»Literatur ist keine bürgerliche Geschmacksparty«

Martin Walser
Amrei-Marie aus der deutschsprachigen Wikipedia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons, bearbeitet

Am vergangenen Freitag starb Schriftsteller Martin Walser. Im Jahr 2002 sprach Arno Luik mit ihm – das Gespräch könnte auch letzte Woche geführt worden sein, so aktuell ist es geblieben.

Im Jahr 2002 sorgte Martin Walser mit seinem schmalen Roman »Tod eines Kritikers« für den »Krach des Jahres«. Damals Grund genug für Arno Luik, sich mit dem Autor zu unterhalten. Ein Gespräch über Rufmord, Unterstellungen, das, was man heute Shitstorm nennt – und über Correctness-Bosse und -bossinnen.

 

Herr Walser, es war doch ein Drecksjahr für Sie.

Nein, nicht ein Drecksjahr. Überhaupt Dreck. Von all meinen Jahren war es das grellste. Was habe ich getan? Ununterbrochen habe ich mich gerechtfertigt wie ein Angeklagter. Wie ein Verurteilter.

Tausende von Seiten erschienen über Sie allein in der überregionalen Presse – ich hab’s nachgewogen: insgesamt 3,4 Kilogramm.

Na und? Und wenn es so gewesen ist, soll ich danke schön sagen? Wie soll ich das bewerten? Dass ich so auffalle, ist schrecklich. Ich bin kein Provokateur, ich bin harmoniesüchtig.

Ihr Buch “Der Tod eines Kritikers”, Ihre Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki…

Es ist keine Abrechnung.

… löste eine außergewöhnliche Aufregung aus: In den Tagen, als zwischen Pakistan und Indien ein Atomkrieg drohte, machten die “Tagesthemen” mit Ihrem Werk auf, das noch gar nicht erschienen war.

Das – und alles andere in diesem Jahr – folgte aus der Verurteilung durch die “Frankfurter Allgemeine”, in der Frank Schirrmacher das Buch in einem hohen Dringlichkeitston nicht nur mit dem Verdacht, sondern mit dem Urteil belegt hat, es sei antisemitisch.

»Dieser Vorwurf kommt einer Ächtung gleich«

Schirrmacher, dem Sie den Roman zum Vorabdruck angeboten hatten, nannte ihn außerdem “ein Dokument des Hasses” und…

…darauf muss ich nicht reagieren, Schirrmacher ist eine Gefühlsniete, was mich betrifft, wenn er glaubt, ich könnte aus Hass schreiben. Das kann ich nicht. Ich schreibe nur über Leute, die ich liebe. Und “Der Tod eines Kritikers” ist eine unglücklich verlaufende Liebesgeschichte.

Für Schirrmacher ist es “eine Exekution”, “eine Mordphantasie” an Marcel Reich-Ranicki.

Wenn jetzt das ganze Jahr so abgelaufen wäre, dass die grellen Inszenierungen von Herrn Schirrmacher und das noch grellere Nachgeplapper von Frau Schmitter im “Spiegel” allgemein geworden wären, dann hätte ich … ich hätte das nicht mehr ausgehalten.

Wie? Sie dachten ans Auswandern?

Stellen Sie sich doch mal vor, wenn alle gesagt hätten: Walser – er ist ein Antisemit, ein Antisemit! Dann wäre das doch für mich die perfekte Verunmöglichung des Daseins in diesem Land gewesen. Dieser Vorwurf kommt einer Ächtung gleich. So etwas hätte ich nie aushalten können. So etwas würde kein Mensch aushalten! Wenn das geglückt wäre, wäre ich weg. Die wahre Beschädigung des Jahres 2002, das Schlimmste für mich ist, dass ich mich habe hineintreiben lassen in die sinnlose Selbstverteidigung. Dieses Andauernd-sich-Rechtfertigen – grauenhaft!

