»Es ist höchste Zeit, dass dieser Angriff auf die Pressefreiheit beendet wird«

Free Assange
Paola Breizh, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Julian Assange ist nicht einfach nur ein Gefangener der Vereinigten Staaten – er ist der Häftling der NATO.

Roberto De Lapuente hat die BSW-Politikerin und NATO-Kritikerin Sevim Dağdelen befragt.

 

De Lapuente: Vor wenigen Tagen hat der des britischen High Court entschieden, dass Julian Assange Berufung gegen seine Auslieferung an die USA einlegen darf. Wie bewerten Sie das?

Dağdelen: Die Entscheidung der britischen Justiz ist zunächst einmal eine schallende Ohrfeige für die USA. Deren Zusicherungen, dass sich der Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange bei einem Verfahren in den USA auf die Meinungs- und Pressefreiheit berufen kann, wurde als unzureichend zurückgewiesen. Für Assange ist es ein Hoffnungsschimmer, dass der Worst Case einer Auslieferung vorerst abgewendet wurde. Das ändert allerdings nichts daran, dass er nach fünf Jahren Folterhaft weiterhin im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem »britischen Guantanamo«, weggesperrt wird. Jeder weitere Tag, an dem Assange seiner Freiheit beraubt bleibt, ist eine Schande für die USA und NATO. Die Bundesregierung muss endlich gegenüber der Biden-Regierung Druck für eine Entscheidung zugunsten von Assange machen. Es ist höchste Zeit, dass dieser Angriff auf die Pressefreiheit beendet wird und der Dissident des Westens endlich freikommt.

De Lapuente: Bei Ihnen habe ich erstmals die Interpretation gelesen, dass Julian Assange eigentlich ein Gefangener der NATO sei. Wie kommen Sie darauf?

Dağdelen: Es sind natürlich allen voran die USA, die den Journalisten Assange seit 14 Jahren unnachgiebig verfolgen, weil er Kriegsverbrechen Washingtons in Afghanistan und Irak sowie die Folter im US-Sonderlager Guantanamo aufgedeckt hat. Nimmt man das Selbstverständnis der NATO jedoch ernst, muss man die Verantwortung für die politische Verfolgung von Assange dem Militärpakt als Ganzes zurechnen. Schließlich wurde der Krieg in Afghanistan nach Ausrufung des Bündnisfalls von der NATO geführt, an der Koalition der Willigen der USA im Irak waren mehrere NATO-Staaten beteiligt. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass in die von Wikileaks aufgedeckten extralegalen Verschleppung und Folterung von Terrorverdächtigen im Zuge des CIA-Rendition-Programms, Militärstützpunkte und Geheimgefängnisse in zahlreichen NATO-Staaten eingebunden waren. Und auch an der Verfolgung von Assange selbst haben sich mit Großbritannien und dem neu beigetretenen Schweden NATO-Länder beteiligt, während sich die weiteren NATO-Staaten dadurch mitverantwortlich gemacht haben, dass sie den Anschlag auf die Pressefreiheit mindestens toleriert haben.

»Die Enthüllungen von Assange haben die Sicht auf die Kriege der USA und NATO verändert«

De Lapuente: Würden Sie sagen, dass investigativ arbeitende und berichtende Journalisten grundsätzlich die natürlichen Feinde der NATO sind – oder eben auch andersherum?

Dağdelen: Das Aufklären über die Gewaltpolitik der NATO steht in einem fundamentalen Widerspruch zu der Kriegspropaganda des Militärpakts und den dahinterstehenden geopolitischen Interessen. Die Enthüllungen von Assange und Wikileaks haben die Sicht vieler Menschen auf die Kriege der USA und NATO verändert. Der Fall Assange zeigt, dass die USA unter Mitwirkung oder Duldung ihrer NATO-Verbündeten bereit sind, mit allen Mitteln gegen einen solchen investigativen Journalismus vorzugehen. Unter Mike Pompeo als CIA-Chef, für den Wikileaks als nichtstaatlicher »feindlicher Geheimdienst« galt, planten die USA sogar die Entführung und Ermordung von Julian Assange. Nun ist Assange in den USA nach dem Espionage Act aus dem Jahr 1917 angeklagt, der ursprünglich der Verfolgung von Spionen im Ersten Weltkrieg dienen sollte. Eine Auslieferung von Assange, bei der ihm bis zu 175 Jahre Haft drohen, wäre ein klares Signal an alle Journalisten und Medienschaffende weltweit, im Zweifel mit Freiheit und Leben dafür bezahlen zu müssen, über Kriegsverbrechen der USA und NATO aufzuklären.

