Intellektuelle Bankrotterklärung

Pankaj Mishra
Sriya Sarkar, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

In seinem neuen Buch über den mutmaßlichen Genozid in Gaza geht der indische Starintellektuelle Pankaj Mishra wieder einmal hart mit dem Westen ins Gericht. Besonders heftig trifft seine Kritik Deutschland.

Emran Feroz hat ihn interviewt.

 

Feroz: In Ihrem jüngsten Werk „“Die Welt nach Gaza“ schreiben Sie unter anderem auch über ein Bild von Mosche Dajan, das einst in Ihrem Zimmer hing und die prozionistische Haltung ihrer Familie verdeutlichte. Ich muss zugeben, dass ich damit nicht gerechnet habe. Was genau hat es damit auf sich?

Mishra: Damals war ich noch sehr jung und nicht einmal zehn Jahre alt. Wir sprechen hier über die späten Siebziger Jahre.  Aber offensichtlich hatten die Erwachsenen um mich herum eine sehr starke Verbundenheit mit dem Staat Israel. Und diese Verbundenheit sieht man auch heute in verstärkter Form bei den buchstäblich Millionen von hindu-nationalistischen Anhängern Netanjahus. Ich denke, der Grund, warum sie Netanjahu unterstützen, ist im Wesentlichen der gleiche Grund, warum meine Verwandten und die Menschen um mich herum damals Israel unterstützten. Israel erschien uns sehr geschlossen, geeint und stark – und vor allem war es gnadenlos gegenüber seinen Feinden. Genau das wollten wir nachahmen, weil wir das Gefühl hatten, wir seien zu weich. Wir waren nicht stark genug, nicht robust genug, nicht aggressiv genug gegenüber unseren Feinden, während Israel mit seinen Feinden, insbesondere Muslimen, in der einzigen Sprache umging, die sie scheinbar verstanden: Gewalt und noch mehr Gewalt. Das war die Grundlage dieser Faszination für Israel. Wir wussten nicht viel über die jüdische Geschichte und auch nicht viel über den Holocaust. Israel war ein stolzer Nationalstaat, der expandierte und seine arabisch-muslimischen Feinde besiegt hatte. Das war das Wichtigste.

Feroz: Interessant ist auch, dass es damals – im Gegensatz zu heute unter dem Modi-Regime in Indien – zwar viele hindu-nationalistische Israel-Unterstützer gab, aber der politische Mainstream in Indien, insbesondere rund um Jawaharlal Nehru und seiner Kongresspartei, sehr pro-palästinensisch war.

Mishra: Bis in die 1940er-Jahre waren alle großen indischen Anti-Kolonialisten äußerst mitfühlend gegenüber den europäischen Juden, besonders auch gegenüber jenen, die nach Palästina gehen wollten. Es gibt zahlreiche Aussagen von Gandhi oder Nehru, die ihr Mitgefühl für den Wunsch vieler Juden ausdrücken, nach Palästina zurückzukehren. Aber dann, als klar wurde, dass ein jüdischer Nationalstaat in Palästina mit westlicher Waffengewalt und imperialistischer Unterstützung entstehen würde, begann sich diese Haltung zu ändern. Und so hatte Indien nach seiner Unabhängigkeit 1947 eine sehr pro-palästinensische Politik. Es erkannte sofort, dass die Palästinenser enteignet wurden. Indien war unter anderem an den UN-Diskussionen über eine mögliche Lösung beteiligt und schlug einen föderalen Plan vor, der abgelehnt wurde. Indien war von Anfang an in diese Angelegenheit involviert und stand nach 1948 fest auf der Seite der Palästinenser, die als die eigentlichen Opfer des Konflikts gesehen wurden. Und diese Unterstützung dauerte Jahrzehnte an – bis in die jüngste Vergangenheit. Palästinensische Führer, Aktivisten und Schriftsteller besuchten regelmäßig Indien, und es gab viele palästinensische Studenten an indischen Universitäten. Als ich mit meinem Studium begann, lernte ich viele von ihnen kennen, und durch sie bekam ich eine andere Perspektive auf die Geschichte Israels.

Feroz: Ist es aus Sicht vieler unterdrückten Gruppen dennoch nicht nachvollziehbar, dass “die Juden” ihren eigenen Staat haben und dass das im Grunde genommen eine gute Sache ist?

Mishra: Ja, natürlich. Aber diese Frage ist nicht in gutem Glauben gestellt. Juden haben tatsächlich ein größeres Recht auf ihren Nationalstaat als viele andere historisch unterdrückte Minderheiten. Aber dieser Nationalstaat – wie jeder andere auch – hat kein Recht, gewalttätig und unterdrückerisch zu werden oder täglich Kriegsverbrechen zu begehen.