Sagen Sie mal, Sie geben Ihr Buchmanuskript an die “FAZ” zum Vorabdruck, und am 29. Mai fallen Sie vom Hocker, weil es dort in einem offenen Brief…

Er durfte das nicht! Es ist ein Bruch von Brauch und Gesetz. Man könnte ihn haftbar machen, aber ich kann das nicht.

…weil es in diesem Brief heißt: Mordaufruf. Antisemitisch. Undruckbar. Wie war das für Sie?

Da hat die deutsche Sprache ein fabelhaftes Wort, das man nicht überbieten kann: fassungslos! Du bist fassungslos, weil du es nicht verstehst. Es ist schwer für mich, jetzt darüber zu reden. Wenn ich das jetzt öffne? Ich wurde in den Tagen vorher ja immer wieder von der “FAZ” angerufen, bis zum 27. Mai war ich von der “FAZ im Glauben gehalten: Es klappt. Und keiner hatte in dem Text Antisemitisches entdeckt, so wenig wie mein Verleger Siegfried Unseld.

»Ich bin doch kein Damenkränzchen«

Er soll ja gesagt haben: “Ein Meisterwerk!”

Nicht: Er soll gesagt haben. Er hat zu mir am 7. April am Telefon gesagt: “Ein Meisterstück. Ein Meisterstück.” Und was ganz wichtig ist, er sagte auch: “Wir werden das machen, in die Vorschau nehmen, es in unserer Weise anbieten.”

Martin Walsers Notizen am Tage des Interviews.

Ihr inzwischen verstorbener Verleger Siegfried Unseld war schwer krank, als…

Wenn er jeden Tag in den Verlag hätte kommen können, wäre alles anders gelaufen. Unseld hätte hellauf gelacht. Schirrmacher hätte diesen offenen Brief nicht geschrieben, er hätte es nicht gewagt. Keine Sekunde lang wäre ich ein Antisemit. Siegfried wollte das Buch machen, er sagte auch, er könne keine Beleidigungsabsicht Reich-Ranicki betreffend feststellen.

Wie bitte? Reich-Ranicki, der in Ihrem Roman Ehrl-König heißt, geben Sie doch, salopp gesagt, ordentlich eines mit: Man müsste “ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren”, heißt es da, “dass endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum…”

Ja, ja. Ja und? Was ist das? Antisemitisch?

Weiter heißt es da: “Scheißschaum, gellte Bernt Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt.”

Ja und? Das ist ein Roman. Es ist geschmacklos. Aber Literatur ist keine bürgerliche Geschmacksparty. Ich bin doch kein Damenkränzchen. Was Sie zitieren, das sind zwei besoffene Schriftsteller, die wollen jetzt einmal das Maul aufmachen gegen den, der sie öffentlich heruntergemacht hat. Nichts weiter. Das ist polemisch. Und, bitte schön, das ist die Perspektive von zwei Romanfiguren.

Für den “Spiegel” ist Ihr Roman “der wohl machtvollste Antisemitismus der an solchen Ausfällen nicht armen deutschen Geistesgeschichte”.

Was Elke Schmitter da geschrieben hat, ist grotesk. Dass die “Spiegel”-Redaktion sie nicht schützt, so etwas völlig Absurdes zu veröffentlichen, ist den daran beteiligten Herren seriös vorzuwerfen. Aber offenbar hört beim Alarmwort Antisemitismus die Denkfähigkeit auf. Was Schmitter da geschrieben hat, halte ich für zeitgeistbefrachteten Opportunismus oder bösartige Voreingenommenheit.

»Reich-Ranicki übt diese Macht hemmungslos aus«

Herr Walser, Sie…

Moment! Schmitter schreibt, ich hätte einen Juden dargestellt, der selber unproduktiv ist und einen Nichtjuden als Einflüsterer braucht. Das sagt sie! So etwas zu unterstellen nach einem Jahrhundert, das, was jüdische Geistesleistung betrifft, so produktiv war wie noch kein anderes, Kafka, Mahler, Einstein. Ich weiß nicht, ob es solchen Unsinn im Nazi-Jargon gegeben hat. Ich kann mich bloß wundern, dass eine Intellektuelle so etwas behaupten kann, obwohl sie doch wissen muss, dass das – falls sie sich in der Kulturtradition Europas auskennt – nicht stimmen kann. Nein, es tut mir leid, aber ich bin trotz dieses auflagenstarken Schwachsinns glücklich über jede Zeile in meinem Buch.

