
Javier Milei ist immer noch im Amt. Er krempelt das Land um – und ist auch schon durch manche Krise gekommen. Wie sehen die Argentinier ihren Staatspräsidenten wirklich?
Roberto De Lapuente hat Gaby Weber befragt.
De Lapuente: Javier Milei war obenauf, dann down, jetzt soll er wieder oben sein – ja, was stimmt denn nun? In Deutschland weiß man so wenig über Javier Milei. Steht seine Regierung nun tatsächlich vor einem Ende oder hat er sie erst mal gerettet?
Weber: Die Diskussion in Deutschland ist ähnlich polarisiert wie hier vor Ort. Entweder, man ist in dem einen Lager, dann ist der neue, neoliberale und rechtsradikale Aufguss eine Befreiung von jahrzehntelanger peronistischer Bevormundung – oder man ist im anderen Lager, dann ist man dran gewohnt, dass alle paar Jahre eben die »Gorillas«, also die rechte anti-nationalistische Oberschicht, das Ruder übernehmen, aber am Ende wieder die Peronisten als das kleinere Übel zurückkommen. Es gibt hier ein Sprichwort über sie: »Sie klauen, aber sie machen auch was.« Das will sagen, dass sie zwar korrupt bis an die Hutkrempe sind, aber auch mal eine Landstraße oder ein Gesundheitszentrum bauen. Das sind die beiden Lager, und auch die Linke, oder die Reste der Linken, hat sich im Parlamentarismus eingerichtet und sich in das Lager der Peronisten einbinden lassen.
De Lapuente: Das klingt so, als würdest du eine Rückkehr der Peronisten bedauern …
Weber: Das tue ich, weil das peronistische Projekt schon lange an seine Grenzen gelangt ist. Der Namensgeber, General Juan Perón, war in den Vierzigerjahren mit überwiegender Mehrheit, vor allem von den Armen, gewählt worden, hatte einige wichtige soziale Reformen auf den Weg gebracht. Er war nationalistisch und auf der Suche nach einem Dritten Weg, jenseits von Kapitalismus oder Sozialismus. Innenpolitisch war er sehr autoritär, ein erklärter Bewunderer Mussolinis eben. Er hat die bis dahin vor allem anarchistisch organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen und dann als korporatistischen Dachverband unter seiner Führung wieder aufgebaut. 1955 wurde er von den Militärs, die von den Engländern und den USA unterstützt wurden, aus dem Amt geputscht. Erst Anfang der Siebzigerjahre kam er aus dem Exil aus Franco-Spanien zurück, aber das Land sowie seine peronistische Bewegung war ein anderes geworden, tief gespalten in den reaktionären Teil und in eine Befreiungsbewegung. 1976 kam der blutige Militärputsch und in den Neunzigerjahren der peronistische Präsident, Carlos Menem, bester Freund von George W. Bush. Er verkaufte alles, was nicht niet- und nagelfest war, betrieb also klassische anti-peronistische Politik.
»Unter den Peronisten gab es ein System der Korruption auf allen Ebenen des Staatsapparates«
De Lapuente: Dieses Modell brach dann zusammen, 2001 gab es eine riesige Wirtschaftskrise. und dann kamen die Peronisten wieder …
Weber: Ja, Néstor Kirchner übernahm 2003 die Regierung und baute die Wirtschaft wieder auf, später übernahm seine Frau das Ruder. Néstor war immerhin ein strategisch denkender Staatsmann, er errichtete das südamerikanische Sicherheitsbündnis UNASUR, wollte den Mercosur stärken und unterhielt gute Beziehungen zum Venezolaner Hugo Chavez und Lula da Silva; irgendwie schien die südamerikanische Einheit voranzukommen – ein Albtraum für das US-State Department, das seine kontinentale Vormachtstellung der Zwietracht der »armen Brüder im Süden« verdankt.
