Wie schaffen wir es, die Menschen auf dem Weg zu einer wirklich gerechteren Gesellschaft mitzunehmen und nicht unterwegs aufgrund zu starker Polarisierung zu verlieren?
Darüber hat sich Markus J. Karsten mit dem Psychologen und Autor Bernhard Hommel unterhalten. Hommels Buch »Gut gemeint ist nicht gerecht« setzt sich mit der so genannten Wokeness auseinander.
Karsten: Ich habe gelesen, dass Sie in den Achtzigerjahren das Binnen-I benutzt haben und Ihr damaliger Professor riet Ihnen, dies zu lassen, weil es nicht im Duden stand. Und seitdem machen Sie es nicht mehr. Stimmt das?
Hommel: Nein, es hat sich einfach niemand mehr dafür interessiert. Bei mir fühlten sich immer alle auch vom generischen Maskulinum angesprochen und so bin ich bis heute gut durchs Leben gekommen. Mein Problem ist nicht, dass es Neuerungen gibt, aber ich muss verstehen, wofür sie gut sind. Wenn mir jemand erklärt, dass es mit den Frauenrechten signifikant nach vorne ginge, dann wäre ich der Erste, der gendert bis zum Abwinken.
Karsten: Es ist ja schon im Titel festgehalten: Gut gemeint ist nicht gerecht. Ihr gesamtes Buch fragt danach, ob diese ganzen Techniken, die teils oktroyiert werden, teils aus der Gesellschaft herausgewachsen sind, tatsächlich dazu führen, dass eine Gesellschaft gerechter wird. Wie würden Sie den aktuellen Stand beschreiben?
Hommel: Was mich umtreibt ist: Warum möchte man bestimmte Dinge überhaupt erreichen? Gerechtigkeit klingt gut, aber warum? Die andere Frage ist: Wenn wir uns auf Ziele geeinigt haben, erreichen wir diese dann durch die Methoden, die im Moment angewandt werden? Gerechtigkeit ist ein abstrakter Begriff. Er wird zum Beispiel festgemacht an der Verteilung der Geschlechter in DAX-Vorständen. Jetzt kann man sich fragen, ob das ein vernünftiges Kriterium ist. Sollte man nicht Frauen fragen, was sie gerne machen möchten und nicht stillschweigend voraussetzen, dass die durchschnittliche Frau in Deutschland gerne im DAX-Vorstand sitzen würde? Und warum kümmert man sich beispielsweise nicht genauso um Friseurangestellte? Das Gendern wird oft in Zusammenhang gebracht mit der Berufswahl.
»Gerechtigkeit ist nur ein argumentativer Trick«
Karsten: Ich möchte nicht versuchen, Ihnen etwas Politisches zu entlocken. Aber wenn wir doch feststellen, die Quote in DAX-Vorständen scheint wichtig zu sein, trifft aber nicht das Gerechtigkeitskonzept, denn das müsste umfassender formuliert werden, ist das dann nicht ein Hinweis darauf, dass es um etwas anderes geht?
Hommel: Insgesamt hat das alles mit Identitätspolitik zu tun. Es geht dabei um die Verteilung von Ressourcen. Es geht letztlich um Geld und Macht, Gerechtigkeit ist nur ein argumentativer Trick um die zu erlangen.
Karsten: Wir leben in einem Land, in dem jedes fünfte Kind an der Armutsgrenze lebt. Es vergeht gleichzeitig kein Tag ohne identitätspolitische Auseinandersetzungen. Damit nähern wir uns wieder dem Gerechtigkeitsbegriff.
Hommel: Diese Kinder haben ja keine Lobby. Über sie wird vielleicht mal ein Feature im ARD gedreht. Aber da sind keine Leute, die Forderungen stellen.
Karsten: Ich habe kürzlich von einem Experiment gehört, in dem Personen in eine Interviewsituation geschickt wurden, um herauszufinden, ob sie sich benachteiligt fühlen, wenn man ihnen einen Makel in Form einer Warze im Gesicht anhaftet. Diese wurde also extra angebracht. Was man ihnen nicht gesagt hat, war, dass man diese Warze wieder weggenommen hatte. Sie hatten also gar keinen Makel. Und trotzdem haben sie sich benachteiligt gefühlt.
Hommel: Ich kenne ein Experiment, indem wurde die Frage gestellt: Glaubst du, dass Gendern für die Gerechtigkeit der Frau eine Rolle spielt? Für die Leute, die nicht daran glaubten, waren auch alle Effekte des Genderns gleich null. Wir kennen das Phänomen als den Placeboeffekt. Wenn man dran glaubt, dann funktioniert es.