Tatsächlich?

Ja, natürlich! Da übt jemand Macht aus…

Sie meinen nun Reich-Ranicki.

…und er übt diese Macht hemmungslos aus, 20 Jahre lang. Und seine Hemmungslosigkeit wird ihm honoriert als Temperament. Enthemmung imponiert den Fernsehzuschauern, das wirkt charismatisch, das bringt Quote, der Hemmungslose merkt, er darf alles. Und du darfst nicht einmal 200 Seiten schreiben über diese Machtausübung! Das nicht beantwortet zu haben all die Jahre, hat sich in mir zum Vorwurf ausgewachsen. Lässt du dir wirklich gar alles gefallen? Bloß weil der der Mächtigste ist in der Szene?

Und dann haben Sie ja zurückgeschlagen.

Ach was geschlagen, ich habe eine Prosakomödie inszeniert, habe die wirkliche Figur ins Überlebensgroße gesteigert. Dankbar könnte der Herr sein.

»Der Versuch eines Hinauswurfs«

Reich-Ranicki sah das völlig anders. Er befand, Ihr Buch darf im Suhrkamp-Verlag nicht erscheinen.

Tja, wenn ich auf eine solche Wucht von Zumutung nicht mehr schreibend antworten kann, dann gehe ich in die nächste Gärtnerei und pflanze Geranien. Bitte schön, über mein Buch “Jenseits der Liebe” schrieb er unter der Überschrift: “Jenseits der Literatur”. Das ist ein Platzverweis. Der Versuch eines Hinauswurfs. Über Botho Strauß sagt er: “Wer berühmt ist, kann jeden Dreck veröffentlichen.” Der ist nicht zimperlich. Ich habe das Buch gewidmet all denen, die meine Kollegen sind.

Die jüdische Schriftstellerin Ruth Klüger ist von Ihnen enttäuscht, sie schreibt Ihnen: “Das Gift, das Dir aus der Feder floss, ist Dir nicht einfach zu einem schlechten, es ist eher zu einem üblen Buch geronnen.”

Das ist für mich so unverständlich wie Schirrmacher, ein Rätsel. Ich muss bei beiden Motive vermuten, die mit mir nichts zu tun haben. Ruth kennt mich seit 1946. Sie müsste wissen, dass ich zu dem, was sie mir nun nachsagt, nicht fähig bin.

Sie fühlt sich von Ihrer “Darstellung eines Kritikers als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt und beleidigt”.

Jüdisches Scheusal! Ich habe auf einen deutschen Kritiker reagiert, der allgemein als der wichtigste deutsche Kritiker gilt. Ich habe noch kein einziges Mal gehört, er sei ein jüdischer Kritiker, also wäre er, sogar wenn er bei mir ein Scheusal wäre, was er definitiv nicht ist, kein jüdisches Scheusal, sondern ein deutsches. Was Ruth Klüger mir da nachsagt, muss sie mit sich, vielleicht noch mehr mit Reich-Ranicki abmachen. Für mich ist es das traurige Ende einer Beziehung.

Das ist doch tragisch für Sie: Am späten Abend Ihres Lebens…

…Abend genügt.

»Correctness-Bosse und -Bossinen«

Also, am Abend Ihres Lebens wenden sich die Menschen von Ihnen ab.