Feroz: Eine Randnotiz, an die ich mich in diesem Kontext oftmals erinnere: Es gibt in der Region auch viele Menschen, die die Entstehung Israels mit der Gründung Pakistans vergleichen. Was denken Sie darüber?

Mishra: Darüber wurde schon des Öfteren geschrieben und ich denke, es gibt wichtige Punkte, die man erwähnen muss. Die Idee eines Heimatlandes für eine ethnisch oder religiös definierte Bevölkerungsgruppe, in dem diese Mehrheit die Kontrolle hat, verbindet offensichtlich Pakistan mit Israel. So verhält es sich allerdings mit jedem ethno-religiösen Nationalismus.

Feroz: Gleichzeitig sieht man oft auch, wie Regierungen wie die pakistanische das Thema Palästina für ihre eigenen Zwecke missbrauchen, während sie oftmals Minderheiten im eigenen Land, wie etwa die Belutschen, Paschtunen oder afghanische Geflüchtete, unterdrücken.

Mishra: Natürlich nutzen viele Regierungen im Globalen Süden solche Themen aus. Die pakistanische Regierung instrumentalisiert Kaschmir, um ihre eigenen Missstände zu vertuschen – so etwas passiert ständig. Aber trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung die palästinensischen Bestrebungen unterstützt.

Feroz: Eine der schlimmsten Katastrophen unserer Zeit findet aktuell im Sudan statt. Warum hören wir Ihrer Meinung nach darüber zu wenig?

Mishra: Ganz einfach, weil die westlichen politischen und medialen Eliten die Katastrophe im Sudan nicht unterstützen oder diejenigen angreifen, die sich dagegen aussprechen. Auch im Kongo, in Myanmar und an vielen anderen Orten spielen sich Katastrophen ab, aber die Steuergelder westlicher Bürger ermöglichen diese nicht direkt.

Wider dem Eurozentrismus

Feroz: Denken Sie, dass der Globale Süden ein viel stärkeres Bewusstsein hat, wenn es um Palästina geht – besonders im Vergleich zur westlichen Welt und insbesondere im Vergleich zu den deutschsprachigen Ländern, allen voran Deutschland, das Sie in Ihrem jüngsten Werk heftig kritisieren?

Mishra: Ich denke, weil die Deutschen bzw. die deutschsprachigen Länder so schlecht über die Geschichte des Kolonialismus gebildet sind, sind sie auch extrem schlecht über ihre eigene koloniale Geschichte informiert. Über den britischen, französischen, belgischen oder italienischen Imperialismus und Kolonialismus herrschen große Bildungslücken. Das ist meine eigene Erfahrung.

Sie wissen wahrscheinlich nicht, in welchem Ausmaß weiße Privilegien und weiße Vorherrschaft bis heute weltweit verachtet werden, und zwar von der Mehrheit der Weltbevölkerung. Sie wissen vermutlich auch nicht genug über das „Jahrhundert der Demütigung“, von dem die Chinesen sprechen, als China von westlichen Mächten – einschließlich Deutschland – unterworfen wurde. In Abwesenheit dieses Wissens bleiben sie in ihren eigenen Narrativen über Israel und den Holocaust gefangen.

Viele Menschen im Globalen Süden sind mit einer gänzlich anderen Perspektive auf die Geschichte aufgewachsen. Für sie war der westliche Imperialismus eine zutiefst zerstörerische Kraft, deren Wunden in den betroffenen Gesellschaften bis heute geblieben sind. Die westlichen Imperialisten haben nicht nur Land und Ressourcen gestohlen und sich angeeignet, sondern sie auch kulturell und gesellschaftlich degradiert, indem sie eine rassistische Hierarchie errichteten. Für viele Menschen im Globalen Süden war der Imperialismus in gewisser Weise die Praxis, die den Nationalsozialismus und Faschismus in Europa erst möglich gemacht hat. Was Hitler in Europa tat, war etwas, das Europäer in Asien und Afrika bereits seit langer Zeit taten – einschließlich genozidaler Gewalt.

Das ist etwas, das viele Menschen im deutschsprachigen Raum meiner Meinung nach nur sehr schwer verstehen können. Aber sie sollten versuchen, es zu verstehen, wenn sie nachvollziehen wollen, wie der Globale Süden diese Situation sieht.