»Wenn ich woke bin, erkenne ich auch deutlich mehr Rassismus im Alltag als andere«
Karsten: Das ähnelt dem Experiment mit der Warze.
Hommel: Genau. Außerdem sind viele Sachen, die wir im Alltag erleben, interpretationsfähig. Zum Beispiel: Ich kriege hier eine Frage gestellt. Dann kann ich überlegen: Was denkt er sich? Warum stellt er die Frage? Wieso mir? Warum jetzt? Vieles kann ich niemals ergründen und vielleicht wissen Sie diese Dinge selbst nicht, denn Sie waren einfach intuitiv. Wenn wir woke sind, dann sind wir dazu geneigt, eine diskriminationsbezogene Kategorie als Erste zu benutzen bei jedweder möglichen Interpretation. Mit anderen Worten: Wenn ich mich dauernd und ausschließlich mit Rassismus beschäftige, dann erkenne ich auch deutlich mehr Rassismus im Alltag als andere.
Karsten: Harald Schmidt hat vor ein paar Monaten gesagt, die meisten Leute wüssten überhaupt nichts von woke. Ist das ein Thema der Eliten oder Oberschichten?
Hommel: Man kann vermuten, dass es nicht so weit verbreitet ist, weil es ein amerikanisches Konzept ist. Und man kann sich fragen, warum es überhaupt entwickelt wurde. Eine der möglichen Theorien hat damit zu tun, dass den Linken die Klientel wegläuft, denn früher gab es sehr viele Arbeiter. Heute sind die meisten Arbeiter in den Fabriken Roboter.
Karsten: Ein zentraler Begriff in Ihrem Buch ist die Diskriminierung. Der Begriff wird oft benutzt, aber ich könnte mir vorstellen, dass es Unschärfen gibt. Stimmt das aus wissenschaftlicher und psychologischer Sicht?
Hommel: Eigentlich nicht, denn einer meiner wichtigsten Grundsätze als Wissenschaftler ist der, dass gute Definitionen das Ergebnis von Forschung und nicht ihre Voraussetzung sind.
»Ich würde das nicht als Generationkonflikt abbilden wollen«
Karsten: Das erschreckt mich, weil wir diesen Begriff so oft und so viel verwenden.
Hommel: Im Deutschen ist er eher negativ konnotiert, aber zunächst mal ist dieses Wort »Diskriminierung« neutral, denn es heißt einfach nur, dass ich einen Unterschied mache.
Karsten: Sie führen in Ihrem Text aus, dass es bei Diskriminierung auch darum geht, dass sich jemand gekränkt fühlt. Was versteht der Psychologe unter einer Kränkung?
Hommel: Da gibt es keine spezielle Definition. Aber sie hat etwas mit der Erwartungshaltung zu tun. Wenn ich eine überspitzte Erwartungshaltung habe und denke, dass mich jeder beleidigen will, dann ist es auch wahrscheinlich, dass ich mich sehr schnell von sehr vielem gekränkt fühle.
Karsten: Sie schreiben an einer Stelle über Journalisten, die gesagt haben, es sei egal, ob etwas böse gemeint war oder nicht. Es sei allein wichtig, wie es gewirkt hat. Ich habe den Eindruck, dass sich manchmal Leute einmischen, die gar nicht Adressat der möglichen Kränkung waren, sich aber in gewisser Weise exponieren. Ist es also möglich, dass das Konzept auf dritte Unbeteiligte attraktiver wirkt? Wenn es so wäre, dann wären diese Dritten diejenigen, die die Kränkung oder die Diskriminierung erst auslösen, denn bei dem Adressaten kam es ja gar nicht so an.
Hommel: Viele dieser Dinge sind nicht neu. Wir sind es eigentlich gewöhnt, das individuell auszuhandeln. Wir sorgen für Gerechtigkeit und wissen, wie diese funktioniert und jeder, der nicht nach dieser handelt, vergeht sich an unserer Gerechtigkeit. Das ist ist die moralische Keule. Die Betroffenen packen sie eher nicht aus.
Karsten: Hat es etwas mit einer eigenen Überhöhung zu tun, wenn sich vornehmlich jüngere Leute als Dritte einmischen? Ist das ein Movens?