Nicht die Menschen, sondern ein paar. Und dass auch ein paar sich Abwendende zu Schmerzquellen werden, ist wahr. Die wenden sich ja möglichst öffentlich ab. So dass sie strahlend gut aussehen und ich bösschlecht. Das scheuert auf den Nerven. Manchmal glaubt man dann, man könne sich vorstellen, wie es sich anfühlt, in einer kommunistischen Diktatur aus der Partei ausgestoßen zu werden. Einerseits. Andererseits habe ich noch nie eine so stürmische Leserzustimmung erfahren und…

Sie sind aber nicht glücklich.

Und könnte doch wirklich glücklich sein. Es würde mich – ja, das kann ich schon sagen – nicht mehr geben, wenn die ganze Öffentlichkeit und auch die Leser reagiert hätten, wie Herr Schirrmacher sich wohl ausgerechnet hat. Dann wäre ich weg, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier. Die “FAZ” hat es nicht geschafft, und deswegen kann ich leben. 99,9 Prozent der Stimmen, der Briefe an mich sind positiv, die “Jüdische Wochenzeitung”, jüdische Professoren im In- und Ausland haben erklärt, mein Buch sei nicht antisemitisch. Das ist unmittelbar heilend.

Gibt es dennoch Momente, in denen Sie sagen: Verdammt, hätte ich das Buch bloß nicht geschrieben!

Niemals! Ich bin mit diesem Buch so einverstanden, wie ich es selten mit einem Buch war. Das Buch hatte in mir eine angejahrte Dringlichkeitsstufe – und nun bin ich es glücklich los. Manchmal, was ich mit früheren Büchern nicht immer mache, nehme ich dieses Buch in die Hand und schaue hinein und sage: Ja! Ja! Ja!

Ihrem Jubel zum Trotz: “Tod eines Kritikers” hat Sie schrecklich isoliert.

Na gut, die Verhältnisse haben sich geklärt. Jetzt weiß ich, wie ich mit jedem stehe. Da gibt es, hysterieimmun, Günter Grass, Adolf Muschg, Joachim Kaiser, und es gibt, hysteriebereit, kirchenhaft eifrig, die Correctness-Bosse und -Bossinen und ihre ideologischen Absahner. Und ich ahne jetzt, dass wir in diesem Land zu meinen Lebzeiten Meinungsfreiheit nicht mehr erringen. Toleranz bleibt Lippengebet.

»Ich habe keine Chance mehr, links zu sein oder zu gelten«

Sie sind verbittert.

Nein, erfahrungsgesättigt, aber nicht satt.

Herr Walser, Sie haben in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Karriere gemacht: vom “geistigen Brandstifter”, wie Sie Ignatz Bubis 1998 nach Ihrer Paulskirchen-Rede bezeichnet hat, hin zum potenziellen Mörder, wie Sie Frank Schirrmacher nun sieht.

Ignatz Bubis hat den “geistigen Brandstifter” zurückgenommen, der von Schirrmacher versuchte Rufmord harrt noch seiner Zurücknahme. Die Karriere, die Sie mir auf den Leib zitieren, hat mit mir nichts zu tun. Ich bin der, der ich vor diesen Skandalen war.

Dann sind Sie also noch der Walser von früher, der linke Schriftsteller, der…

…halt. Ich habe einen Lernprozess machen müssen. Auf die beiden Wörter links und rechts muss ich verzichten. Ich habe keine Chance mehr, links zu sein oder zu gelten. Und rechts zu sein oder zu gelten, daran ist mir nicht gelegen. Ich habe mit diesen Adjektiven Schluss gemacht. Das sind Verblendungen, Attrappen, Verlogenheiten, moralische Anmaßungen.

Egal, ob rechts oder links: Wo Sie nun auftreten, rufen Demonstranten Ihnen zu: “Antisemit! Antisemit!”

Das ist passiert in Leipzig. Einem liebenswürdigen Menschen zuliebe habe ich eines Nachmittags dort gelesen, da war eine Gruppe von jungen Leuten, lauter prima Gesichter, aber ihr einziger Text war: “Antisemit!”

Und die meinen Sie damit!

Das ist eine unerträgliche Situation.