De Lapuente: Das erinnert an einen anderen Albtraum, der die USA quält: Jenem, dass sich Europa mit seiner Technologie mit Russland und seinen Rohstoffen verbünden könnte …
Weber: Genau so ist es. Aber dann starb Néstor und seine Frau wurde zweimal gewählt, bis 2023 war sie Vizepräsidentin. Und wenn man eine Bilanz ihrer Regierung zieht, dann fällt diese negativ aus. Der Mercosur dümpelt vor sich hin, aus UNASUR wurde nichts, sie rührte keinen Finger für die Frauenrechte und die Legalisierung der Abtreibung, Transparenz ist für sie ein Fremdwort ebenso wie eine ökologische Landwirtschaft. Und von einer Landreform redet niemand. Und dazu eben das System der Korruption auf allen Ebenen des Staatsapparates.
De Lapuente: Wurde sie nicht dafür verurteilt und sitzt nun mit Fußfessel daheim und muss einen Hausarrest einhalten?
Weber: Muss sie, aber nicht nur das. Zurzeit läuft ein weiteres Strafverfahren gegen sie und ihre Vertrauten – wegen Schmiergeldzahlungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Wer mit dem Staat zusammenarbeiten wollte, etwa beim Bau von Straßen, Gebäuden oder der Lieferung von Waren, der musste einen bestimmten Prozentsatz – der lag so um die 15 Prozent – für die Partei und die Parteianführer abdrücken. Die betroffenen Unternehmer haben dies auch zugegeben, sie seien dazu gezwungen worden, gaben sie zu Protokoll, anderenfalls hätten sie ihre Angestellten entlassen müssen. Die Beweise liegen vor, und alle Argentinier wissen das auch. Trotzdem ist Cristina immer noch Parteichefin und zwingt die Partei, für sie eine Kampagne für die Freilassung zu führen.
»Mileis Image ist gewaltig gefallen«
De Lapuente: Was sagen denn in den privaten Gesprächen die Funktionäre oder die Linken dazu?
Weber: Naja, sie unterstützen diese Kampagne, die Richter, die Rechten und die USA seien daran schuld, die Beweise im Prozess erzwungen. Dass sie unschuldig ist, sagt niemand. Sie zucken mit den Achseln, sagen, das sei eben der Preis für die Politik und die Peronisten seien das kleinere Übel. Aber in der Bevölkerung wächst der Unmut. Jedes Mal, wenn Cristina auf ihren Balkon tritt und zu ihrem Volk spricht, sinken die Umfragewerte der Peronisten. Auch an dem jungen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kiciloff, dem keine größeren Skandale nachgesagt werden, lässt sie kein gutes Haar und wirft ihm Knüppel zwischen die Beine. Cristina ist Mileis bestes Instrument im Stimmenfang, sozusagen die Abschreckung in Person.
De Lapuente: Milei hatte Wahlkampf gegen die Politikerkaste und die Korruption gemacht. Aber inzwischen ist ja herausgekommen, dass er und seine Schwester mindestens genau tief in diese Korruption verstrickt sind. Dazu – so heißt es – gäbe es eine Nähe zum Rauschgifthandel, der libertäre Politiker alimentiert hat. Warum haben die Argentinier ihn trotzdem gewählt und für viele ist er immer noch ein Heiland?
Weber: Das sind sehr wenige, die ihn immer noch verehren, vielleicht ein paar junge Männer, denen seine Frauenfeindlichkeit gefällt. Er will ja jetzt auch das Gesetz canceln, das Femizid besonders unter Strafe stellt. In seinen Augen diskriminiere es Männer. Die meisten haben ihn aus Protest und Resignation gewählt, weil die Peronisten ebenso wenig wie die Linken eine Alternative darstellen. Sein Image ist gewaltig gefallen. Seine Nähe zu den Narcos ist bewiesen. Aber das stört weder Donald Trump, der in der Karibik Fischer als angebliche Mitglieder des Syndikats Tren de Aragua bombardieren lässt. Die Argentinier wählen mit dem Geldbeutel, und hoffen – sehr kurzfristig – auf die Stabilität des Pesos. Fakt ist, dass der Dollar in Argentinien künstlich extrem unterbewertet ist. Die Konsequenzen sind: Niedergang des Binnenmarktes, hohe Arbeitslosigkeit, kaum Tourismus, Verteuerung der argentinischen Produkte auf dem Weltmarkt, Schließung der Fabriken. Das scheint ihnen egal, weil sie alle hochverschuldet sind, um überhaupt über die Runden zu kommen.