Hommel: Eine individuelle Psychoanalyse möchte ich da nicht betreiben. Aber insgesamt ist klar, dass es die Klasse und die Eigenschaften von Heilslehren und deren Verkündung hat. Wenn man sich fragt, warum es die gegeben hat und was so attraktiv daran ist, ein Verkünder dieser Heilslehren zu sein, dann ist es die eigene Erhöhung, die Sichtbarkeit. Es ist nämlich eine spitzenmäßige Geschichte, wenn ich als Ritter für die Gerechtigkeit in die Geschichte eingehe. Ein besseres Image kann man sich kaum vorstellen. Ich würde dies allerdings nicht auf junge Menschen beschränken. Es gibt ganz viele junge Leute, die das gar nicht so sehen und viele ältere Leute, die das sehr wohl so sehen. Ich würde das nicht als Generationenkonflikt abbilden wollen.
»Das die systematische ideologisch abgesicherte Entwertung jeder möglichen Gegenargumente«
Karsten: Ich wollte auch nur sagen, dass innerhalb der befürwortenden Gruppe jüngere Leute ein großer Treiber sind. Ich mache es so aus, weil dieses Konzept aus den Universitäten in Amerika entstammt. Dann liegt es auch nahe, dass es zunächst mal in deren Ohren attraktiv klingt.
Hommel: Ja, vielleicht. Das müsste man sich empirisch anschauen. Aber ich glaube, der Knackpunkt, warum das so eine coole Sache ist, hat mit den Identitätskonflikten eines marxistischen Oben-Unten-, Arm-Reich-, Gut-Böse-Schemas zu tun. Die ganze Rhetorik ist genau dieselbe, nur dass sie jetzt nicht mehr auf Arm und Reich angewandt wird, sondern jetzt sind es Weiße versus Schwarze, Frauen versus Männer und so weiter. Aber die Rhetorik ist exakt dieselbe. Und der superattraktive Ansatz ist der: Wenn ich Forderungen stelle und mich exponieren möchte als jemand, der etwas definitiv will, dann muss ich mich immer auf Gegenwind vorbereiten. Konflikte erleben wir alle nicht gerne, vor allem bei Sachen, die uns wichtig sind. Dann finden wir Gegenargumente besonders schlecht und normalerweise kann ich mich dann in eine Bubble zurückziehen und mich so vor Gegenargumenten schützen. Das ist gut. Aber wenn ich politisch tätig bin, ist das nicht immer möglich, denn ich muss mich ja exponieren. Wenn ich jetzt aber mit Marcuse die Legitimation habe, die Gegenargumente systematisch zu unterminieren, indem ich sage, dass die gar nicht gelten, so wie ich es bei Alice Hasters und bei anderen identitätspolitischen Büchern sehe, die sagen »Was weiße Menschen sagen, interessiert mich überhaupt gar nicht«, dann ist das die systematische ideologisch abgesicherte Entwertung jeder möglichen Gegenargumente. Egal wie vernünftig, stark oder gut unterstützt sie sind oder sein mögen. Das ist genial.
Karsten: Herr Hommel, danke für das Gespräch, welches wir hoffentlich bald mal fortsetzen. Wir sehen uns in ein paar Wochen in Deutschland. Wie wird jetzt weiter geforscht in China?
Hommel: Ich muss zunächst einmal an dem Mindset hart arbeiten. Der Chinese hat eine gewisse traditionelle Grundeinstellung. Daran ist nichts verkehrt, aber wenn man den nächsten Schritt machen möchte in der Weltposition, in der Wissenschaft und große Ambitionen hat und Leute bezahlt wie mich, die ihnen dabei helfen, dann wird das nicht ohne Veränderung gehen. Und das ist im Moment die große psychologische Auseinandersetzung oder Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Wenn wir die schaffen, dann kommt auch wirklich interessante Forschung.
Karsten: Da habe ich jetzt doch noch eine allerletzte Frage. Nimmt man in China im Augenblick die westliche Politik als aggressiver gegenüber China wahr?
Hommel: Ich glaube, insgesamt wird man als Westler überrascht sein, wie wenig sich die Chinesen dafür interessieren. Das ist ein großes Land und sie kümmern sich vor allem um sich selbst. Nicht unbedingt narzisstisch, sondern ehrlich und aufrichtig. Sie stellen sich ihren Problemen und gehen davon aus, dass andere Länder sich auch ihren stellen. Sie sind insgesamt wenig dazu geneigt, anderen Leuten Ratschläge zu geben und dementsprechend aber auch nicht wirklich offen für Ratschläge von anderen. Also darf man aus der westlichen Sicht nicht überschätzen, was man hier erreichen kann.