»Das endet dann in diesen Sprechchören, mit diesen Parolenbuben und -mädchen«

Sie könnten ja mit diesen Leuten diskutieren.

Das geht nicht. Die brüllen nur. Du stehst da oben, du willst lesen, und ich mache das wahnsinnig gern, aus dem “Tod eines Kritikers” kann man wunderbar lesen, aber dann kommen diese Parolenbengel mit ihrem Ruf: Antisemit! Ich weiß gar nicht, wo der hintrifft. Dann habe ich zu einem besonders Lauten gerufen: Kommen Sie jetzt hierher zu mir aufs Podium, sagen Sie mir das ins Gesicht, dann kriegen Sie eine Ohrfeige.

Und das, glauben Sie, würde Ihnen helfen?

Ich weiß es nicht. Ich habe es ja noch nicht tun können. In Erfurt habe ich mal einen vom Podium wegschieben wollen, dann hat er gerufen: “Rühren Sie mich nicht an, mein Vater ist Staatsanwalt!” Da wusste ich, mit wem ich es zu tun hatte: bürgerlichste Randale.

Sie müssten einfach ruhig sein.

Moment! Jetzt frage ich Sie: Da ist die “FAZ” mit ihrem gloriosen bürgerlichen Anspruch, da ist der “Spiegel” mit seiner Aufklärer-Fahne, und das endet dann in diesen Sprechchören, mit diesen Parolenbuben und -mädchen, die nichts gelesen haben, aber Parolen haben sie mitgekriegt, diskutieren wollen sie nicht, nur verhindern, nur Skandal machen. Diese Verführten möchte ich gern Herrn Schirrmacher und Frau Schmitter vorführen. Was sagen die dazu? Nichts. Die drücken sich. Ich nenne das Correctness-Diktatur.

Ich sag’s ja: Sie sind verbittert.

Nein.

Nochmals: Sie müssten einfach ruhig sein, nichts mehr schreiben.

Das ist ja ein wunderbarer Rat! Vielen Dank! Wissen Sie, wenn ich auf einer Reise keine ruhige Minute habe, merke ich nach ein paar Tagen, dass mir etwas Wichtiges fehlt, und zwar etwas Lebenswichtiges, nämlich das Schreiben. Entweder ist die Welt zu schön oder zu scheußlich. Und beides muss man mit Schreiben beantworten.

Sie werden also immer schreiben, schreiben bis zum letzten Schnaufer.

Offenbar.

Und Sie machen sich ständig Notizen.

Ja. Soll ich an meinen Einfällen ersticken!

»Wenn mir etwas fehlt, schreibe ich, und da mir viel fehlt, schreibe ich viel«

Was haben Sie heute notiert?

Das geht Sie nichts an. Aber es gehört zum Spiel, also bitte. Ich schaue nach. Hier: “Die Ungewissheit ist eine Flut, die steigt, ohne dich ganz zu ertränken. Die Ungewissheit ist ein Würgegriff, der immer kurz vor dem Ersticken Halt macht. Nur die Gewissheit ist tödlich, also erlösend.”

Das hört sich an, als ob für Sie Schreiben ein Akt der Notwehr sei, eine Art Therapie.

Das gefällt mir überhaupt nicht. Man kann doch nicht den Normalzustand als krank bezeichnen. Wenn mir etwas fehlt, schreibe ich, und da mir viel fehlt, schreibe ich viel.

Und Sie schreiben alles von Hand.

Nach dem Krieg habe ich gelernt, mit der Schreibmaschine zu schreiben, aber es entspricht mir nicht. Ich schreibe dort an diesem Tisch. Ich muss mit zwei Ellbogen auf ihm liegen, der Tisch gibt nach, er vibriert, es muss rascheln und…

…das Schreiben macht Ihnen richtig Spaß.