De Lapuente: Die NATO gibt aber vor, demokratische Werte in der Welt zu verteidigen. Damit auch die Pressefreiheit. Welche Pressefreiheit meint die NATO denn?

Dağdelen: Die Pressefreiheit scheint für die NATO nur so lange zu gelten, wie ihre eigenen Interessen nicht davon gefährdet werden. Ein solch instrumentelles Verhältnis zu einem fundamentalen demokratischen Prinzip wie der Pressefreiheit entlarvt das Gerede der NATO von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit natürlich als pure Heuchelei. Wer wie USA und NATO investigativen Journalismus kriminalisiert, verliert jegliche moralische Autorität, für Werte wie Pressefreiheit einzutreten. Paradoxerweise büßen die USA und die NATO mit ihrem Bestreben, ihre Macht wie im Fall Assange mit aller Brutalität aufrechtzuerhalten, global gesehen immer weiter an Glaubwürdigkeit ein. Insbesondere im Globalen Süden, dessen Länder oftmals selbst Opfer von NATO-Kriegen wurden, wird die Doppelmoral des Westens genau erkannt. Die Verfolgung von Assange ist ein echtes Eigentor auf dem Feld der Soft Power und damit Sinnbild der gegenwärtigen Krise der NATO.

»Die Bemühungen der USA, Assange zur Unperson zu machen, hatten einen langen Nachhall«

De Lapuente: Wie erklären Sie sich, dass es so wenig öffentlichen Aufschrei gibt im Falle Assanges?

Dağdelen: Inzwischen ist die öffentliche Kritik durchaus wahrnehmbar. Aber es stimmt, es hat viele Jahre gedauert, bis die Öffentlichkeit aufgewacht ist. Bei den einschlägigen NGOs und Verbänden musste viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Das gilt insbesondere auch für die Medienhäuser, die mit Assange lange zusammengearbeitet haben und deren ureigenes Interesse in dem Schutz der Pressefreiheit bestehen müsste. Dass sich heute alle namhaften Menschenrechts- und Pressefreiheitsorganisationen sowie Journalisten-Verbände in Deutschland und international für die Freilassung von Assange aussprechen, ist vor allem auch ein Verdienst der Graswurzelbewegung, all der vielen Menschen, die sich jahrelang unnachgiebig für Julian Assange und die Pressefreiheit eingesetzt haben, als der Mainstream davon noch nichts wissen wollte. Die Bemühungen der USA und ihrer Verbündeten, Assange etwa mittels konstruierter Vergewaltigungsvorwürfe oder vermeintlicher Russland-Nähe öffentlich zur Unperson zu machen, hatten einen langen Nachhall. Das gilt leider bis heute für die USA, wo die Verfolgung von Assange ja beendet werden könnte. Als internationale Kampagne bemühen wir uns, die Unterstützung für Assange dort im Kongress wie auch in der Öffentlichkeit insgesamt auszuweiten und den Druck auf die Biden-Regierung zu erhöhen.

De Lapuente: Sie sind prominente NATO-Kritikerin. Wann wurde Ihnen bewusst, dass das von der veröffentlichten Meinung geprägte NATO-Bild grundsätzlich falsch ist?

Dağdelen: In verschiedenen Stationen meines Lebens war für mich immer wieder bemerkenswert, dass in Deutschland von der Schule bis zur Universität die Selbstdarstellung der NATO als nicht zu hinterfragende Wahrheit vermittelt wird. Wenn man genauer hinschaut, fällt jedoch schnell auf, dass Selbstbild und Realität nicht übereinstimmen. Der Fall Assange ist hierfür eindrückliches Beispiel. Aber auch die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der NATO wie in Jugoslawien, die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs in Europa in Richtung Russlands nach Ende des Kalten Kriegs, die aktuelle Expansion gegenüber China in Asien oder die Klüngelei mit Diktaturen und Autokratien zeigen die ganze Doppelmoral der NATO in Vergangenheit und Gegenwart. Dass trotz alledem in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Bild der NATO als Verteidigungs- und Wertebündnis vorherrschend ist, war für mich der Grund, mich mit meinem Buch mit den Mythen der NATO auseinanderzusetzen.