Sie könnten sogar damit anfangen, Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu lesen, das eine sehr umfassende Darstellung der Vorgeschichte des Holocaust enthält. Die Ideologien, die entmenschlichende Rhetorik, die Konzentrationslager – all das waren Konzepte, die in den Kolonien perfektioniert wurden, bevor sie nach Europa gebracht wurden.

Feroz: Innerhalb des deutschen Bildungssystems lernt man viel über die Singularität des Holocausts und weniger über die Zusammenhänge mit Rassismus und Kolonialismus. Warum tun sich viele Menschen schwer damit?

Mishra: Ich denke, man – allen voran Deutschland – will seine eigene nationale Erzählung bewahren. Man will weiterhin auf der Singularität des Holocausts bestehen, um die bestehenden Beziehungen zu Israel aufrechtzuerhalten, lukrative Waffengeschäfte mit ihnen zu machen und sich gleichzeitig weiterhin als moralisch überlegen und tugendhaft fühlen. Das sind im Grunde die Imperative, die der weit verbreiteten deutschen und österreichischen Ignoranz gegenüber der längeren Geschichte moderner Gewalt und des gewaltsamen Kolonialismus zugrunde liegen.

Feroz: Ist es dennoch so schwer nachvollziehbar, dass die Praktik und das Handhaben der “deutschen Staatsräsonspolitik” mit der eigenen Schuld zu tun hat?

Mishra: Nein, das ist nicht schwer zu verstehen. Aber worauf zielt die deutsche Politik eigentlich ab? Soll damit ein rechtsextremer und international gesuchter Krimineller wie Netanjahu unterstützt werden – oder Israels Demokratie und Zivilgesellschaft im Kampf gegen korrupte Demagogen wie ihn? Wenn die deutsche Politik meint, Israel zu unterstützen bedeute, Netanjahu in allem, was er tut, den Rücken zu stärken, dann wird der Rest der Welt gezwungen sein zu dem Schluss zu kommen, dass Deutschland – wo derzeit mit der AfD eine neonazistische Partei in den Umfragen führt – erneut an einem Völkermord mitschuldig ist, zum zweiten Mal in 80 Jahren, und dass all seine Institutionen erneut versagen.

Entmenschlichung in der Berichterstattung

Feroz: Ein großer Teil dieser fehlerhaften Bildung hängt auch mit der Medienberichterstattung aus dem Globalen Süden zusammen. Sie erwähnen eine Anekdote über die Auslandskorrespondentin Martha Gellhorn, die 1961 über “hasserfüllte” palästinensische Geflüchtete schrieb. Das Problem ist doch, dass diese Art der Berichterstattung bis heute sehr präsent ist.

Mishra: Die Entmenschlichung ist in vollem Gange. Es gibt mittlerweile zahlreicher öffentliche Äußerungen von ranghohen, israelischen Politikern, die behaupten, in Gaza gäbe es keine unschuldigen Menschen. Diese Rhetorik und dieser Hass werden dann auch von anderen Menschen, etwa Journalisten, übernommen. Ich denke, es gibt eine bestimmte Art des Schreibens und Denkens über den Nicht-Westen, über den Globalen Süden, über Asien und Afrika. Schon seit sehr langer Zeit betrachten westliche Journalisten den Osten als eine Art Karrierechance, bei der Kriege journalistische Karrieren ermöglichen. Kriege machen sie zu Schriftstellern und zu berühmten, erfolgreichen Bestsellerautoren.

Diese Art von Mechanismus existiert schon seit dem frühen 20. Jahrhundert. Leider ist das eine Folge der enormen Ungleichheit in der Welt des Journalismus. Und die Tatsache, dass alle großen journalistischen Institutionen in Europa und den USA angesiedelt sind, verleiht ihnen eine gewisse Monopolstellung.Dadurch gelingt es ihnen auch, fehlerhaftes Wissen und verzerrte Vorstellungen über Jahrzehnte hinweg als Wahrheit zu verkaufen. Ich denke, das hängt mit der unverhältnismäßigen Macht zusammen, die sie besitzen.

Feroz: Sie schreiben, dass der Holocaust nicht nur durch den sehr alten, tiefverwurzelten, europäischen Antisemitismus möglich wurde, sondern auch durch technologische Entwicklungen, Industrialisierung, Bürokratie und Gehorsam. Denken Sie, dass es, wenn wir jetzt auf Gaza und das, was dort seit so vielen Monaten geschieht, blicken, in diesen Aspekten – insbesondere in Bezug auf Technologie und Gehorsam – Parallelen gibt?