De Lapuente: Hier hört man immer, dass die Libertären entzückt von seinem Afuera seien, dem rabiaten Abbau der Bürokratie und des staatlichen Wasserkopfes.
Weber: Das sagen vor allem die Ökonomen, die weit weg und ideologisch verblendet sind, die Welt, die FDP, die AfD …
»Milei hat in den vergangenen zwei Jahren 53.345 öffentliche Angestellte rausgeworfen«
De Lapuente: Nun ja, so einfach ist das nicht, denn bei allem, was ich an Milei nicht mag, sehe auch ich es grundsätzlich als wünschenswert an – und nicht nur ich, sondern viele eher linke Mitstreiter –, die Milliardensummen, die jedes Jahr in den Unterhalt von Bundes- und Landesparlamenten bezahlt werden – alleine der Bundestag kostete dem Steuerzahler 1,2 Milliarden Euro im Jahr 2025 – und die immer mehr Staatsbedienstete notwendig machen, als elementar für eine linke Bewegung in Deutschland an. Eine Linke, die sich selbst ernstnimmt, muss dieses Thema aufgreifen und Afuera fordern …
Weber: Es stimmt, viele Jobs in der öffentlichen Verwaltung waren an Parteimitglieder vergeben worden, die keine Ahnung von nichts hatten und „Ñoquis“ genannt wurden, weil die nur am Ersten jedes Monats zum Kassieren erschienen.
De Lapuente: Ñoquis?
Weber: Weil in Argentinien am Monatsende, wenn niemand mehr Geld hat, Ñoquis gegessen werden, und im Restaurant liegt dann unter dem Teller ein Peso … Es hätte den Behörden gutgetan, wenn sie ausgemistet worden wären, aber dies hätte Fall für Fall geschehen müssen. Milei hat einfach so viel rausgeschmissen, wie er konnte – darunter auch erfahrene Angestellte, die den Laden am Laufen gehalten hatten. Diese funktionieren heute nicht mehr, das betrifft die Wasserwerke, die Kontrollbehörden, Krankenhäuser, Bauämter etc. Milei schlägt blind um sich und vernichtet die Infrastruktur und den gesamten Bildungssektor, er baut nichts Neues auf. Und was seine angeblichen Erfolge bei der Bekämpfung der Inflation angeht: auch hier sieht die Situation vor Ort völlig anders aus. Erstens muss man sehen, dass bei Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 das Land nach den vier Jahren der peronistischen Misswirtschaft (darunter die Pandemie mit sieben Monaten Lockdown) am Boden lag. Dieses Modell musste weg. Milei reduzierte die Geldmenge, setzte öffentliche Aufträge wie Bau und Infrastruktur aus, kürzte den Reallohn um 35 Prozent und ebenso die Renten. Die Leute haben einfach kein Geld mehr. Die Supermärkte sind leer, gekauft wird nur das Allernötigste, Reis im Zehn-Kilo-Sack und kaum noch Fleisch. Natürlich ist dies den zehn Prozent der Reichen und der oberen Mittelschicht egal, aber die normalen Leute nehmen ihre Kinder von den privaten Schulen und sparen beim Essen. Das Stadtbild hat sich komplett verändert. Auf den Straßen der Innenstadt schlafen in jedem Winkel die Obdachlosen, das war schon unter Fernández schlimm, aber das hat sich seitdem verdoppelt. Außerdem erwähnen die Milei-Bewunderer nicht, dass er das Land total überschuldet hat.
De Lapuente: Trotzdem loben die Ökonomen, dass die Arbeitslosenquote nicht massiv angestiegen sei. Wo sind all die arbeitslosen Ex-Staatsbediensteten abgewandert?