 

Sevim Dağdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Politikerin ist außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) und Obfrau im Auswärtigen Ausschuss. Die Abgeordnete ist Mitglied in der Parlamentariergruppe USA, in der Deutsch-Chinesischen sowie Deutsch-Indischen Parlamentariergruppe. Sevim Dagdelen war viele Jahre Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO, in der Abgeordnete aus den Mitgliedsländern des Militärpakts über sicherheits- und verteidigungspolitische Themen beraten.

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9 Kommentare

  1. Ich kann die NATO nicht von den USA getrennt betrachten und umgekehrt weil die NATO von den USA beherrscht (und maßgeblich finanziert) und instrumentalisiert wird zum Erhalt hegemonialer Macht. Schon deshalb setzt die USA alles dran die NATO in den pazifischen Raum auszudehnen als Instrument in der Auseinandersetzung mit China.

  2. Wenn die NATO vorgibt , demokratische Werte in der Welt zu verteidigen, dann hat sie durchaus damit Recht, die Nato versteht nämlich unter »demokratischen Werten« alles, was den USA nützt.

    Und Sarah Wagenknecht hat keinen Grund zu frohlocken, weil Assange Berufung gegen seine Auslieferung an die USA einlegen darf, schlimmer als im Hochsicherheitsgefängnis HMP Belmarsh ist es auch nicht in den USA.

    1. GB ist nicht Norwegen. Trotzdem würde ich Belmarsh jedem US-Knast vorziehen. Assange dürfte besser als wir informiert sein was die zb Chelsea Manning alles angetan haben.

      1. Die US of A können doch ihre Hände in Unschuld waschen, sollte Assange in seiner Majestät Gefängnis versterben. Ist ja im fernen Ausland passiert. Ich glaube die wollen den eigentlich für immer in dem Auslieferungsverfahren halten.

  3. Die in den westlichen Wertegemeinschaften tätigen MSM (Meute) und Regierungen juckt es überhaupt nicht ob die Maßnahmen ihrer Regierungen von “Feinden” als problematisch, undemokratisch oder völkerrechtlich bedenklich bewertet werden. Eigene unlogische Schlussfolgerungen und Widersprüche in der Argumentation werden nicht zur Kenntnis genommen oder wegrationalisiert, Nur die eigenen Bewertungen zählen, und da sind die “Eisern” in ihrer Borniertheit .
    Meint wer, dass unsere Bundesuhu auch nur 10 min. an der Rechtmäßigkeit seiner Untätigkeit im Falle Murat Kurnaz gezweifelt hat?

  4. Im GB ist noch ein anderer Fall bis heute vor Gericht, Novichok und die Skripal.
    Dann haben wir Corona und weiß wer noch alles Narrativen die bis heute ungeklärt sind, weil in allen immer der Westen mit drinnen als Akteur dominant ist.
    Die BSW praktiziert Parteiwerbung, aber jegliche Partei in D hat hier versagt.
    Und weil die Bürger in diesen Demokratien leben und nach jeder Wahl die vorherige Regierung entlassen, tragen eben alle automatisch die kollektive Mitschuld, nur sehen will das keiner.

  5. “Eine Auslieferung von Assange, bei der ihm bis zu 175 Jahre Haft drohen, wäre ein klares Signal an alle Journalisten und Medienschaffende weltweit, im Zweifel mit Freiheit und Leben dafür bezahlen zu müssen, über Kriegsverbrechen der USA und NATO aufzuklären.”

    Ein klares Signal erst bei Auslieferung und nicht bereits jetzt nach zig Jahren – gemäß Nils Mälzer – unter Folter?
    Na dann ist ja alles in bester Ordnung!

  6. Was mit Assange geschieht, ist ein Mord auf Raten.
    Ich erinnere mich noch an die Solidaritätsbekundungen für die RAF-Gefangenen hierzulande wegen der zeitweiligen Isolationshaft, was seinerzeit schon als Folter bezeichnet wurde, aber im Vergleich zu Belmarsh eher Erholungsurlaub war.
    Sollte Assange Belmarsh überleben und nicht ausgeliefert werden, wird er gleichwohl physisch und psychisch zerstört sein vom westlichen “Rechtssystem”.

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