Mishra: Ich denke, wir haben heute eine völlig neue Phase erreicht. Wir wissen mittlerweile, dass in Gaza KI eingesetzt wird, um ganze Familien auszulöschen. Es gibt immer weniger menschliche Interventionen. Natürlich gibt es Menschen, die diese Tötungsmaschinen bedienen. Aber ich denke, dass Technologie heute eine noch größere Rolle bei Massenvernichtungen spielt. Und natürlich hilft Technologie den Menschen, mit ihrem Gewissen zu leben, nachdem sie an Massenmorden beteiligt waren. Wir wissen auch, dass diese Technologien nach Indien und viele andere Länder exportiert werden.

Israel ist der größte Exporteur von Spionagesoftware und Sicherheitstechnologien. Ich kenne Menschen in Indien, deren Telefone mit israelischer Spionagesoftware infiziert wurden. Israel – das sollte man verstehen – stellt heute weltweit eine Bedrohung für Demokratie und Menschenrechte dar. Nicht nur durch die Zerstörung von Gaza haben wir das gesehen. Wir sehen es in vielerlei Hinsicht: in der Art der Menschen, die das Land regieren, in den Produkten, die Israel verkauft, in dem, womit Israel heute assoziiert wird – einer Rhetorik des Ethno-Nationalismus.

In diesem Kontext denke ich, dass Deutschland aufwachen muss. Die Deutschen müssen aus diesen intellektuellen und moralischen Gefängnissen ausbrechen, in die sie sich durch ihre Vorstellung von der Einzigartigkeit des Holocausts selbst eingeschlossen haben.

Sie müssen den gegenwärtigen Moment betrachten, die letzten Jahrzehnte und das, was die Zukunft bereithält. Denn Israel verbündet sich heute mit einigen der schlimmsten Antisemiten der Welt – ob in Europa oder in den USA. Mit einigen der fanatischsten Menschen auf der Erde: christliche Evangelikale, Javier Milei, Bolsonaro, Viktor Orbán, Matteo Salvini.

Einige der schlimmsten Menschen – Menschen, die eine permanente Bedrohung für Demokratie und Menschenrechte in Europa, in Amerika und weltweit darstellen, einschließlich Narendra Modi. Das sind heute Israels engste Verbündete.

Feroz: In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass Deutschland nicht immer so war wie heute. Sie kamen in den 1990er-Jahren zum ersten Mal nach Deutschland. Was hat sich verändert?

Mishra: Ich gehe dieser Frage im gesamten Buch nach. Ich denke, dass sich seit den 90er-Jahren vieles verändert hat. Israel wurde aus verschiedenen Gründen wichtiger für europäische Länder und die USA – aus militärischen Gründen, aufgrund von Waffenverkäufen, technologischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Beziehungen.

Viele Faktoren haben zu einer größeren Nähe zum Staat Israel geführt, selbst als sich Israel auf einen gefährlichen Weg des rechtsextremen Demagogentums begab. In den 1990ern herrschte noch eine ganz andere Atmosphäre. Es gab deutsche Kanzler, die sich entschiedener gegen die Entrechtung der Palästinenser stellten, etwa Willy Brandt oder Helmut Schmidt. Doch das begann sich in den frühen 2000ern zu ändern. Das andere große Ereignis war der 11. September 2001. Israel gelang es nach den Anschlägen, sich geschickt als Vorhut der westlichen Zivilisation gegen muslimische Fanatiker zu positionieren. Netanjahu tat das ganz bewusst nach 9/11. Er sagte damals wörtlich: „Jetzt wissen die Amerikaner, was wir durchmachen – durch diese Muslime.“

Ich denke, dass die israelische Regierung und ihre Propaganda es geschafft haben, viele Menschen in Europa davon zu überzeugen, dass Israel einen gerechten Kampf gegen den Fanatismus führt. Und eine Quelle dieses Fanatismus sei der Islam und Muslime im Allgemeinen. 9/11 hat Islamfeindlichkeit institutionalisiert und sie in der europäischen Politik und in den Medienklassen salonfähig gemacht.

„Hamas-Obsession“

Feroz: Sie kritisieren in diesem Kontext auch eine sogenannte Hamas-Obsession westlicher Beobachter. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden die Terroristen unter anderem auch mit der SS verglichen oder gar als “schlimmer” bezeichnet. Wie bewerten Sie das?

Das sind äußerst bequeme Wege, um die deutsche Mitschuld an dem zu verschleiern, was heute von jeder angesehenen Organisation weltweit als Völkermord bezeichnet wird. Ich denke, dass es für die deutsche Regierung, die deutsche politische Klasse, die Medienklasse unmöglich ist, zu akzeptieren, dass sie in Gaza an einem Völkermord beteiligt war. Deshalb werden sie immer vermeintlich komplexe Argumente entwickeln, um ihre Unterstützung für genozidale Gewalt zu rechtfertigen.