Spaß? Das ist nicht das richtige Wort. Schreiben ist unglaublich, es ist das Belebende schlechthin, und mir tut jeder leid, der diese ungeheure Ermöglichung des Lebens durch das Schreiben nicht selber erfährt. Es gibt kein anderes Rettungsmittel, das so universal funktioniert. Stell dir doch mal vor: Du musst nichts unbeantwortet lassen – keine Gemeinheit, keine Machtausübung, keinen Blödsinn. Und das ist meine Aufgabe: Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist. Auch in einem Gespräch wie diesem, lieber Herr Luik.

 

Das Gespräch erschien erstmals am 23. Dezember 2002 im Stern.

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14 Kommentare

  1. Danke für die Dokumentation dieses Interviews. Ja, so ähnlich (oder schärfer!) würde ein Mitarbeiter der Bewusstseinsindustrie auch heute noch einen unbequemen Autor angehen. Der Unterschied zu heute mag aber sein, dass es damals daneben auch noch einige andere Journalisten in den Mainstreammedien gab.

    Die ins Hysterische tendierende Aufregung von 1998 (seine Paulskirchenrede) und 2002 (jenes Kritiker-Buch) ist ja nur dadurch erklärbar, dass einige meinten, es seien Tabus verletzt worden, dass man dann diesen wenigen Verärgerten Macht übertrug und ihnen folgte. Im Grunde waren es ja nur von ihnen selbst aufgestellte Tabus. Dass Walser manches anders gemeint hatte – und dass dies auch erkennbar ist – zählte weniger als die bloße (sich beleidigt gebende) Behauptung einzelner, dass sie es aber schlecht finden. Na und!
    Wer aber Heilige Kühe verkündet und Tabus aufstellt, der will bevormunden, erziehen, reglementieren und herrschen. Die Mentalität von intoleranten Kleingeistern, die Macht ausüben wollen und Angst vor der Freiheit haben. Ja – der Umgang mit Walser zeigt vieles, was sehr aktuell ist.

    Das eigentlich Erstaunliche und Unangenehme ist aber nicht die Tatsache der Kritik als solcher – natürlich hatten Bubis oder Reich-Ranicki das Recht auf Widerspruch – sondern es ist die gleichschaltungsartige Breite und Ähnlichkeit der Verurteilungen in den diversen Reaktionen. Der fehlende Mut zur Abweichung! Auch diese eilfertige Beflissenheit, mit der etwa Schirrmachen demonstrieren wollte, dass er aber ganz gewiss zum juste milieu gehört. Eine Mentalität von Strebern und Anpassungswilligen ohne Rückgrat. Hatte mal gedacht, wir seien weiter. Irrtum. Und heute erst recht, denn das, was sich um 2000 anbahnte, ist ja nun üppig gewuchert.
    .
    Warum kommt es aber überhaupt zu diesen Überreaktionen, dieser seltsamen (und vermutlich ängstlichen) Unfähigkeit, sich abheben zu wollen vom Hauptstrom?

    Mir persönlich gab Walser nicht sonderlich, denn seine Werke waren und sind mir zu innerlichkeitslastig. Er schreibt ja meist, was Personen in bestimmten Situationen denken, fühlen, empfinden, tun wollen und dann womöglich doch nicht tun. Literatur und Psychologie für sehr feinfühlige Leser. Die Außenwelt kommt mir zu kurz. Aber das ist Geschmackssache.

  2. Wie sich die Zivilisation so entwickelt oder eben gar nicht!

    Danke an die Redaktion und Herr Luik für diese Rückschau, obwohl diese sich nicht vorwärts bewegte.
    Bleibt uns erhalten mit gutem Geist und Gesundheit.
    MfG PRO1

  3. Lieber Herr Luik,

    vielleicht ist ja lediglich meiner selektiven Wahrnehmung geschuldet, dass ich das eher als „ein Blick zurück in die Gegenwart“ empfinde. Wenn Walser die nicht diskussionsbereiten Bürgerkinder der politischen Korrektheit beschreibt, fallen mir die von Staat bezahlten „Mobilen Beratungsteams gegen Rechts“ ein, deren Berufung es zu sein scheint Dritte anonym (im Team und ohne Namensnennung) zu diffamieren, aber nicht den kritischen Diskurs zu suchen.
    Wir leben in wahrlich (aller vernünftigen Massstäbe) verrückten Zeiten
    Udo Fröhlich

  4. Schirrmacher scheint ja gegen Ende seines Lebens einen selbstkritischen Blick auf die opportunistische bürgerliche Bubble entwickelt zu haben. Ob er auch sein Urteil über Walser revidiert hat?

