben alles erlebt – glauben sie zumindest. Und die meisten werden leider im Alter zu Egomanen und es geht um nichts weiter als um die eigenen Belange. Das heißt, sie verlieren jegliches Interesse, du kannst weder über Theater noch über Ausstellungen oder sonst was mit ihnen reden, nein. Es hat sich natürlich zusätzlich eine gewisse Gelassenheit eingestellt, dass man alle Dinge, mit denen man jetzt in diesem Alter zu tun hat, mit Abstand sehen kann, das finde ich gut. Das wirst Du noch merken, in 40 Jahren etwa …
SRH: [Ich lache.] Ja, aber die Neugierde will ich mir auch weiterhin erhalten. Also fühlst Du Dich jetzt eigentlich Deinem Alter entsprechend?
RK: Ich fühle mich jedenfalls nicht in dieser Altersklasse, in der ich mich bewege – mit Sicherheit nicht. Sonst könnte ich nicht eisern bei Wind und Wetter zum RIAS zum Üben gehen, täglich zwei Stunden konsequent. Das würde ich gar nicht schaffen.
SRH: Improvisierst Du viel?
RK: Ich versuche, verschiedene Stimmungen auf dem Instrument herzustellen, was gar nicht so einfach ist. Das konnten nur diese paar Leute, die es auf diesem Instrument damals zu Weltruhm gebracht haben, wie Benny Goodman oder Artie Shaw. Die konnten ihre Persönlichkeit zeigen, genau wie ein Sänger das kann. Nach zwei Takten wusste man, das ist Sinatra und bei den Klarinettisten, das kann nur der Goodman sein. Nur, wie entwickelt man dieses ganz Eigene, was man nur selbst hat? Das sind bekanntlich die letzten drei Stufen, und die schwersten in diesem Beruf. Das ganz Eigenständige, das Unverwechselbare, das ist das größte Anliegen, das man als Musiker haben sollte. Man muss wegkommen von jeglicher Imitation, du darfst kein Nachahmer sein. Es gibt Millionen Saxophonisten, die spielen alle gut, die kennen ihr Instrument. Das hat nur keine Bedeutung, weil sie austauschbar sind, weil sie Imitatoren bleiben. Das ist der springende Punkt.
SRH: Hattest Du Angst vor Älterwerden?
RK: Nein, ich habe die Dinge immer so hingenommen, wie sie sind. Man kann sich wie 50 fühlen, aber man muss es ja nicht. Und ich habe mich für das Letztere entschieden.
SRH: Hältst Du es für wichtig, mit der Zeit zu gehen?
RK: Ja natürlich. Ich kann nicht von der alten Zeit träumen, ohne die neue kennen gelernt zu haben.
SRH: Ein schöner Satz. Dass Antisemitismus und Nationalismus leider wieder so, auf dem Vormarsch sind, beängstigt Dich das?
RK: Ja, da ich durch meine Familienverhältnisse eine Menge durchmachen musste, interessiert mich das schon. Es ist beängstigend, dass es nicht nur in diesem Land, sondern auch in vielen anderen Ländern in diese Richtung geht, das ist schwer nachzuvollziehen. Es ist sehr beunruhigend, dass die ganzen Schwerstverbrechen, die stattgefunden haben, langsam, aber sicher in Vergessenheit geraten.
SRH: Du hast in Deinem Buch von der Diskriminierung der schwarzen Musiker in den USA erzählt.
RK: Ja, das war sehr erschütternd und ich fühlte mich wieder in die Nazi-Zeit zurückversetzt, weil ich die Stories schon kannte: „für Juden verboten.“ Und wenn Du jetzt selbst mit weltberühmten schwarzen Musikern, die jeder Mensch auf dieser Welt kennt, unterwegs bist, kommst in den Süden Amerikas und die werden in jedem Hotel, das nur ein bisschen überdurchschnittlich ist, abgelehnt, weil sie schwarz sind, ist das verstörend.
SRH: Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod?
RK: Ja, ich glaube es fehlt da oben ein guter Klarinettist …
SRH: Du kennst ja einige, die da oben sind …
RK: … und die sollen auch mal Pause machen können. Ich glaube, mittlerweile kann ich ganz gut mit denen konkurrieren.
SRH: Ich habe in deiner Biografie „Clarinet Bird“ drei Wünsche von Dir entdeckt, die ich gerne übernehmen würde.
RK: Ich weiß, was Du meinst:
Dass mein innerer Spirit so bleibt, wie er es immer in meinem Leben war.
Dass mir meine unendliche Neugierde erhalten bleibt, immer offen zu sein für neue Dinge und Klänge.
Und Gesundheit, um meine Wünsche zu erfüllen.
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Sehr schönes Interview und den 3 Wünschen schließe ich mich voll an.
Ruhe in Frieden mit dem Spiel der Klarinette.
Tut gut dieser Artikel, zeigt er doch auf was Muse ausmacht.
Dank für das Interview
Meine tiefe Verneigung vor einem großartigen Musiker und Mensch. Danke für diese Zeilen.