Davon werden sie nicht zurückweichen. Es wird kein Zurück mehr geben von diesem eingeschlagenen Weg. Das müssen wir alle verstehen. Sie werden weiterhin darauf bestehen, die Hamas als die neue Nationalsozialisten darzustellen, Israel als Opfer eines neuen Holocausts – selbst während Israel vor aller Augen einen Völkermord in Gaza begeht.

Feroz: Die Taten der Hamas sind dennoch unbestreitbar. Findet hierzu, in Teilen zumindest und in manchen Kreisen, Relativierung statt?

Mishra: Welche Relativierung? Hamas ist eine militante Organisation, die von einem durch die Vereinten Nationen anerkannten Recht Gebrauch macht: dem Recht aller unterdrückten Völker, militärischer Besatzung Widerstand zu leisten. Dabei begeht sie oft schreckliche Gräueltaten, die zu verurteilen sind, und die dafür Verantwortlichen sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Aber keine internationale Organisation hat Hamas jemals des Völkermords beschuldigt – jenes monströsen Verbrechens, dessen Israel von Amnesty International, Human Rights Watch sowie den Regierungen von Südafrika, Spanien und vielen anderen Ländern angeklagt wird.

Feroz: Für progressive Menschen klingt das alles sehr pessimistisch. Wie soll die nächste Generation mit all dem aufwachsen? In Gaza blickt sie auf die pure Zerstörung, während junge Menschen in westlichen Ländern immer mehr Repressionen in Bezug auf Meinungsfreiheit und Protestrecht erleben.

Mishra: Ich denke, die nächste Generation im Westen weiß, dass ihre Eltern und Großeltern auf katastrophale Weise versagt haben. Sie waren verantwortlich für eine der größten moralischen Katastrophen aller Zeiten. Und sie weiß, dass sie es anders machen muss. Sie muss sich von den ideologischen und moralischen Fallen befreien, in die sich diese Generation begeben hat. Ich denke, junge Menschen in Deutschland und Europa wachsen mit einer ganz anderen Sicht auf Israel auf. Das ist die politische Lektion, die sie aus dieser Katastrophe mitnehmen werden.

Emran Feroz

Emran Feroz arbeitet als freier Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien, unter anderem für Die Zeit, taz, Al Jazeera und die New York Times. Er berichtet regelmäßig aus und über Afghanistan und den US-amerikanischen Drohnenkrieg und ist der Gründer von „Drone Memorial“ (www.dronememorial.com), einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer.
Mehr Beiträge von Emran Feroz →

Ähnliche Beiträge:

28 Kommentare

    1. Das Problem mit dieser Schlussfolgerung ist, dass ein nuklear bewaffnetes Land, das kur davor ist „zu fallen“, mit ziemlicher Sicherheit Atomwaffen einsetzen wird. Die potentiellen Kettenaktionen die daraus folgen könnten, sind m.E. sogar noch gefährlicher, als wenn der Iran in diesem Konflikt den kürzeren zöge.

      Andererseits ist der Flächenbrand, der sich aus einer längeren Konfrontation entwickeln könnte m.E. ebenfalls extrem gefährlich bezüglich Eskalation zu einem Weltkrieg. Kurz: Ganz schöne Zwickmühle, in die uns diese Schwachköpfe hineingeritten haben.

      Der Sinnvollste Ansatz ist wohl Deeskalation. Der Iran hat immerhin verkündet, dass er die Vergeltungsschläge beenden wird, wenn Israel seine Angriffe einstellt. Wir können also nur hoffen, dass Israel schnell zu dem Schluss kommt, dass es auf diese Tour nicht weiter kommt und das Projekt dann (widerwillig) einstellt. Damit das funktioniert, ist es m.E. notwendig dass 1. die USA nicht direkt in den Krieg einsteigen und 2. dass die Kosten für Israel zu hoch werden in Vergleich zu dem Schaden, den sie im Iran anrichten.

      Erfolgreiche iranische Gegenangriffe könnten möglicherweise auch die Stimmung in Israel so weit kippen lassen, so dass es letztendlich eher dort zu einem Regime-Change kommt. Das birgt aber immer die Gefahr, dass wenn die Bevölkerung zu stark betroffen ist, sich diese hinter Netanjahu stellt und dieser letztendlich gestärkt wird (wenn die Bevölkerung den Eindruck bekommt, dass sie selbst „angegriffen“ wird). Daher sollte der Fokus primär auf militärischen Einrichtungen liegen. Vielleicht bringt das mehr Israelis dazu zu hinterfragen, ob man tatsächlich so unverwundbar ist und warum die Regierung sie in dieses hirnverbrannte Abenteuer hineingeritten hat.