    1. Nein, Walser hat vielmehr sein Urteil über seine Paulskirchenrede revidiert (im Gespräch mit dem SPIEGEL 2015). Er meinte, er würde sie so nicht noch einmal halten.
      Walser hat in der Paulskirchenrede eine richtige Frage gestellt, nämlich wie es komme, dass in den 1990-er Jahren, also 50 Jahre nach den Geschehnissen, soviel über den Holocaust gesprochen wurde wie nie zuvor. (Vor allem ist in den 1990-er Jahren natürlich über “Mauer und Stacheldraht” doziert worden.)
      Er hat sich aber aber bemerkenswert unfähig gezeigt, diese Frage einigermaßen befriedigend zu beantworten, d.h. politisch zu beantworten. Stattdessen redete er über Gewissen, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, “die Banalität des Guten” und die “Moralkeule”.
      Walser hat anscheinend wirklich nicht verstanden, was da ablief.

      1. @ Besdomny

        Sie schreiben:

        “Walser hat in der Paulskirchenrede eine richtige Frage gestellt, nämlich wie es komme, dass in den 1990-er Jahren, also 50 Jahre nach den Geschehnissen, soviel über den Holocaust gesprochen wurde wie nie zuvor. (…) Er hat sich aber aber bemerkenswert unfähig gezeigt, diese Frage einigermaßen befriedigend zu beantworten, d.h. politisch zu beantworten.”

        Was wäre Ihrer Meinung nach denn die zutreffende Antwort auf diese richtige Frage?

  5. Wer war Marcel Reich-Ranitzki? Den habe ich immer gern gesehen, ein scharfer Polemiker, der Feind aller Labersäcke. Das hat nun offenbar einmal den Walser getroffen, der nun seinerseits die Kritik kritisieren könnte. Macht er nicht, weil er gegen RR keine Chance gehabt hätte. Stattdessen diese absolut ekelhafte ad-hominem Attacke, die er “besoffenen Schrifstellern” in den Mund legt. Natürlich ist das seine Meinung im nüchternen Zustand. Wenn das Buch “Tod eines Kritikers” heißt, kann das ja durchaus als Mordaufruf gelesen werden. Frank Schirrmacher kam zu diesem Schluss.

    Er war es, der bemerkte, dass es hier 13 geschlagen hatte. Als FAZ-Redakteur, nicht der Correctness verpflichtet. Walser macht den sterbenden Schwan und ist natürlich das Opfer. Ein früher Querdenker, vielleicht der Ahnherr überhaupt.

    „Die Ungewissheit ist eine Flut, die steigt, ohne dich ganz zu ertränken. Die Ungewissheit ist ein Würgegriff, der immer kurz vor dem Ersticken Halt macht. Nur die Gewissheit ist tödlich, also erlösend.“

    Wenn ihr mich fragt, ist Walser ein minderbemittelter Labersack, der die Breitseite von RR wohl zurecht abbekommen hat.

    Was er kapiert hat: Antisemitism sells. Ein Vorläufer von Sucharit Bakdi. Oder Roger Waters, der damit die Konzerthallen füllt. Oder auch Ken Jebsen: als er wegen Antisemitismus rausflog, hatte er ausgesorgt. Die Deutschen würden ihn mit Spenden über Wasser halten, davon konnte er ausgehen. Aber auch das kann man durch Anfälle von paranoider Hysterie vermasseln.