Weber: Die offizielle Statistik (Indec) spricht von einer Arbeitslosenquote von 7,9 Prozent, das ist der Höchststand seit 2021, seit der Pandemie. Schauen wir die Zahlen an: Milei hat in den vergangenen zwei Jahren 53.345 öffentliche Angestellte rausgeworfen, bzw. deren Verträge nicht erneuert. Viele dieser Entlassenen haben Klage eingereicht, die meist mit einer Abfindung geregelt wird. Damit können sie einen Kiosk aufmachen, sich ein Auto kaufen und für Uber 15 Stunden täglich hinter dem Steuer sitzen. In der privaten Wirtschaft gingen 177.000 Arbeitsplätze verloren. Jeden Monat schließt eine große Fabrik ihre Pforten, Mercedes-Benz, Carrefour, Essen, Whirlpool etc. und wenn die Entlassenen ihre Abfindung aufgebraucht haben, dann fahren sie bei Lieferdiensten auf dem Fahrrad Essen aus, oder befinden sich in einer Scheinselbständigkeit. Auch kleine und mittelständige Betriebe, die sog. Pymes machen am laufenden Band Bankrott, 2025 gingen jeden Tag 30 in die Insolvenz. Das waren noch einmal 270.000 Werktätige weniger. Und weil es kaum Nachfrage gibt, machten 6.000 Kioske, kleine Läden und 1.800 Bäckereien zu. Indec registriert nicht die Arbeitsuchenden, sondern nur die, die gar keinen Job haben, also diese ganzen Scheinselbständigen fallen aus ihrer Statistik heraus. 43,2 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten im informellen Bereich, von der Hand in den Mund. Und nur 15 Prozent entrichten regelmäßige Sozialabgaben. Arbeitsrechtler schätzen, dass zwischen 28 Prozent und 35 Prozent der Werktätigen unterbeschäftigt ist. Die Leute haben zwei Jobs oder bekommen Geld von Angehörigen, die nach Europa oder in die USA ausgewandert sind.
De Lapuente: Und dennoch – Milei hat immer noch Rückhalt …
Weber: Ich glaube, dass Milei sein relativ gutes Abschneiden an den Urnen dem Mangel an Alternativen verdankt. Und seine Bewunderer im Ausland beneiden ihn vor allem um seine Rücksichtslosigkeit, mit der er sich über die soziale Rechte der Bürger hinwegsetzt. Können die Regierungen, nicht nur in Argentinien, heute nicht alles machen was sie wollen? Dinge, die vor 30 Jahren noch eine Rebellion ausgelöst hätten, werden inzwischen nur noch mit Achselzucken quittiert. Und die Stimmen der Linken oder auch nur Forderungen nach Emanzipation hört man nicht.
Gaby Weber studierte Romanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1982 am Lateinamerika-Institut. Seit 1978 ist die Mitgründerin der taz als Journalistin und seit 1986 als freie Korrespondentin tätig, zuerst aus Montevideo und ab 2002 aus Buenos Aires. Außerdem hat sie mehrere Reportagen und umfangreiche Recherchen zur Geschichte nachrichtendienstlicher Aktivitäten veröffentlicht. 2012 erschien ihr Buch „Eichmann wurde noch gebraucht“.
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Kapitalismus ist alternativlos?
Das Mileiis „Sozial“politk der feuchte Traum jedes Neoliberalen ist, sollte klar sein!
Ansonsten hat der Typ einen ziemlichen Sprung in der Schüssel!
Aber die Olle mit der Fussfessel scheint mir auch nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein!
Ich habe keine Ahnung von Argentinien, interessiert mich eigentlich auch nicht, dafür haben wir hier selbst genug Kacke am Dampfen!
Aber dort, genau wie bei uns, scheint das Wahlvolk es anscheinend nicht besser haben zu wollen!
Was soll man dazu noch sagen?
Öhem…. welche Alternative hat D-Land denn seit sich die ehemals unterschiedlichen Parteien zur Einheitsfront gegen RU zusammengetan haben?
Etwa die AfD?? 😂🤣😂🤣😳🥶
Gute Nacht Schland.
Hierzulande überlegt Frauke Petry womöglich im neuen Javier-Milei-Institut jeweils zur Sonnenwende einen Sozialhilfe-Bezüger auf dem Milei-Altar zu Ehren von Hayek und Friedmann zu opfern.
Näheres ist noch nicht bekannt.