        1. Ich bin zwar auch skeptisch gegenüber Motivation und Zielen einflussreicher Interessengruppen, dennoch halte ich deine Einschätzung – diplomatisch ausgedrückt – für ziemlich realitätsfern.

          Sicher wird es vereinzelte geben, die so denken, das ist aber meiner Einschätzung nach garantiert nicht der primäre Treiber für diese Entwicklungen.

          1. Genau das wird seit den 70ern propagiert.
            Die Elite möchte zukünftig nicht mehr die noch verbleibenden Ressourcen weiterhin mit uns teilen.
            Bei den Bilderbergern, durch Harari im WEF.
            Ich stammen selbst aus dem Schoß der herrschenden Klasse und genau deshalb weiß ich das auch,

      1. Hoffnung in Israelis zu setzen in derzeit etwas weit hergeholt. Die Israelis feiern jedes ermordete Kind. Ich habe ca. 1200 israelische accounts woanders für mich gesperrt, auf denen tanzende junge Damen in Tarnazügen zum Tod der Palästinenser feiern, und auch einige accounts mit tanzenden Männern mit Kippa. Nun hat Israel 10 Millionen Einwohner und nicht jeder ist in den sozialen Medien vertreten, aber wenn alleine ich, obwohl ich solche politischen Dinge eigentlich ausgeschlossen habe bei meinen Interessen, soviel davon präsentiert bekomme, das ich 1200 davon sperren muss, dann dürfte die israelische Gesellschaft vorerst nicht vernunftbegabt sein.

        1. Seit den 70ern sage ich das.
          In den 80ern war ich in Haifa, und danach in Beirut und dann bei den Saudis, die haben sie nicht mehr alle auf der Latte, mehr ist da nicht und es sollmir keiner kommen, das sich das in irgendeiner Weise inzwiaschen gebessert hätte.
          Außer in Beirut, sind die Araber so wie die Juden ebenfalls völlig losgelöst von jeder Toleranz andersdenkender Menschen.

  1. @Emran Feroz
    Wie kann man dieses Interview führen und dann von einem „mutmaßlichen Genozid“ sprechen?
    Sehen sie auch nur ein Kriterium nicht erfüllt um nicht klar von Völkermord sprechen zu können?
    Was hat sie bewogen das Wörtchen mutmaßlich einzufügen?
    Angst? Unaufrichtigkeit?

  2. Mishra erwähnt in seinem o.g. Buch noch ein Phänomen neben dem „glimpflichen Umgang Westdeutschlands mit den Nazis“, das Jean Amery einen „aufdringlichen Philosemitismus“ nannte, der heute sogar noch penetranter die Beziehung Deutschlands zu Israel präge.
    Und Peter Gay erinnert sich in seinen Memoiren, daß die wenigen verbliebenen Juden „von den nichtjüdischen Deutschen mit einer Art schmierigen Zuvorkommenheit“ behandelt würden, „mit auffälliger Bewunderung für alles, was Juden sagten, taten oder glaubten.“
    Und auch Hannah Arendt schrieb anläßlich des Eichmann-Prozesses an Jaspers aus Jerusalem, die anwesenden Deutschen seien „von einer unangenhmen Überbeflissenheit, alles schlechterdings herrlich findend. Ziemlich zum Kotzen, mit Verlaub zu sagen. Einer ist mir bereits weinend um den Hals gefallen“.

    Heute scheint ihnen das rechte Maß aus Waffenlieferungen und Selbstverteidigungspropaganda zu bestehen.

    Alle Zitate S. 141/2

    1. Übrigens, den Leserbrief auf den Nachdenkseiten aus dem folgender Absatz stammt, der lässt sich auch nicht mehr finden, warum auch. Der Absatz ist aktueller denn je!

      „Das erinnert mich an ein Radiointerview mit dem aus Deutschland stammenden israelischen Politiker und Friedensaktivisten Uri Avneri (1923-2018) vor einigen Jahren. Eine deutsche Mainstream-Journalistin fragte ihn abschließend Beifall heischend, wie er die konsequente pro-jüdische Politik in Deutschland beurteile. Er antwortete zu ihrer Überraschung ziemlich trocken, ihm seien die deutschen Philosemiten genauso unheimlich wie die deutschen Antisemiten.“

  3. Der Westen hat eine piratengleiche Mentalität.

    Seine Eliten sind Diebe, Marionetten, Kriegstreiber und Massenmörder.