    Seid mir nicht böse: ich vermisse den Walser nicht.

    1. Falsch, der AS-Vorwurf sells und Sie sind offenbar ein eifriger Verfechter. Ich würde auch Ihre diesbezüglichen Beiträge nicht vermissen, zu viel Hetze.

    2. “Was er kapiert hat: Antisemitism sells. Ein Vorläufer von Sucharit Bakdi. Oder Roger Waters, der damit die Konzerthallen füllt.”

      Also, ich würde dieses dann doch etwas verallgemeinern zu: “Provocation sells”. Wie man auch schon bei der Punk-Bewegung, die in den 70er begonnen hatte, gesehen hatte, bei der dann bestimmte Bands schöne Plattenverträge bekommen hatten. Und auch ein gewisser Sid Vicious (der Bassist bei den “Sex Pistols” gewesen war¹) hatte zum Beispiel in ein paar Fällen ein Hakenkreuzsymbol auf der Kleidung (als Sticker/Aufnäher), wobei man überlegen könnte, ob der Grund dafür nun war, dass er Antisemit (bzw. Nazi) war oder er dann vielleicht doch eher ein Anarchist war (und er eher das bürgerliche Establishment provozieren wollte).

      ¹) Ein bekannter Hit der Sex Pistols war z.B. “Anarchy in the UK” (bzw. in den USA auch als “Anarchy in the USA”)

    3. “Wer war Marcel Reich-Ranitzki? Den habe ich immer gern gesehen, ein scharfer Polemiker, der Feind aller Labersäcke.”
      LOL – Der Tüp war die Mutter aller Labersäcke.
      Egal, was man sonst von Martin Walser hält: Der hat es dem Lispelgockel MRR mal so richtig gegeben.
      Und vielleicht werden Sie Reich-Ranicki irgendwann auch mal korrekt schreiben…

    4. Querdenker ist seit Corona der staatlich sanktionierte Schmähbegriff für alles.

      Diese Feinderklärung hat den 3 Millionen Toten, die in Europa und USA an Corona gestorben sind, aber nicht geholfen. Von der falschen Politik muss weiter abgelenkt werden, weshalb der staatlich sanktionierte Schmähbegriff weiter von denen genutzt wird, die außer Feinderklärung nicht viel hinbekommen.

  6. Zur Zeit der Paulskirchenrede war ich gerade an einem Kunstprojekt von Jochen Gerz beteiligt, die “Berliner Ermittlung” über die “Ermittlung” von Peter Weiß.
    Es gab heftige Diskussionen unter den Beteiligten darum, dass die einen Schlussstrich ziehen wolle, um Antisemitismus und Auschwitz als Keule.
    Ich habe mir den Text genau durch gelesen und damals schon heftig widersprochen. Ich fand keinen der Vorwürfe berechtigt. Allerdings gab es eine Stelle in dem Gespräch zwischen Walser und Bubis, die mich wirklich frösteln ließ.
    Walser sagte zu Bubis, er habe sich schon mit dem Thema (Auschwitz) beschäftigt, als noch gar nichts von Bubis dazu zu hören war. Bubis sagte eher leise: Das habe er damals nicht gekonnt.
    Das war wirklich vollkommen daneben, angesichts der völlig unterschiedlichen Lebensläufe der beiden Gesprächspartner.
    Dass Walser sich allerdings diesen gnadenlosen und sehr narzisstischen Kritiker sich literarisch zur Brust genommen hat, fand ich verständlich und eben, wer austeilt, muss auch einstecken.
    Persönlich konnte ich allerdings mit seinen Romanen nicht viel anfangen, die waren mir zu sehr Männerliteratur.

  7. Martin Walser hat dem Literatur-Ayatollah Reich-Ranicki einen schönen Einlauf verpasst.
    Der Exilpole mit Geheimdienstbiografie hat sich mit seiner Buchverbots-Forderung jedenfalls zur Kenntlichkeit entstellt.

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