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“Sollte man nicht Frauen fragen, was sie gerne machen möchten und nicht stillschweigend voraussetzen, dass die durchschnittliche Frau in Deutschland gerne im DAX-Vorstand sitzen würde? Und warum kümmert man sich beispielsweise nicht genauso um Friseurangestellte? Das Gendern wird oft in Zusammenhang gebracht mit der Berufswahl.”
So ist es. Die Genderisten findet man auch selten auf Demos für Lohnerhöhungen und ihre Kinder gehen in Gegenden zur Schule wo man die Kinder der Friseurinnen und Aldi-Kassiererinnen mit der Lupe suchen muss. Eine elitäre Clique feiert sich selbst.
Was im Artikel fehlt bzw. einen weiteren Artikel wert wäre ist das ESG-Scoring (Environmental, Social, Governance), das mittlerweile in Kreditratingagenturen wie Fitch, Moody etc eingezogen ist. Diversität ist Teil des S. und somit nicht mehr nur eine moralische Selbsterhöhung einer elitären, meist grünen, Gruppe, sondern ab hier kann es richtig ernst werden und viel Geld kosten, diese Aspekte nicht zu berücksichtigen.
https://www.unpri.org/credit-risk-and-ratings/esg-in-credit-ratings-and-esg-ratings/11071.article
Heißt also z.B., dass unter Umständen Positionen primär nach Diversitätsaspekten vergeben werden müssen, damit ein Unternehmen nicht im Kreditrating absinkt und damit sein Unternehmen gefährdet. Es zählt also nicht mehr primär die Qualifikation des Bewerbers, sondern die Diversitätsquote. Wenn jemand “diverses” kündigt, kann das richtigen Stress erzeugen, weil ein neuer “diverser” gefunden werden muss, um das Rating zu halten.
Kein Scherz, nicht mal spinnerte Zukunftsvisionen, sondern schon da. Dagegen ist das Gendern fast schon Kinderkram, obwohl es m.E. die Sprache verhunzt und manche Texte zur Unleserlichkeit verstümmelt. Eine farbige Aldikassiererin dürfte sich kaum davon angesprochen fühlen.
https://www.techtarget.com/sustainability/definition/ESG-score#:~:text=An%20ESG%20score%20is%20a,around%20the%20topic%20has%20grown.
Jede Privatsphäre wird vermarktet, das hatte die Tabakindustrie vor langer Zeit in Form der Frau erkannt. Die 60er wurden mit Opiate und freien wilden Sex mit einer Koke in der Hand salonfähig gemacht. Heuer wird das Baby über Kleinkind, Erwachsene und die alten mit jedem Müll überhäuft. Selbst im Krieg schaut man nach Organen, Menschen zum verhökern.
Also wenn das eine gepriesene Zivilisation ist, könnte man auch alternativ schreiben :
Postmoderne Sklaverei unter den Deckmantel Demokratie.
Super-sexy-mini-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola
Früher war alles besser, sogar die Zukunft!
ich kenne tatsächlich sehr viele menschen, deren psychischer grundzustand einem nahezu ständigen abscannen der umgebung nach potentiellen provokationen, und angriffen, gegen die eigene person gleichkommt. die erschütterungen und erosionen der zementierten weltbildern, die noch in den anfängen der 2000er ohne EIGENE anstrengungen zu haben waren, haben diesen grundzustand noch verschärft. zuviele fallen dabei zurück in historische politische rollen.
ich sehe da leider kein gutes ende kommen, wenn man beides zusammenzählt und mti dem vergleicht was auch in anderen ländern abläuft. das letzte stadium des maskierten kapitlaismus ist längst eingeläutet. was danach kommt ist schon nur noch kulturlose barbarei.
aktuell gibt es eine Empörungsorgie weil angeblich zwei U21 Nationalspieler rassistisch beleidigt worden sein. Man erfährt allerdings nicht was das gesagt oder gepostet wurde.
Muss immer an die geschichte mit Ofarim denken.
Identitätspolitik ist aus meiner Sicht wie das Klatschen für Krankenschwestern während Covid 19. Kostet nichts, und nichts ändert sich. Die Supereichen werden reicher, die Armen werden ärmer, aber alle fühlen sich trotzdem gut.
Das besonders in der jungen Bevölkerung vorhandene Gerechtigkeits-Empfinden wird auf Bereiche umgelenkt, die die Eliten nicht groß bei ihren Raubzügen stören. Ist doch genial!