    Den Anfang machte das britische Empire.

    Doch bald wurde der hiesige Adel vom zionistischen Geldadel gekapert.

    Den Anfang machten die Rothschilds mit ihren Sachsens, die als Windsors die Englische Krone ohne Krieg erbeuteten.

    Nach zahlreichen Genociden und beiden von der Hochfinanz inszenierten Weltkriegen übernahm Amerika die Rolle des Oberbiests.

    Gleichzeitig etablierte man das Raubgut an Palästina mittels Holocaust als den so genannten jüdischen Staat Israel.

    Dazu muss man verstehen, daß sich einzelne jüdische Gruppen abgrundtief hassen.

    Ohne jegliche Berechtigung, da das alte Israel im heutigen Syrien war und als Staat nie existierte.

    Vor Allem lebten keine Osteuropäer bzw. Khasaren dort.

  4. Solange keine Ehrlichkeit in der Politik einkehrt, werden die Kriege weiter gehen, bis einer Seite die Luft ausgeht. Das könnte durchaus auch den USA in Verbindung mit Israel und Deutschland passieren. Das Vertrauen ist eh weg, das Gold wird alle und der technologische Fortschritt findet zunehmend woanders statt. Natürlich war es Terrorismus, die Zwillingstürme zu zerstören, natürlich war der 7.10.23 Terrorismus. Aber warum sind diese Dinge geschehen? Ein leichtes Nachdenken und jeder kann das beantworten. Wenn die westliche Hemisphäre überleben will, muss sie anfangen, die Wahrheiten zu benennen und die Ursachen zu beseitigen. Es gibt im Westen nahmhafte Leute, die die Wahrheiten benennen dürfen, ohne verhaftet zu werden, warum hört man nicht auf sie? Die USA sind hochverschuldet und die Amerikaner haben Hoffnung in Trump gesetzt, dass er Amerika wieder groß macht. Derzeit macht er Amerika kleiner und verliert Anhänger. Europa schießt sich aller 3 Tage massiv selbst ins Knie, und die Medien versuchen das als Erfolg zu verkaufen. Wir als Stimmvieh können kaum etwas dagegen tun, außer die noch vorhandene eingeschränkte Meinungsfreiheit dahingehend zu benutzen, um auf Inhumanität und Wirtschaftswahnsinn hinzuweisen. Ich persönlich mache das auch für mein Gewissen und für meine Nachkommen. Vielleicht übersteht ja die eine oder andere Festplatte den nächsten Krieg.

    1. „Ehrlichkeit“ in der Politik!
      👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶👶

  5. Alles gegen den Westen, von dessen Errungenschaften, Forschung und Beispielen der Rest der Welt gut lebt oder leben möchte, ist gut.
    .
    Die Frage ist mit gutem Recht warum von 160 Unterzeichnerländern des UN Migrations- Asyl- Flüchtlingspaktes lediglich 10 Länder in der Welt des Weissen Westens als Einwandererländer übrig bleiben. Warum geht niemand nach Indien, Asien, Afrika….
    .
    Was ich denke ist, das die Weissen und der Westen endlich wieder die Köpfe nach oben recken und sich ihrer Leistungen bewusst sein müssen sonst gibt es nur noch weitere Demütigungen. Dies wiederum schwächt und erniedrigt die folgenden Generationen. Zerfall ist das was bleibt…

    1. Benjamin: „Was ich denke ist, das die Weissen und der Westen endlich wieder die Köpfe nach oben recken und sich ihrer Leistungen bewusst sein müssen“
      Ja gehts denn noch höher? Der Westen steckt doch schon mit den Köpfen in den Wolken. Noch mehr Hochmut und Größenwahn, wo soll das hinführen?

      „Warum geht niemand nach Indien, Asien, Afrika….“
      Weil die Länder ausgeraubt wurden und immer noch werden. Entsprechend ziehen die Leute ihrem Raubgut hinterher – Raubgut, das in Form von Kapital angehäuft wurde und diese Länder in Schuldknechtschaft hält.

    1. Da gäbe es noch.
      „Aus den Ruinen des Empires“
      Die Revolte gegen den Westen und den Wiederaufstieg Asiens
      und
      „Freundliche Fanatiker“ – Jenseits der eurozentrischen Perspektive

  6. Na das ist wenigstens richtig überschrieben. Der Vorwurf des Kolonialismus ist der absurdeste, den man Israel machen kann. Denn der Kolonialist will ja Profit machen, wenn ich das ins Gedächtnis rufen darf. Aber wo soll der herkommen? Im Gaza ist das BIP gleich Null und wehe es funktioniert der Strom oder das Wasser nicht. Da ist Israel natürlich schuld und dann jammern sie. Ein Kolonialist, der dermaßen drauflegt? Das ist in der Überschrift richtig beschrieben.
    Wieso muss ich jeden Tag 500 Lastwagen finanzieren für die Versorgung? Das sind die Nachkommen derer, die vor 77 Jahren einen völkerrechtswidrigen Angriffskriewg begonnen haben. Und die soll ich jetzt durchfüttern? Das ist die größte Verarschung aller Zeiten. Ein heilsamer Tritt in den Hintern und die Aufforderung, sich selbst zu versorgen, wird Teil der Lösung sein.
    Der Vorwurf des Kolonialismus eint die Linken aller Länder. Deshalb sind das solche Matschbirnen. Sie haben sich durch den Antisemitismus die Birne weich machen lassen. Zum Glück ist das Ende absehbar.

    1. Ich denke ja auch, dass Zionisten und Nazis so ziemlich das selbe sind.
      Wahrscheinlich wollte im Warschauer Getto auch niemand mehr die Stromrechnung bezahlen.

    2. ich seh keinen Widerspruch. Israel will den Raum Gaza, und beseitigt alles was dem im Wege steht.
      Das BIP ist erstmal nicht von Belang.

      Ansonsten gibt es ja auch Meldungen über Gasvorkommen vor der Küste Gazas.
      Dann wird es wieder wirtschaftlich interessant werden.

    3. Es geht um Rassismus und Settler. Das war im Video das hier gelöscht wurde.
      Ich kann den Link hier posten, wenn Sie das sehen wollen.

  7. Ein Gedanke, den Mishra vorträgt, fand man vor Jahren schon bei Heiner Müller. Was Hitler an den europäischen Juden exekutieren, war nicht so neu und einzigartig. Es war nicht anders, als es europäische Kolonialmächte im Umgang mit unterworfen Völkern schon immer machten. Wirklich neu war, dass die Mittel der Moderne angewandt wurden, dass das Morden industriell wurde. Wenn die Nukes gezündet werden, wird auch das nicht einzigartig geblieben sein.
    Wirklich einzig war, dass die Nazis gegen einen „Feind“ vorgingen, den es nicht gab. Ein Kampf, dem sich alles unterzuordnen hatte. So wurden Züge, die dringend für die Versorgung der Front gebraucht wurden, für die Deportation von Juden verwendet. Es wurde ein Teil der eigenen „wehrfähigen“ Bevölkerung ermordet. Ein Irrsinn, der allen militärischen oder eigentlich „kapitalistischen“ Prinzipien widersprach und der weit über klassischen Antisemitismus hinausgeht.
    Ob man mit der Erklärung von Postone dieses verstehen kann, weiß ich nicht. Für mich war es die bisher zugänglichste Deutung. Die Besessenheit, mit der die deutsche politische Klasse und ein wohl nicht kleiner Teil des Publikums hingegen noch jedes Verbrechen Israels rechtfertigt, die Besetzung ok findet, wird sicher durch in den Verbrechen der Nazis seinen Ausgangspunkt haben und der virulente islamische Faschismus, der sich durch die Nachkriegszeit mordet, wird die Solidarisierung mit dem israelischen Regime für viele leichter machen. Ungeachtet dessen hat diese Solidarisierung selbst etwas von der manischen Besessenheit, mit der einst die Vorfahren Juden ermordeten. Das ging soweit, dass eine linke Ikone, Porth, dereinst schon mal den Einsatz von Kernwaffen gegen Araber anregt, ohne dass Deutschland in Aufruhr geriet. Dem Autoren Nowack gilt Porth noch immer als bedeutender Denker. Dass Europa, wahrscheinlich auch der gesamte Westen, auch intellektuell am Ende ist, zeigte sich schon damals und ich denke, dass dieser Niedergang durch die grenzenlose Gewaltanwendung, wie wir sie zur Zeit erleben, aufgehalten aber nicht verhindert werden kann.

  8. „Wenn die deutsche Politik meint, Israel zu unterstützen bedeute, Netanjahu in allem, was er tut, den Rücken zu stärken, dann wird der Rest der Welt gezwungen sein zu dem Schluss zu kommen, dass Deutschland – wo derzeit mit der AfD eine neonazistische Partei in den Umfragen führt – erneut an einem Völkermord mitschuldig ist, zum zweiten Mal in 80 Jahren, und dass all seine Institutionen erneut versagen.“

    Dieser Aussage stimme ich voll und ganz zu. Deutschland – einig Naziland!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert